Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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53

Eine halbe Stunde lang tobte Mordann. Er brüllte nach seiner Tochter. Als sie kam, verlangte er, man müsse sofort abreisen, dieser Professor sei ein unmöglicher Mensch, vollkommen verdreht und überschreite in unverschämter Manier seine Kompetenzen. »Abreisen? gut, aber wohin?« fragte Agnes bedrückt und wollte wissen, was vorgefallen war. Sonderbarerweise schwieg sich Mordann darüber aus. Plötzlich klagte er über Beklemmungen und rang nach Atem. Agnes rief die Assistentin, und sie brachten ihn zu Bett. Den Eisbeutel schleuderte er zornig zu Boden und schrie krähend nach dem Professor als wolle er diesem zeigen, was er angerichtet, als wolle er sich rächen durch den Anblick seines Zustands. Viele Herzkranke sind auf ähnliche Art rachsüchtig. Kerkhoven war nach Friedrichshafen gefahren, um eine Patientin zu holen, eine gewisse Frau Thirriot aus Kolmar, die sich im Friedrichshafener Spital befand und die in Behandlung zu nehmen ihn der dortige Kollege ersucht hatte. Es war ein außerordentlich merkwürdiger Fall von sogenannter gekreuzter Neurose.

Als er dann kam, war Mordanns Betragen geradezu unterwürfig. Er bat, Kerkhoven möge ihm die Hand auf die Brust legen. »Bei Ihnen wird man tatsächlich zu einem abergläubischen alten Weib,« murmelte er und wollte immer wieder hören, daß das Herz gesund und nur nervös irritiert sei. Schließlich forderte er eine Röntgenaufnahme, die auch am Nachmittag vorgenommen wurde. Die meisten Laien haben ein ehrfürchtiges Vertrauen zu den wissenschaftlichen Apparaten. Der Körper des Mannes war übrigens schwer vergiftet. Er rauchte fünfzehn Havannazigarren täglich und trank unendliche Mengen starken schwarzen Kaffees. Als Kerkhoven diesen Konsum einschränkte, wehrte er sich erbittert. Leute wie er sind gleichzeitig lieblos gegen ihren Organismus und verliebt in ihren Leib. Sie muten der Natur das äußerste zu, und wenn sie sie im Stich läßt, tun sie als wären sie von ihr verraten worden. Es war alles so bodenlos und so kurzsinnig in einem solchen Menschengebilde; nirgends war Halt und Bestand, nirgends Grenze. Wie alle Nur-Geistigen fing Mordann erst in der Nacht zu leben an. Da er mit seinen zerstörten Nerven nicht zu arbeiten, das heißt zu schreiben fähig war, füllte er die leeren Stunden mit exaltierten Projekten, zwang seine Tochter, bis um drei, vier Uhr morgens bei ihm zu sitzen und besprach mit ihr die Niederschrift seiner Lebenserinnerungen, die er ihr diktieren wollte, sobald er wieder hergestellt war und in deren Veröffentlichung er ein historisches Ereignis sah, auf das die Welt mit angehaltenem Atem wartete.

Doch seit Kerkhoven die Sache mit den Brederodeschen Briefen zur Sprache gebracht hatte, war er so beunruhigt und gereizt, daß für keinen andern Gedanken in seinem Kopf mehr Platz war. Person und Wesen des Arztes hatten ihn fasziniert. Dies gestand er sich jedoch nicht zu, teils aus jener rätselhaften Eifersucht, die für derartige Charaktere bezeichnend ist, teils aus allgemeiner Skepsis gegen menschliche Wirkung überhaupt, sofern es nicht seine eigene war. Er riet herum und grübelte, welchen Beweggrund der Mann haben mochte. Dergleichen war ihm noch nicht vorgekommen. Es regte ihn geradezu auf. Er konnte es nicht aushalten, darüber im Ungewissen zu bleiben. Geborener Polemiker, der er war, Polemiker aus unstillbarem Ehrgeiz, aus dem krankhaften Bedürfnis nach Macht und Einfluß, aus leidenschaftlicher Geltungssucht, hatte er keine Rast und Ruhe mehr, bevor das nicht bereinigt war, was Kerkhoven mit so befremdlicher Entschiedenheit von ihm gefordert hatte und schon in der gleichen Nacht ließ er Kerkhoven unter dem Vorgeben eines Kollapses zu sich bitten. Und das geschah auch in den folgenden Nächten. Er verbiß sich. Dabei spielten Wahn- und Angstvorstellungen mit. Vielleicht bin ich einem Spitzel in die Hände gefallen, sagte er sich. Vielleicht ist er von meinen Gegnern besoldet und will mich unschädlich machen. Mittel und Wege hiezu gibt es genug. Man belauert mich. Man hat mich in eine Falle gelockt, und wenn ich den geringsten Versuch unternehme, zu fliehen, bin ich verloren. Ob nicht Agnes schon alles weiß? ob sie nicht mit im Komplott ist? Dieser irrsinnige Verdacht quälte ihn besonders, weil sich am wenigsten Anhaltspunkte dafür fanden. Agnes war in den letzten Jahren seine Sekretärin und einzige Vertraute gewesen, sie war in alle seine Geschäfte, in alle Heimlichkeiten seines Lebens eingeweiht; das gab zu denken. Allein die blinde Vergötterung, die sie ihm zollte, ließ ihm andererseits jeden Argwohn als Verrücktheit erscheinen, und daß er dieser Verrücktheit anheimfallen könnte, nährte wieder seine Angst.

Es entstand ein erbitterter düsterer Kampf zwischen den beiden Männern, in welchem Kerkhoven allmählich notgedrungen alle Reserve aufgeben und sich zu grausamer Offenheit entschließen mußte. Zum Entsetzen von Agnes, die nur die Wirkungen zu spüren bekam. Eines Tages stellte sie ihn und zischte ihm die Worte zu: »Was treiben Sie? Sie morden ihn ja. Sehen Sie nicht, daß er verfällt? Ist das Ihre Absicht? ist das Ihre Kur?« – »Warten wir das Resultat ab,« antwortete Kerkhoven. Er war aber nicht so sicher wie er sich gab. Das Experiment war gefährlich.


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