Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Das alles war sehr ungewöhnlich, sehr unheimlich, fast wie ein eingespielter Vorgang mit blendendscharf herausgehobenen Einzelheiten, die sich dann kurze Zeit überdunkelten, denn während des gemeinsamen Abendessens hatte Kerkhoven einen familiären Streit mit Marie, weil er seinem Sohn Johann erlaubt hatte, die Schule zu schwänzen. Ohne besonderen Grund; der Bub hatte ihn einfach so lang bestürmt, bis er schwachmütig nachgegeben hatte. »Und weißt du, wozu er den Nachmittag gebraucht hat?« fragte Marie böse; »bei der eingestürzten Gartenmauer hat er sich mit seinen Gesponsen zu schaffen gemacht, und dir hat er vorgelogen, er hätte Kopfweh. Wenn du fortfährst, ihm auf solche Schwindeleien hereinzufallen, werden wir wenig Freude an ihm erleben. Überhaupt deine Erziehungsmethoden, großer Joseph Kerkhoven. Daß Gott erbarm! In dem Punkt bist du wahrhaftig mit Blindheit geschlagen.« Kerkhoven sah schuldbewußt drein. Nur bei der Erwähnung der Gartenmauer hatte er ein wenig gelächelt. In der vorvorigen Nacht war ein etwa zwölf Meter langes Stück der Mauer mit großem Lärm zusammengebrochen. Am nächsten Abend hatte Marie in der Zeitung gelesen, daß in Japan um diese Stunde ein Erdbeben gewesen sei. Kurz zuvor hatte sie mit dem Baumeister über die Wiederaufrichtung der Mauer gesprochen und war über den Kostenvoranschlag entsetzt gewesen. Als sie dann die Zeitung aus der Hand gelegt, hatte sie sich mit der unmutigen Bemerkung an ihren Mann gewandt: »Na, dieses Erdbeben wird uns mindestens tausend Mark kosten.« Er hatte laut herausgelacht. »Du bist also fest überzeugt, daß zwischen dem japanischen Erdbeben und unserm Mauerschaden ein Kausalnexus besteht?« fragte er. Ja, sie war fest überzeugt. Sie wollte es sogar gespürt haben. Es war halb drei Uhr nachts gewesen, und sie war mit einem Bangigkeitsgefühl aufgewacht; plötzlich hatte sie draußen die Steine poltern gehört. Es mag sein, sagte sich Kerkhoven nachher, Frauen haben in diesen Dingen eine ganz andere Art der Sensibilität, und Marie besonders. Aber daß jetzt Erdbeben und eingestürzte Mauer in Verbindung mit einem pädagogischen Mißgriff auftraten, den er begangen, ergötzte ihn so sehr, daß er sich nicht enthalten konnte, Marie damit zu necken. Sie nahm es übel. Sie fand, er drücke sich um seine väterlichen Aufgaben. Ihr falle immer das Verbieten zu, er mache sich die Sache bequem durch gedankenloses Gewähren. So werde in den Kindern das Gefühl erweckt als sei die Mutter die unerbittliche Straferin und Tadlerin, der Vater aber der, dem man alles abschmeicheln und ablisten könne. »Siehst du das nicht ein, Joseph? begreifst du nicht, daß das auf die Dauer eine unhaltbare Stellung ergibt? Du, der du so weise bist in allen Weltverhältnissen, so unbeirrbar in deinem Urteil über Menschen, versagst den eigenen Kindern gegenüber so kläglich, daß ich das größte Unheil voraussehe.« – »Du übertreibst, Marie, wirklich, darin übertreibst du maßlos.« – »Nein, Joseph, ich übertreibe nicht. Daß du das glaubst, ist ja, verzeih, ein Teil meiner Sorge. Es stimmt so wenig mit allem Andern in dir überein. Die Liebe, die man sich auf solche Weise erkauft, ist zu teuer bezahlt, sie wird einmal zur Schuld.«

Er sah es ein; er begriff es. Sie hatte ja einen so leuchtenden Verstand, das Sonderbare war nur, daß er sich als Mann, als in seinem Stolz und seiner Überlegenheit beleidigtes Mannsbild, immer ein wenig zur Wehr setzte gegen ihre unerbittlichen Schlußfolgerungen. Er machte dann den Eindruck eines überführten Diebes, der sich sittlich entrüstet, wenn man die gestohlenen Gegenstände in seinen Taschen findet. Was nicht hinderte, daß er jedesmal, so auch jetzt, den Vorsatz faßte, sich zu bessern. Aber auch dieser Vorsatz war eine Schwäche. Er mußte wissen, daß man gegen den eigenen Charakter machtlos ist, so machtlos wie gegen ein Naturgesetz. War doch auch Marie machtlos gegen ihre Überzeugung, das Erdbeben in Japan habe den Einsturz der Gartenmauer verursacht. Unsere Einbildungen und unsere Selbstgewißheiten verhalten sich zur Wirklichkeit wie Legenden zu den historischen Tatsachen.

Der Kuß, mit dem er sich von Marie verabschiedete, enthielt Reue und Beteuerung. Sie verstimmt und unversöhnt zurückzulassen bereitete ihm ein Gefühl wie wenn er in einem Gasthaus die Rechnung nicht beglichen hätte. Und es drängte ihn von ihr weg. Sie mußte ja gemerkt haben, daß er bei dem Gespräch nur zur Hälfte gegenwärtig gewesen. Das Problem Martin Mordann hielt ihn um und um besetzt. Das fette, boshafte, geistreiche Gesicht wich nicht von seinem innern Auge, dieses Gesicht eines rebellischen alten Haudegens, den man in den Ruhestand versetzt hat. Und der fürchterliche Hustenanfall blieb ihm fortwährend im Ohr wie das Gebelfer eines Dämons; und das wachsbleiche Gesicht der Tochter, die in hassender Anbetung an den Vater fixiert und zweifellos ihm nachzusterben gewillt war wie wenn sie nichts so sehr fürchtete wie die Erlösung von seiner vernichtenden Nähe. Ja, es war durch und durch unheimlich, das alles. Nie war ein Arzt so fehl am Ort, war Kerkhovens Gedanke, während er, die Hand an der Stirn, in seinem saalartigen Arbeitsraum unablässig auf- und abmarschierte; nie war ein Tod so notwendig und gerecht; nie ein Schicksal so zu seinem logischen Ende gediehen. Aber was heißt das: einen Menschen bewußt sterben lassen? heißt es nicht wirklich, ihn zum Tod verurteilen, wie diese Agnes rätselhaft scharf gesagt hatte? In der Theorie hatte man gut verfügen: der kranke Mensch kann nicht gerettet werden, wenn er sich nicht selber rettet; wenn er nicht, hineingestellt in sein Geschick, die Verantwortungen übernimmt, die der Heiler dem todsüchtigen und todesreifen Körper allein niemals vermitteln kann. Schon recht; aber der Arzt hat gegen den Tod anzutreten, er darf sich nicht mit dem Tod verbünden. Es gibt kein Recht des Arztes auf Leben und Tod, die unendliche Seele entzieht sich dem menschlichen Gericht, und wäre Siechtum auch ein Laster und Krankheit die Folge von Wahn und Verbrechen, wer sich zum Henker aufwirft, wo noch eine einzige Zelle zur Erneuerung strebt, der vergreift sich an der Welthorme. Seltsam, daß ihm dieser geheimnisvoll klare und umfassende Begriff, den der große Forscher und Freund in Zürich geformt hatte, plötzlich so tönend ins Bewußtsein trat. Welthorme: Gott-Leib, Gott-Hirn, Gott-Substanz, und im ergänzenden Gegensatz dazu das unbekannte Treibende im Innern des Menschen, jenes Etwas, das wie ein pochendes Geisterherz ist, Träger des »vitalen Programms« nach den Worten des wunderbaren Mannes, die Syneidesis, das unbetrügbare, ursprüngliche, unzerstörbare Gewissen des Plasmas und des Zellenstaates.

Es war schon elf Uhr, als er zu Mordann ging, um seiner Pflicht zu genügen und sich über den Zustand des Kranken zu vergewissern. Die elektrische Lampe auf dem Tisch war mit einem dicken grünen Tuch verdeckt. Am Bett saß Agnes in angestrengt steifer Haltung und mit starroffenen Augen. Sie nahm von der Anwesenheit Kerkhovens keine Notiz, bewegte nicht einmal die Pupillen. Er trat dicht an das Bett, beugte sich zur Brust des anscheinend tief Schlafenden nieder und horchte die Atemzüge ab. Auf dem Nachttisch lag ein Zettel mit der Fieberkurve. Die letzte Eintragung von der Hand Schwester Elses war 38,6. Kerkhoven richtete sich auf. Sein zugleich verträumter und durchdringender Blick haftete minutenlang unbeweglich auf Mordanns Gesicht.

Da lag er nun, der Mann des Zettelkastens. Der Aufrührer, der Furchterwecker, der ruhlose Schreiber, der Beherrscher des Worts. Da lag er, sterbender Tribun. Und der verträumt-durchdringende Blick Kerkhovens bohrte sich ins Innere des Schädels, in die illuminierte und arbeitsame Nacht des Gehirns. Er sah die Windungen, die gleich Maschinenbändern bebenden gelbgrauen Stränge, die teigigen Geflechte, die membranhaft zuckenden Häute und Häutchen, die verborgenen Schaltungen und in zarte Kanäle eingebetteten Flüssigkeiten. Er sah die Gedanken von Station zu Station eilen, signalgebend, von Todesahnungen bedrängt; er sah die Bilder aufsteigen und versinken, die sechzig Jahre Leben in ein Fieberpanorama verwandelten; er sah die Angst, die einer bleichen Nebelmasse glich, die ehrgeizigen Träume, die wie Kügelchen rannen, den Wahn, der wie dicker schwarzer Saft um die feinsten Fleischfasern quirlte: ein Reich, ein ungeheures, unvergleichlich organisiertes Reich. Und wo war da Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Recht und Unrecht, zu Hassendes und zu Liebendes? Wo das Maß dafür, wo die giltige Formel, wo der Anhalt für Nutzen oder Unnutzen? Es konnte in diesem Augenblick sein, es konnte morgen oder in drei Tagen sein: eine Hundertstelsekunde, und ewige Ruhe herrschte in diesem engummauerten Kosmos, der die Unendlichkeit enthielt; die Illumination war aus, der sogenannte Tod, unfaßlich wie das sogenannte Leben, überdeckte alles mit Finsternis.

Es geschieht, ob ich es will oder nicht, ging es Kerkhoven durch den Sinn; ob ich es zu hindern trachte oder nicht; vielleicht hätte ich das Ende hinauszögern können; vielleicht habe ich es unbewußt unterlassen; aber da ist die Grenze der Natur, da erhebt sich die Forderung, dem eigenen Instinkt zu vertrauen und sich in Harmonie mit einem innerst gewußten Daseinsgesetz zu bringen. Und er erinnerte sich, wie er einst dem todgeweihten und nach dem Tod verlangenden Irlen die tödliche Giftdosis gegeben: Mörder aus Erbarmen und Liebe. Damals, in seiner ersten Existenz, war es der Freund gewesen, der einzige, den er je besessen. Auch dieser Körper war ihm, bei einem unvergeßlichen Anlaß, zur Organvision geworden. Heute stand er mit verschränkten Armen, dem Tod den Weg freigebend, am Sterbebett des Feindes. Nicht seines Feindes; des Art- und Blutfeindes, des Gottesfeindes...

Still, fast unhörbar schlich er aus dem Zimmer. Agnes hatte sich während der ganzen Zeit nicht gerührt.


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