Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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52

Mordann hockte auf dem Rand seines Bettes. Er war in einen schäbigen Schlafrock gehüllt. Kerkhoven stand am Fenster. »Wenn ich recht berichtet bin, hing aber doch das Attentat mit gewissen Briefen zusammen,« sagte er möglichst unbefangen, »Sie mußten, kommt mir vor, auf Gewaltmaßnahmen gefaßt sein.« – Mordanns Kopf schnellte hoch. »Hat Agnes aus der Schule geschwatzt?« belferte die Eunuchenstimme erbost. – »Ich kann nichts für Sie tun, wenn Sie nicht aufrichtig mit mir verfahren,« erklärte Kerkhoven mit einer Schärfe, die er absichtlich übertrieb. Mordann machte eine Geste wie eine Katze, der man den Topf mit Milch wegnimmt. Er entschloß sich einzulenken. »Schon gut,« knurrte er, »schon gut.« Und dann: »Sie sollten mal mein Herz untersuchen, Professor. Wäre wichtiger als daß Sie sich um meine Privatangelegenheit kümmern. Fürchte, ich habe einen Klaps weg.« – »Diese Privatangelegenheit gibt mir notwendige Richtlinien. Ich kann über Ihr Herz nichts aussagen, wenn ich nicht Ihr Leben kenne.« – »So? Putzig. Was wollen Sie denn wissen?« – »Ich will wissen, warum Sie dem jungen Brederode die Briefe nicht zurückgegeben haben. Die Familie hat doch wahrscheinlich ein sehr begreifliches Pietätsinteresse daran.« – »Gewiß, gewiß,« quiekte Mordann und zog leise kichernd die Beine zum Türkensitz auf das Bett, was bei seiner schwerfälligen Gestalt grotesk aussah. – »Man hat sie auch wohl nicht ohne Entschädigung von Ihnen verlangt?« – »Nö, nö... zwanzigtausend Mark wollten sie zahlen.« – »Ich frage mich, welchen Vorteil Ihnen der Besitz der Briefe sicherte. Ihre Zeitung hatte seit einem Jahr aufgehört zu erscheinen. Daß Sie Ihre frühere Tätigkeit wieder ausüben könnten, damit hatten Sie wohl damals schon nicht gerechnet, und heute stehen die Aussichten nicht besser.« – Mordann hatte beide Hände um die Fußknöchel geschlungen und starrte Kerkhoven feindselig-bestürzt an. »Sie meinen, weil man mich zum Invaliden gebläut hat? Steht es so? Bin ich etwa ein Todeskandidat in Ihren Augen? Heraus mit der Sprache! Sie brauchen mir nichts zu verhehlen.« Hysterische Angst war in seinen Mienen. Der Mund öffnete sich zu einem schwarzen Loch, das eingerahmt war von den schadhaften Zähnen. – »Ich bin kein Fernheiler, stelle keine auswendigen Diagnosen, Herr Mordann. Aber Ihnen, der auf allen Gebieten beschlagen ist, brauche ich doch nicht auseinanderzusetzen, daß es einen Rhythmusablauf gibt. Wir alle bekommen es zu spüren, und wenn er eintritt, sagt der eine: die Zeit ist nicht mehr für mich, der andere: die Umstände haben sich geändert. Sie hätten sich nicht von außen zwingen lassen sollen, die Maschine zu stoppen. Der freiwillige Entschluß hätte einen wesentlichen Unterschied in Ihrer Gemütslage bedeutet.« – »Das sagen Sie so. Ich bin aber der Mann nicht, der freiwillig abdankt. Ich hasse Fontainebleau.« – »Eben. Das ist die Gefahrenquelle. Ich halte mich an Ihr Gleichnis: was nützen Ihnen die Briefe auf Sankt Helena?« – »Herr, ich lasse mich nicht geistig vergewaltigen. Man kann mir den Schädel einschlagen, bon. Aber vor Erpressern kuschen? ausgeschlossen. Lieber krepier ich.« – »Bevor es zu dem Attentat kam, hat man aber doch verhandelt?« – »Hat man, jawoll. Nur... es sind unersetzliche Dokumente. Den Jungs, die nach dem Krieg das Heft in die Hand bekamen, den heimlichen Drahtziehern überall, hat es beliebt, meinen Namen mit Dreck zu beschmieren und mich zum Verräter und Brandstifter zu stempeln. Ich werde der Welt zeigen, wo die wirklichen Verräter und Brandstifter zu suchen sind. Wenn einmal die authentische Geschichte dieser Zeit geschrieben wird, ist dafür gesorgt, von mir gesorgt, daß diesen Volksbetrügern, diesen meineidigen Privilegienjägern die Heuchlermaske vom Gesicht gerissen werden kann. Hat man mir auch mein gutes Schwert entwunden, die Gewißheit bleibt mir, daß ich einem meiner Diadochen die Mittel liefere, es wieder zu schleifen. So verhält sich das, mein verehrter Herr.«

Kerkhoven konnte nicht umhin, die Fanfare zu bewundern. Er sah das wahre Gesicht des Tribunen, der allgewaltig ist im Wort, den erst die Leidenschaft des Wortes hinreißt zur Leidenschaft der Tat, einer im tieferen Sinn ohnmächtigen Tat. Während ihn Mordann herausfordernd fixierte, dachte Kerkhoven nach. Die Verschanzung, die der Mann um sich gebaut hatte, war schier undurchbrechbar, denn sie bestand nicht aus festem Stoff, sondern war tückisch und nachgiebig wie Sumpf. Verzweifelte Sache, sich so einem zu nähern und ihn aus seinen Sicherheiten zu locken, zu ringen mit ihm, damit man erfuhr, von welcher Beschaffenheit er war, von welcher Gefährlichkeit, wieweit man ihn zu fürchten, wie weit man ihn zu schonen hatte. »Wir können nicht erwarten, daß Ihr Aufenthalt hier im Hause verborgen bleibt, Herr Mordann,« sagte er trocken; »bei Ihrem Ruhm... es wird sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Der Versuch, der einmal mißlungen ist, wird sich wiederholen. Ich weiß nicht, ob ich Sie nachhaltig schützen kann...« – »Wie... Sie glauben im Ernst, man würde es wagen,« stammelte Mordann erschrocken, »befinden wir uns nicht auf Schweizer Boden?« – »Davon dürfen Sie sich nicht zu viel versprechen. Man hat Beispiele...« – Mit einem Satz sprang Mordann vom Bett und schoß schnaufend durch das Zimmer. Im Vorübergehen griff er nach einer Flasche auf dem Toilettetisch, die mit einem Zerstäuber versehen war und bespritzte sich das Gesicht mit kölnischem Wasser. Dabei drang immerfort das eigentümliche Schnaufen aus seinem Mund, und schließlich gähnte er vor Aufregung. Kerkhoven betrachtete ihn mit einer Art von Sachneugier. Diese Angst eines gejagten Huhns bildete einen halb lächerlichen, halb tragischen Kontrast zu dem stolzen »lieber krepier ich« von vorhin und enthüllte die unheimliche Zwitternatur des Mannes. Aber darauf hatte es Kerkhoven angelegt. Er wußte nun schon ziemlich viel. Nach einer Weile trat er auf ihn zu, packte ihn beim Arm und sagte freundlich: »Einen Augenblick... bleiben Sie ruhig stehen.« Er schlug Mordanns Schlafrock auseinander, streifte das Hemd zur Seite und legte das Ohr an die von einem zottigen grauen Pelz überwachsene Brust. Indes er mit herabgebeugtem Gesicht horchte und immer länger horchte, faltete sich seine Stirn bedenklich. Das sieht allerdings böse aus, sagte er sich, und horchte und horchte. Sehr lauter erster Ton an der Spitze; diastolisches Schwirren; Insuffizienz der Klappen... böse. Er richtete sich auf, und dem gespannten Blick Mordanns begegnend, sagte er lächelnd: »Alles in schönster Ordnung.« – Mordann seufzte erleichtert. – »Ja... und um für diesmal abzuschließen,« sagte Kerkhoven mit unveränderter Heiterkeit, »komme ich noch mit einer Verordnung, Herr Mordann.« – »Und die wäre ?« – »Die Briefe müssen ausgeliefert werden.« – Mordann stieß einen Tierlaut aus, halb Kreischen, halb Röcheln. Seine Augen wurden grün. »Nanu, Sie haben woll n Druckfehler im Kopf, verehrter Herr,« schrie er. – »Sie werden die Briefe ausliefern,« wiederholte Kerkhoven ruhig; »ich lasse Ihnen Zeit, überlegen Sie es, Sie können mir auch alle Ihre Einwände sagen, aber die Briefe werden zurückgegeben.« Damit nickte er dem Sprachlosen liebenswürdig zu und ging.


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