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Er hatte keinen andern Anhaltspunkt als den Wohnsitz Sophias von Andergast, mit der er vor Jahren einige Briefe gewechselt. Wenn er sich ihrer Briefe erinnerte, sah er das Bild einer Frau und Mutter, die unter schweren Kämpfen den inneren Frieden gefunden hatte. Ihr gegenüberzutreten war ein Wagnis. Seine Gedanken schreckten davor zurück. Konnte er ihr nicht als der Beschützer und Lehrer des Sohnes nahen, der er einst in ihren Augen gewesen, so kam er in eine üble Situation.
Aus Baden-Baden war sie schon vor anderthalb Jahren verzogen. In der Villa am Hebelweg, in der sie ein Geschoß innegehabt, empfing ihn eine würdig aussehende alte Dame, die sich anfangs mißtrauisch verhielt, sich aber alsbald schwärmerisch über die einstige Hausgenossin äußerte. Obgleich es sich um einen unerheblichen Fall handelte, nahm Kerkhoven zu seiner Beruhigung wahr, daß seine Gabe, Menschen aufzuschließen und ihnen in scheinbar beiläufigem Gespräch Verschwiegenes zu entlocken, neu erstarkt war. Das konnte er spüren wie ein Rechner es spürt, wenn er schärfer und schneller denkt.
Sie hatte Nachrichten von Sophia, die bis zum Sommer des vergangenen Jahres reichten. Im letzten Brief war der Plan erwähnt, ein Haus im Fex zu mieten. »Dort wohnt sie auch oder hat dort gewohnt,« sagte die alte Dame, »ich weiß es von meiner Tochter, die oben in Zuoz von ihr gehört hat.« Kerkhoven bat, sich einen der Briefe ansehen zu dürfen, die geordnet in einer Schatulle lagen. Er war von der Handschrift frappiert. Es waren enge, saubere, minutiöse Züge mit großen Zwischenräumen zwischen den Zeilen und einem breiten seitlichen Rand, wodurch ein klares Schriftbild entstand. »Ich besitze Briefe von Frau von Andergast,« sagte Kerkhoven, »aber in denen weist die Schrift einen total verschiedenen Duktus auf, groß, locker und flüchtig. Wie kann sich eine Handschrift so verändern, und welche Einflüsse waren da bestimmend?« – »Sie haben recht,« gab die alte Dame zu, »es hat mich auch gewundert, ich habe ihr sogar einmal darüber geschrieben.« – Kerkhoven bemerkte nachdenklich: »Die Ursache kann nur in einer Gemüts- oder Sinnesumstellung liegen, und zwar in einer, die sich bis in die automatischen Lebensäußerungen auswirkt. Es sind alle Zeichen einer bewußten Konzentration vorhanden.« – »Das wird wohl so sein,« erwiderte die alte Dame etwas zurückhaltender, »aber leider kann ich Ihnen darüber keine Auskunft geben.« Als Kerkhoven dann scheinbar absichtslos von Etzel zu sprechen anfing, schüttelte sie nur betrübt den Kopf und seufzte.
Drei Tage später, um die Mittagszeit, stieg er in Sils-Maria aus dem Engadiner Omnibus und wanderte ins Fextal hinauf. Er hatte schon die Höhe erklommen, als ihm einfiel, daß er sich im Ort hätte erkundigen sollen; er wußte eigentlich kein Ziel. Doch mochte er nicht umkehren. Die Talsohle war noch mit Schnee bedeckt, die Atmosphäre war berückend rein, der Himmel zeigte ein rosig durchglühtes Blau. Bisweilen pfiff ein verfrühtes Murmeltier. Die Höhe und das Emporklimmen auf dem steilen Pfad hatten ihn angestrengt, in der Nähe eines Gehöftes, das einer alten Burg glich, blieb er stehen, starrte erst auf den schimmernden Gletscher und schloß dann wie geblendet die Augen. Als er sie wieder öffnete, sah er unweit von sich, an den Torbord des Gehöfts gelehnt, einen hochgewachsenen Menschen, die Hände in den Taschen, eine englische Pfeife im Mund, den in sich versunkenen Fremden ironisch musternd. Kerkhoven grüßte, der andere grüßte zurück. Er sah wie ein ansässiger Bauer aus, es erwies sich aber, als sie sich später miteinander bekannt machten, daß er ein Maler aus dem Prätigau war, der hier oben seine Wohnstätte und sein Atelier hatte.
Als Kerkhoven den Namen Andergast nannte, leuchtete es in dem wettergebräunten Gesicht des Schweizers verständnisvoll auf. Er deutete mit der Pfeife gegen ein mäßig großes Haus am benachbarten Hang. Alle Fenster waren mit Läden vermacht; kein Zweifel, daß es unbewohnt war. »Sie ist also fort?« fragte Kerkhoven. – »Sie und er,« antwortete der Maler in seinem freundlichen Lakonismus. – Kerkhoven gab sich Mühe, gleichmütig zu scheinen. »Er? war denn ein Mann bei ihr?« – »Der Sohn. Den ganzen Winter über.« – »Kannten Sie ihn?« – »Das nicht.« – »Gesehen?« – »Ja. Oft.« – »War wohl nicht umgänglich?« – »Nein. Hat nicht ausgeschaut wie einer, der gern mit Leuten zu schaffen hat.« – »Und wo sind die beiden jetzt?« – »Könnt ich Ihnen genau nicht sagen.« – »Vielleicht ungenau...« – »Was so herumgesprochen worden ist.« – »Und was ist gesprochen worden?« – »Sie sind wohl besonders interessiert?« – »Allerdings.« – »Die Frau soll drunten in Chur leben. Auf der Post in Sils können Sie es erfragen.« – »Und der Sohn?« – »Er sei nach Rußland gegangen, heißt es.« – »Nach Rußland? woher will man das wissen?« rief Kerkhoven mit einem heftigen Ruck des Kopfes. – »Ists ein Verwandter von Ihnen? Ich meine nur... weil Sie so erschrecken.« – »Nein, kein Verwandter. Aber doch...« – »Brauchen es nicht zu erklären. Ja, nach Rußland. Die Dame hat, wie er weg war, noch den halben März in Sils gewohnt und hat Briefe von ihm aus Moskau bekommen.« – »Und das ist sicher?« – »In einem kleinen Ort erfährt man so was.«
Kerkhoven blickte grüblerisch vor sich hin. Vergeblich, alles vergeblich. – »Wollen Sie nicht ein wenig eintreten?« fragte der Mann, der ihn teilnehmend betrachtete. Kerkhoven folgte ihm mechanisch in das geräumige helle Atelier, trank einen Kirsch, verfiel aber alsbald in hölzerne Stummheit und nahm nach einer Viertelstunde eilig Abschied. In Sils wurde ihm mitgeteilt, Frau von Andergast wohne in der Weißkreuzgasse in Chur, im sogenannten Domherrenhaus. Am Abend des folgenden Tages traf er in Chur ein und nahm ein Zimmer in einem Gasthof. Er kam sich wie der Detektiv in einer Kriminalgeschichte vor.