Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Das Zeitalter der Auflösung

Alles was kreucht, wird mit der Geißel
Gottes zur Weide getrieben.
Heraklit.

Bekanntschaft mit Bettina

Ich lernte Bettina Merck im Hause eines befreundeten jungen Ehepaars, namens Waldbauer kennen, sehr lieben Menschen; der Mann war Kunsthistoriker. Bettina war damals fünfundzwanzig Jahre alt, also siebzehn Jahre jünger als ich. Sie war seit sieben Jahren verheiratet und hatte zwei Kinder, zwei Töchter. Ihr beinahe gleichaltriger Mann war der Chef einer großen Porzellanmanufaktur, deren Leitung er trotz seiner Jugend nach dem Tod des Vaters übernommen hatte. Der Vater Bettinas war ein populärer Komponist und Kapellmeister gewesen, daher ihre musikalische Begabung. Freund von Kainz und Mahler, galt er noch jetzt, unvergessen von vielen, als einer der letzten Träger altösterreichischer Tradition. Manche seiner Lieder waren Volkslieder geworden und lebten ohne den Namen ihres Schöpfers. Ich hatte ihn gekannt. Sehr deutlich erinnerte ich mich des feinen zarten Mannes. Er hatte eine besondere Art von liebenswürdigem Spott an sich gehabt; überhaupt war Liebenswürdigkeit sein Merkmal gewesen. Als ich davon sprach, leuchteten Bettinas Augen. Sie verehrte den Vater über alles.

Was mir gleich am ersten Abend an ihr auffiel, war eine gewisse lachende Beschwingtheit. Sonderbarerweise regte sich ein feindseliger Instinkt in mir als sei es nicht angemessen, so heiter beschwingt zu sein, als stehe es im Widerspruch zur Zeit und zur Welt. Genau wie ihr Vater, war mein nörgelnder Gedanke, immer leicht, immer im Dreivierteltakt. Jede scherzhafte Bemerkung, die in der Gesellschaft fiel, veranlaßte sie, laut und aus voller Kehle zu lachen. Zuweilen war der ganze Raum von ihrem Lachen erfüllt, das die andern ansteckte und etwas wie Glanz um sich verbreitete. Auch das störte mich. Warum nur? Als Kind hatte ich Anfälle von Weltschmerz gehabt, wenn ich andere Knaben ein Butterbrot verzehren sah, und ich hatte keines. Als ich langsam auftaute und auf ihren leichten Ton einging, so weit mir dies gegeben war, geschah es doch mit dem sauren Vorbehalt eines Klassenvorstands, der im Gespräch mit einem gar zu muntern Schüler ängstlich auf Wahrung seiner Würde bedacht ist.

Ein paar Tage später saß sie mir plötzlich in der Trambahn gegenüber, und wir kamen rasch ins Gespräch. Wieder empfand ich ihre heitere Lebhaftigkeit als Herausforderung, denn sie stand im schroffen Kontrast zu meiner Art und zu den Menschen, mit denen ich umging. Ich hatte das törichte Gefühl als wolle sie mich überrumpeln. Ja, vollkommen töricht war dieser Eindruck; an dergleichen dachte sie nicht im entferntesten. Ich entsinne mich, daß ich ihr verblüfft nachschaute, als sie sich an ihrer Aussteigstelle von mir verabschiedete und über die Straße schritt. Es war ihr tänzerischer Gang, der mein Erstaunen erregte. Darf man denn so gehen? überlegte ich und wickelte mich in meine komische Mißlaune wie in einen Pelz, den man in der Wärme für einige Zeit ungern abgestreift hat.

Ich weiß nicht mehr, wie es kam, daß wir uns bald darauf zu kleinen Spaziergängen verabredeten. Ich glaube, ich war es, der sie zuerst dazu aufforderte, und zwar rief ich sie telephonisch an. Aber warum ich es tat, kann ich heute nicht mehr sagen. Es ist ja oft so, daß die geringfügigen Anlässe zu den allerentscheidensten Entschließungen völlig im Dunkeln liegen und späterhin nie mehr zu ergründen sind. Vielleicht war ein Tonfall, ein Blick, eine Handbewegung, ein Lächeln, ein beiläufiges Wort in mir geblieben; ich weiß es nicht mehr. Auch das ist mir entfallen, ob es nach längerer oder schon nach kurzer Bekanntschaft geschah, daß ich ihr die Druckbogen meines neuen Romans zum Lesen gab, jenes Buches, das mir den ersten breiten und nachhaltigen Erfolg verschaffte. Es war der Roman einer Stadt, deutschen Mittelstadt, ein geschlossenes Gebilde, balladesk in der Führung der Figuren und finster in der Lebensstimmung wie das meiste, was ich geschrieben habe, jedoch reich an volkshaften Zügen, die die spätere Wirkung erklärten. Es war der Tribut, den ich meiner deutschen Heimat leistete, der gestaltgewordene Dank an das deutsche Volk, eine Kriegsgabe in gewissem Sinn, da ich doch nicht mit den Waffen in seinen Reihen stand.

An die Umstände, unter denen ich Bettina das Buch brachte, kann ich mich, wie gesagt, nicht erinnern, wohl aber habe ich das, was sie nach der Lektüre darüber äußerte, ziemlich genau im Gedächtnis behalten, schon darum, weil es etwas ganz anderes war als ich erwartet hatte. Ich hatte gehofft, sie würde begeistert sein. In meiner naiven Autoreneitelkeit hatte ich daran umsoweniger gezweifelt, als ich ja wußte, daß sie meine bisherige Produktion mit Teilnahme verfolgt hatte, sich sogar offen zu denen bekannte, die meine engere Gemeinde bildeten. Das hatte auch meinen anfänglichen Widerstand gegen sie besiegt, ich muß es zugeben, trotzdem es meiner Objektivität kein rühmliches Zeugnis ausstellt. Nun aber stieß ich statt auf die erhoffte enthusiastische Zustimmung auf eine Trockenheit, die mich ein wenig aus der Fassung brachte. Ich war bis dahin keiner Frau begegnet, die mit höheren Bedingnissen an meine Arbeit herantrat. Vor allem gewöhnt an Gannas uneingeschränkte Bewunderung, die sich ohne vergleichenden Maßstab stets in Superlativen bewegte, fand ich mich durch Bettinas mutige Rückhaltlosigkeit unglücklich bedrängt. Sie verhehlte nicht, daß manche Partien des Buches sie ergriffen, manche Figuren überzeugt hätten, allein im ganzen war es ihr zu schwer, nicht geistig, sondern im Gefühl, im Bau, zu schwer und, das Wort machte mich stutzig, zu barbarisch. Darauf gab es natürlich kaum einen Einwand, indessen man will sich rechtfertigen oder erklären, und ich sehe noch den eigentümlich festen und gespannt aufmerkenden Blick ihrer grüngrauen Augen, als ich ihr meine Absichten auseinandersetzte. Sie begriff außerordentlich rasch, sie hatte eine fabelhafte Einfühlungsgabe, und was mir besonders auffiel, war ihr nervenmäßiges Verständnis für alles Rhythmische, seine leisesten Nuancen und Schwingungen. Jedoch konnte sie sich mit der kleinbürgerlichen Welt nicht befreunden, die ich da gemalt; sie war ihr zu vertrackt, zu voll von Larven und Gespenstern, nicht schwebend genug, im Erotischen zu dumpf, zu qualmig, zu gepreßt. Bei dieser Gelegenheit kam sie auf das Gegensätzliche des Österreichischen und dessen, was man jetzt als deutsch in den Himmel hebe, das was sie und ihre Freunde das Neudeutsche nannten, auch auf die überhebliche Geringschätzung, die österreichische Form und Helligkeit, Weichheit und Urbanität bei den geschworenen Preußen erfahre; das könne sie gar nicht aushalten. Ich hörte ihr zu, ich schaute sie an, ich sagte mir: sie ist nicht nur die Tochter eines Künstlers, sie ist selbst eine Künstlerin. Ja, das war sie, und zwar durch und durch, mit jeder Faser, mit jedem Hauch, mit einer Kraft und inneren Folgerichtigkeit, die mir bei einer Frau gänzlich neu waren. Kein Wunder, daß sie da gar bald meine Vertraute und mein Kamerad wurde. Es war eine durch die Natur und meine Seelenlage bedungene Verbindung.

Und nun muß ich etwas Seltsames erwähnen. Lange Zeit hindurch befand ich mich über meine Beziehung zu Bettina im Unklaren. Ich wußte nicht einmal, ob sie mir gefiel oder nicht. Als ich, ganz allmählich, in meiner rechenschaftslosen Weise, entdeckte, daß ich sie liebte, nahm ich zu meinem Erstaunen wahr, daß ich noch immer keine Spur von Verliebtheit empfand. Und als diese Liebe schließlich von meinem Körper, meiner Seele, meinem Herzen, meinem Geist, mit einem Wort um und um Besitz von mir ergriffen hatte, glaubte ich noch immer an eine Art von sublimer Gefährtenschaft, ohne Tragweite in die Zukunft, ohne fesselnde Verpflichtung. Wie ging das zu? Es war mir jedenfalls noch nie passiert. Vielleicht kam es daher, daß nichts Dunkles, Hinlangendes in ihr war, nichts, das erobern und festhalten wollte, nichts, was nach Versicherungen und Gelöbnissen aussah, daß sie mich einfach in meiner Freiheit ruhen ließ und selber geduldig und gelassen wartete, was da werden mochte. Vielleicht weil sie nicht krampfig war und nicht süchtig und nicht gierig und nicht zweckbesessen und ihr von dem was Glück spendet und Glück wahrt eine so wundervoll schwebende Vorstellung innewohnte. Entschieden war es dies, das Leichte und Beschwingte, das ich anfangs so verdrießlich abgelehnt hatte und das nun wie ein völlig neues Element gewichteverteilend in mein Leben trat. Mit den andern hatte immer etwas nicht gestimmt, die Sinne oder die Anschauungen oder die Charaktere oder der Geschmack oder das Lebensgefühl, dann war man in die Untiefe geraten, wo man strandete. Hier stimmte es nicht nur, sondern fügte sich auch mit jedem Tag aufs allernatürlichste fester zusammen. Es war wie wenn man nach jahrzehntelangem Aufenthalt unter einem das Gemüt verdüsternden Regenhimmel endlich das blaue Firmament über sich erblickt, das sich nur selten trübt. Manchmal dachte ich mit Sorge: wird es auch so bleiben? Kann es so bleiben? Wird sie nicht das Gift meiner Dunkelheit in sich saugen?

An einem Novemberabend...

Lange sträubte sich Bettina, zu uns ins Haus zu kommen. Da es Leute gab, die von mir als einem Manne redeten, der jeden Tag zum Frühstück eine Jungfrau verspeist, hinderte sie in der ersten Zeit ihr Selbstgefühl daran, mir gehorsam zuzulaufen wie ein Hündchen, das apportiert, wenn man es ruft. So drückte sie es späterhin einmal spöttisch aus. Zudem hatte ich versäumt, auch ihren Mann einzuladen, als ich sie zu einem Besuch aufforderte, das nahm sie mir übel. Dann gab es einen richtigen Gesellschaftsabend, an welchem Paul Merck, die Waldbauers und einige andere Freunde erschienen. Sie tauten freilich erst auf, als sich Ganna, die sich unter diesen Menschen fremd fühlte, zurückgezogen hatte.

Bettina mochte unser Haus nicht. Sie sprach nicht darüber, doch ich spürte es. Sie fröstelte, wenn sie es betrat. Bisweilen fragte ich sie nach dem Grund, aber sie schüttelte nur abweisend den Kopf. Daß ihr die Räume nicht zusagten, das etwas Extravagante der Anlage, ließ sich bei ihrem konservativen Geschmack leicht begreifen, aber ich mußte alsbald fürchten, daß es hauptsächlich die Herrin war, zu der sie in ihrem Innern kein Verhältnis finden konnte. In der Tat, sie konnte es mir auf die Dauer nicht verbergen, war Ganna für sie das unfaßlichste Wesen unter der Sonne, und so oft ich den Versuch machte, ihr Gannas Charakter und Seelenbeschaffenheit zu erklären, die großen sittlichen und geistigen Eigenschaften rühmte, die Ganna nach meiner Überzeugung besaß, hörte sie mir still zu, mit einem sonderbaren, neugierigen Glanz in den Augen, doch ohne jemals auch nur mit einer Silbe einen Zweifel laut werden zu lassen. Dies hätte sie sich nie erlaubt.

Nun wußte ich aber, daß sie eine äußerst scharfe Beobachterin war, in einer Art, daß ich mir manchmal, gegenüber der Sicherheit und Schnelligkeit ihrer Auffassung, wie ein kleiner Junge vorkam und mit offenem Mund dastand, wenn sie mir irgend einen Vorgang mit Einzelheiten schilderte, von denen ich kaum eine einzige wahrgenommen hatte. Doch gehörte sie nicht zu den Menschen, die sich daraus eine geistige Einnahmequelle machen. Sie verstand zu schweigen und zwar so lange zu schweigen bis es dringlich an der Zeit war zu reden. Und es war auch so mit ihr, daß sie viele Dinge sah und hörte, die nicht zu sehen und zu hören sie aus gewissen Erwägungen heraus beschlossen hatte. Aus dem, was sie bemerkte oder nicht bemerkte, notierte oder nicht notierte, aufnahm oder an sich vorübergehen ließ, hätte man eine ziemlich umfassende Beschreibung ihres Charakters aufbauen können. Zum Beispiel wußte sie wie alle Welt es wußte, daß sich Ganna nicht nur langmütig von mir betrügen ließ (Bettina nannte es »betrügen«, obgleich bei meinem offenen Verfahren gegen Ganna von Betrug nicht die Rede sein konnte), sondern sich auch mit meinen Abenteuern brüstete, um den Menschen zu verstehen zu geben, an ihr gemessen seien alle andern Frauen nichts wie vorübergehend begünstigte Kebsen. Bettina wußte es und deckte es in ihrem Bewußtsein wieder zu. Sie tat es gleichsam im Namen aller Frauen, die dadurch beleidigt wurden, auch im Namen Gannas. Sie war der Meinung, daß man die Menschen zu sehr entehre, wenn man nicht ignoriert, wozu sie sich erniedrigen. Ich, mit meiner damaligen morschen Auffassung eines Libertins, zuckte die Achseln darüber und fand Gannas Haltung durchaus preisenswert.

Unglücklicherweise (für mich unglücklicherweise, da ich ängstlich darauf bedacht war, Ganna in Bettinas Achtung zu halten) geschah einmal in Bettinas Gegenwart folgendes: Ganna hatte dem Hausmädchen eingeschärft, es solle aufpassen, ob Elisabeths Klavierlehrerin den Unterricht nicht zu früh abbreche, wie sie zu argwöhnen Ursache hatte. Als ihr mitgeteilt wurde, das Fräulein sei soeben aus dem Zimmer gegangen, acht Minuten vor der Zeit, eilte sie in den Flur, wo Bettina eben ihren Mantel anzog, und stellte die Bestürzte schroff zur Rede. »Sie haben pünktlich zu sein,« schnaubte sie die zitternde Lehrerin an, »pünktlich zu kommen und pünktlich zu gehen, dafür bezahle ich Sie. Wenn Sie das nicht wollen, dann ersparen Sie sich künftig den Weg.« Ich muß ehrlich gestehen, mich beirrte das nicht weiter, es prallte an mir ab, wahrscheinlich weil ich an derartige Auftritte längst gewöhnt war. Man wird stumpf; ich hatte mich daran stumpfgelebt. Aber Bettina war leichenblaß geworden. Ich bezahle Sie: das einem Menschen zu sagen! Es war ihr unheimlich dabei zumute. Viel, viel später, als sie mich an die Szene erinnerte, gestand sie mir, sie sei nahe daran gewesen, Ganna am Handgelenk zu packen und ihr zuzurufen: Frau! Frau! besinnen Sie sich doch! wie führen Sie sich denn auf! Ich begriff es nicht recht. Für mich war es ein Temperamentsausbruch, weiter nichts. Ganna ist eben wie sie ist, tröstete ich mich und andere, man muß auch das Üble schlucken, wenn man daneben des Guten genießen will. Und so sah ich nicht, wünschte nicht zu sehen, was da wuchs und wurde.

Dennoch wurde mir auf Schritt und Tritt bewußt, daß sich die Situation gegen früher einschneidend verändert hatte. Von einer gewissen Zeit ab konnte ich Ganna die Offenheit nicht mehr zeigen, die mir in den schlimmsten Stürmen unserer Ehe die Illusion der unzerstörbaren Einheit und Ganna den Glauben bewahrt hatte, sie allein sei die herrschende weibliche Macht in meinem Leben. Ich wich ihr aus. Ich schlug die Augen vor ihr nieder. Ich war kalt und verletzend gegen sie. Und vor allem: ich entzog mich der ehelichen Gemeinschaft gänzlich. Das war vorher nie geschehen. Ein Zärtlichkeitsalmosen für Ganna war immer übriggeblieben: Troststunde, Bestechungszahlung. Auf einmal war es nicht mehr möglich. Bettina war dawider. Nicht als hätte sie es verlangt oder erwartet; bewahre. Aber ihre Art zu sein war dawider, eine wahre und redliche Art zu sein. Eine Art zu sein, die in mich hineinfloß als das Entsprechende und mich umformte.

Ein Abend im November lebt in meiner Erinnerung wie ein Stück Grauen.

Es ist spät, als ich nachhause komme. Ich habe ein beglückendes Erlebnis gehabt. Bettina hat mir auf der Geige vorgespielt, zum ersten Mal seit den sieben Monaten, da ich sie kenne. Eine ganze Bach-Suite, schließend mit der Chaconne. Es ist nicht eben eine Meisterleistung gewesen; das große Letzte der Großen war nicht darin; aber wieviel Gesang, wieviel Schmelz, wieviel reine Kraft und inniges Feuer; und wie geheimnisvoll verwandt meinem Puls und Herzschlag als hätte ich selber gespielt, selber die Rhythmen erfunden. Eine unvergeßliche Stunde, die mir eine hinter dem heiteren Weltkind verborgene Bettina gezeigt hatte.

Und nun starren mich die weißgekalkten Wände der Halle, die zugleich Eßzimmer ist, nüchtern an und die närrisch verbogenen Beleuchtungskörper drohen wie emporgereckte Arme. Rasch noch zur kleinen Doris, einen Blick auf die geliebte Schläferin, rasch ein paar Bissen hinuntergewürgt, dann will ich an die Arbeit. Aber an der andern Seite des Tisches sitzt Ganna, die Augen voll glühendem Vorwurf, die Lippe zuckend, die Arme verschränkt, das ganze Weib eine einzige stumme Klage und Anklage.

Ich sollte gehen. Ich sollte ihr gute Nacht sagen und in meine Sternwarte hinaufgehen. Mein Bleiben ebnet der fälligen Erörterung die Bahn. »Warum kommst du so spät? Wo bist du gewesen?« Natürlich weiß sie, wo ich gewesen bin. »Was ist denn mit dir, Alexander? hast du mich ganz vergessen? bin ich dir gar nichts mehr?« Dann, drängender, bitterer: »Deine ganze Zeit gehört jetzt dieser Frau. Du affichierst dich ja mit ihr. Die fremdesten Leute reden schon darüber.« Ich schweige noch immer. Ich gehe herum und starre in die Ecken. Ganna fährt fort: »Ich habe ja nichts dagegen, daß du dich auslebst. Hab ich es je an gutem Willen fehlen lassen? Aber gerade deshalb werde ich zutode gequält.« Mein Schweigen reizt sie. Sie ringt die Hände. »Wie kannst du nur, Alexander! Ein Mann wie du! Die Person macht mit dir, was sie will. Hast du denn kein Erbarmen?«

Ich verliere wieder den Arbeitsabend, dachte ich; wenn ich jetzt hinausgehe und ihr freundlich gute Nacht sage, wird sie sich zufriedengeben, sie hat ja ein so merkwürdig brüchiges Gedächtnis. Aber ich kann nicht. Ich kann mich nicht entfernen und damit die aufdräuende Greuelszene im Keim ersticken. Es ist die Furcht, die mich daran verhindert. Die bare, nackte Furcht. Ich muß das, so gut es mir möglich ist, erläutern. Ganna hat die schreckliche Gabe, meine Phantasie aufs äußerste zu beunruhigen. Kein anderer Mensch ist hiezu in gleichem Maß befähigt. Das ist auch ihre Macht über mich, die nicht etwa im Schwinden ist, sondern noch immer zunimmt. Sie weiß es. Sie weiß, daß ich es nicht übers Herz bringe, sie sitzen und ins Leere brüten zu lassen. Wenn ich in Ruf- und Reichweite bin, kann es trotz des »brüchigen Gedächtnisses« geschehen, daß sie eine Katastrophe heraufbeschwört. So malt es sich in meinem Geist, obwohl ich nicht zu sagen vermag, welcher Art diese Katastrophe ist. Es würde ja schließlich genügen, wenn sie einen Spiegel zerschlägt, die Dienstmädchen aus den Betten schreit; es ist sogar nicht unmöglich, daß sie sich etwas antut. Nichts ist bei ihr unmöglich. Von einer Minute zur andern schaltet sie vorsätzlich das Bewußtsein aus, ein ziemlich rätselhafter Vorgang, und ist dann nicht mehr verantwortlich für sich. Sie wird vor einem öffentlichen Skandal nicht zurückschrecken. Ist sie doch einmal in Ebenweiler nach einem Streit in einer Sturmnacht ins Gebirge gelaufen, und ich habe sie von Jägern und Bauern suchen lassen müssen. Ereignet sich dergleichen, so ist es mit dem ohnehin ständig bedrohten Arbeitsfrieden für Wochen vorbei. Davor zittere ich. Meine Überlegung ist: um jeden Preis alles hinhalten bis das Werk fertig ist; dann wird man die Arme frei haben; dann wird man handeln können. Selbstbetrug. Denn da das Werk niemals fertig sein wird, immer nur ein Buch, und ich mich von einem Buch ins andere stürze wie einer, der im Ozean um sein Leben schwimmt, von Woge zu Woge, ist nicht abzusehen, wann ich mit dem Handeln beginnen soll. So hat sich die Vorstellung in meinem Hirn eingegraben, daß meine Gegenwart das einzige Mittel ist, Ganna an einem zerstörerischen Attentat gegen meine Existenz zu verhindern. (Und in einem gewissen Sinn hat sich diese Vorstellung später als richtig erwiesen.) Zugleich aber weiß ich, es ist lediglich meine Gegenwart, die ihr den Mut zur Raserei gibt. Wie findet man aus diesem Dilemma heraus? Welcher Mann von Herz bringt es schließlich über sich, eine Frau in einer schmerzlichen Stunde allein zu lassen, wenn er weiß, daß damit ihr Lebensraum verödet ist, daß sie ausgebrannt in sich zusammenfällt?

Und so mache ich mich zur Beute ihrer Gemütsausschweifung. Um jenes eingebildete Schlimmste zu verhüten, nehme ich das tatsächlich Unerträgliche auf mich. Es ist wie eine Schwefelwolke. Ganna ergeht sich in maßlosen Schmähungen Bettinas. Ich verliere die Besinnung. Ich schreie sie an. Das aber will sie, mich aus der Ruhe reißen, das ist ihre Genugtuung und Rache. Die Worte fliegen herüber und hinüber wie Giftpfeile. Da öffnet sich unhörbar die Tür. Aus dem Schlaf geschreckt tritt im Nachthemd Elisabeth auf die Schwelle. In tiefer, halbverschlafener Verstörtheit schaut sie Vater und Mutter an. Dieser Kinderblick! er macht mich schuldig für ewig. Ich nehme sie auf den Arm und trage sie mit schweigenden Liebkosungen ins Bett zurück. Als ich wieder bei Ganna bin, sitzt sie da und weint. Sie kann weinen. Ich habe keine Tränen.

Ganna verteidigt die Festung durch Angriff

Es läßt sich nicht verkennen: ein geschlagener Hund könnte nicht ärger leiden als Ganna. Die Welt ist ihr verrückt. Denn ihre Welt bin ich. Sie kann das Geschehene nicht fassen. Es ist als ob man ihr langsam das Herz aus der Brust operierte. In der Nacht liegt sie schlaflos und überdenkt alles, ihr tränenverschleierter Blick hält kein Bild mehr fest. Sie grübelt darüber nach, was sie wohl verbrochen hat. Sie kann nämlich beim besten Willen keinen Fehler an sich entdecken. Sie hat stets ihre Pflicht erfüllt, dünkt ihr, sie war von den reinsten Absichten beseelt. Sie findet, wenn das Leben zu schwer ist für zwei so schwache Arme wie die ihren, sollte man Mitleid mit ihr haben. Daß sie mich mitleidlos sieht oder glaubt, macht sie an allem irre. Sie läßt durchblicken, ein böser Zauber sei in mich gefahren, sonst könnte ich nicht ihre Liebe vergessen und daß kein anderes Weib auf Erden lebt, das mir so grenzenlos ergeben ist. Es ist zwar ihre unerschütterliche Überzeugung, daß ich niemals von ihr weggehen werde, so hätte ich mich ja selbst oft genug geäußert, gibt sie mir mit einem beängstigenden Auflodern in ihren Augen zu verstehen, aber warum nähme ich sie denn nicht jetzt schon bei der Hand, um sie herauszuführen aus dem Labyrinth ihres großen Kummers? Und sie baut sich eine Hoffnung. Ich will sie nur auf die Probe stellen, denkt sie sich aus; ich will die Tragkraft ihrer Liebe prüfen. Immerhin bedürfe es hiezu so drastischer Mittel nicht, das sagt sie mit dem reizend unschuldigen Lächeln, das in seltenen Momenten noch in ihrem Gesicht aufschimmert, nicht so herzbrechender; ich könnte ihr doch gelegentlich einmal andeuten, daß sie wieder meine Ganna sein würde, wenn sie die Probe bestanden hat, könnte mit ihr einen Spaziergang machen, wonach sie sich so sehnt, könnte ihr eine einzige kleine Zärtlichkeit sagen wie in früheren Zeiten. Sie muß sich wundern, wie dumm die Männer sind. Sie hätten es so leicht mit den Frauen und machen es so verkehrt. Doch dieses philosophische Staunen über die Verblendung der »Männer« ändert nichts daran, daß ihre Brust vor Weh verbrennt und ich dastehe wie der Sebastian am Marterpfahl...

Warum aber auf einmal diese Aufregung, diese Angst, dieses Verlustfieber, da sie sich doch jahrelang gegenüber meinen Seitensprüngen, wie sie es nannte, einer wohlwollenden Neutralität befleißigt hat? Es entgeht ihr eben nicht, daß alles anders ist als bei andern Frauen. Sie befindet sich vor einer Unerklärlichkeit. Was kann denn an dieser Bettina Merck so Besonderes sein? fragt sie sich, fragt sie zuweilen auch mich. Sie studiert sie. Sie möchte ihr gerecht werden. Doch sie begreift die Anziehungskraft nicht, die sie auf mich ausübt. Sie findet sie weder schön noch geistvoll. Ja, wenn sie geistvoll wäre. Sie ist auch keine erste Jugend mehr. Offenbar, argumentiert Ganna voller Gram, sind es raffinierte Künste, deren sie sich bedient: ich mit meiner Einfachheit und Geradheit komme dagegen nicht auf; jene ist rasend geschickt, es scheint, man muß geschickt sein; ich wollte, ich könnte es lernen, aber ich bin zu ehrlich dazu; außerdem ist sie eine gewissenlose Draufgängerin und pfeift auf die Meinung der Welt. Oder sie bohrt solcherart: die hats gut; reiche Leute; der Mann den ganzen Tag im Geschäft; keine Sorgen als wie sie sich putzen und die Modistin und die Friseurin ins Verdienen setzen kann; ich dagegen, eine abgerackerte Frau, die keine Zeit hat, an sich zu denken; ich habs ja immer gesagt: verderbt muß man sein, herzlos, vor nichts haltmachen, keine Seele im Leibe haben, das wirkt auf so einen sensationslüsternen Mann...

Ich gebe diese Gedankengänge wieder, weil ich sie nicht nur aus gelegentlichen Reden und Andeutungen, sondern auch aus dem tiefsten Einblick kannte, den man sich in eine menschliche Natur verschaffen kann. Das Interessante an ihnen liegt immer in dem Zweiteiligen, dem scharfen Wechsel zwischen Licht und Schatten, Erkenntnis und Vernageltheit, Angst und Haß, Torheit und Wildheit, Verdächtigung und Selbstunsicherheit. Wäre ihr Denken weniger zerstückt gewesen, ihr Gefühl weniger aussetzend, es hätte sie niedergeworfen. Jedoch erstreckte sich ihre innere Zerstreutheit auch auf den Schmerz, daher konnte sie in abgerissenen Augenblicken, die wie Korkstücke auf gischtigem Wasser trieben, ganz friedlich und guter Dinge sein. Freilich wurden die Fristen immer kürzer, in denen es ihr verstattet war, halbverloschen zu träumen und sich die Zukunft selig auszumalen. Es erfolgte Stoß auf Stoß gegen ihr Gemüt, das Leben zeigte ihr die Zähne. Es traf sie mitten ins Herz, als sie erfuhr, daß ich Teile meiner neuen Arbeit dem Freundeskreis um Bettina vorlas. Daß ich sie nicht ein einziges Mal dazu gebeten hatte, erregte die bitterste Eifersucht in ihr, die sie je verspürt, ärger als jede körperliche. Sie fühlte sich verstoßen und ausgestoßen. Doch es war leider schon so weit mit mir, daß ich Ganna als Zuhörerin nicht haben wollte, weil die Freunde sie nicht haben wollten. Ganna war ihnen unsagbar fremd. Sie fügte sich nicht ein, sie kannte die Bräuche nicht, sie verstieß gegen den Takt. Das kam natürlich nicht zur Sprache, aber es konnte mir nicht verborgen bleiben. Ich litt für Ganna, um Ganna. Es war nicht zu ändern. Und dann, Ganna und Bettina im selben Raum und ich zwischen beiden, als Stimme nur, es hätte eine tödliche Dissonanz ergeben. Um nun Ganna einigermaßen zu versöhnen, nahm ich meine Zuflucht zu einer Lüge; ihr Gefühl und Urteil sei mir so wichtig, erklärte ich ihr, daß ich sie allein vor mir haben müsse, ich brauchte den unmittelbaren Kontakt mit ihr. Obwohl sie mir nicht ganz zu glauben wagte, halb glaubte sie mir doch, und vielleicht habe ich ihr damit über das Schlimmste dieser Enttäuschung für eine Weile hinweggeholfen. Aber da es eben nur für eine Weile sein konnte, war meine Lüge in einem tieferen Sinn viel grausamer und verräterischer als die rücksichtslose Wahrheit es hätte sein können.

Hätte Ganna nur ein klein wenig Weltverstand gehabt, wäre sie nur eine Spur gehemmter und beherrschter gewesen, es wäre mir nicht so schwer gefallen, den Freunden einiges Verständnis für ihre barocke, sprunghafte und konventionslose Art beizubringen; andere, verhängnisvollere ihrer Eigenschaften verhehlte ich mir ja damals noch krampfhaft. Aber Ganna tut selber alles, um sich verhaßt, mehr, um sich gefürchtet zu machen. So winzige Hände, und was können sie nicht ausreißen, so winzige Füße, und was können sie nicht zertreten! Eines Tages schießt sie zum Telephon, läßt sich mit Paul Merck verbinden, teilt ihm mit, sie hätte gehört, daß seine beiden Töchter Schafblattern hätten und daß unter diesen Umständen unser Arzt einen direkten Verkehr zwischen beiden Familien nicht für wünschenswert halte. Und sie schloß mit den unglaublichen Worten: »Ich möchte Sie dringend ersuchen, Herr Merck, daß Sie Ihrer Frau den Verkehr mit meinem Mann so lang verbieten, bis die Ansteckungsgefahr vorüber ist.« Paul Merck, ein wohlerzogener Mann, wußte nicht, wie ihm geschah. »Verzeihung,« stotterte er in den Apparat, »ich bin nicht gewöhnt, meiner Frau etwas zu verbieten.« Er legte den Hörer weg als sei er glühend, so erzählte mir Bettina später, griff nach einer dicken Broschüre und riß sie in seinem Zorn mitten durch, was für einen Athleten ein Kraftstück gewesen wäre.

Mich überlief es kalt, als ich die Geschichte vernahm, und bei dem nächsten Zusammensein mit Paul Merck bemühte ich mich, Entschuldigungsgründe für Ganna zu finden. Ich ging noch weiter; ich sprach von Gannas Ungewöhnlichkeit als Erscheinung, von ihrer Genialität als Weib, ihrer geistigen und menschlichen Bedeutung und ereiferte mich derart, daß sowohl Paul Merck wie Bettina mich in höchster Verwunderung schweigend anstarrten. Merck konnte schließlich ein skeptisch-amüsiertes Lächeln nicht unterdrücken, aber dies steigerte nur meine advokatische Glut. In Bettinas Gesicht verriet kein Zug irgend welchen Zweifel, weder Neugier noch Teilnahme. Sie sah aus als berichte ich etwas von einer Dame in Neuseeland.

Indessen hatte sich Ganna vorgenommen, zu Bettina zu gehen, um selbst mit ihr zu sprechen. Sie ist doch eine gescheite Person, war Gannas Gedanke, vielleicht hat sie ein Einsehen. Sie hatte zwar das Gefühl als spaziere sie direkt in den Rachen des Löwen, aber da sie von ihrer Überlegenheit durchdrungen war, hielt sie den Erfolg für ziemlich sicher, und so sagte sie sich in aller Form bei Bettina an. Diese sah der Unterredung mit Herzklopfen entgegen, doch davon war ihr nichts anzumerken, als sie Ganna mit der Artigkeit empfing, die sie jedem Gast in ihrem Haus bezeigte. Sie hat mir nachher den Verlauf des Gesprächs beschrieben, aber erst viele Monate später schilderte sie gewisse Einzelheiten, mit denen sie mich damals, unter dem deprimierenden ersten Eindruck, hatte verschonen wollen.

Reizend gedeckter Tisch, nach bewährtem Rezept zubereiteter Tee, Platte mit belegten Broten, etwas dürftig belegt, die Zeiten erlauben es nicht anders, aber für Ganna ist es ein Festmahl. Sie ist ausgehungert. Sie sieht schlecht aus, zerquält und müde. Ihr Kleid ist mindestens drei Jahre alt und sitzt unordentlich. Bettina hat heftiges Mitleid mit ihr, redet ihr zum Essen zu und gießt immer wieder Tee ein. Ganna läßt sichs munden. Ihr Blick schweift durch das Zimmer. Sie äußert sich wehmütig-anerkennend über die geschmackvolle Einrichtung. »Ja, Geschmack haben Sie,« spricht sie traurig vor sich hin, »das muß Ihnen der Neid lassen. Aber dazu gehört Zeit.« Bettina gibt rücksichtsvoll zu verstehen, sie halte es nicht für einen Fehler, Zeit zu haben. »Nein, aber es verleitet dazu, daß man die eigenen Interessen zu stark kultiviert,« bemerkt Ganna lehrhaft und mit einem wohlvorbereiteten Stich. Es käme auf die Art der Interessen an, meint Bettina kühl. Ganna lacht etwas hart. »Nun, was das betrifft, so beschränken sie sich bei Ihnen doch hauptsächlich auf Ihre Person,« sagte sie. Bettina ist erstaunt über so viel Kenntnis ihrer Natur. »Ich sehe ja an Alexander, wie leicht man diesen Äußerlichkeiten verfällt,« fährt Ganna fort; »seit er mit Ihnen verkehrt, ist ihm kein Anzug mehr elegant genug, früher war er so bescheiden, jetzt weiß er auf einmal, wo man Kravatten kaufen muß und verlangt, Gott, wie komisch, daß seine Hosen jede Woche in der Falte gebügelt werden. Ich lache mich tot.« Bettina versteht nicht, warum dies zum Totlachen ist, aber aus Gefälligkeit stimmt sie in Gannas ziemlich gezwungenes Lachen fröhlich ein. Da glaubt Ganna den Augenblick gekommen, um aufs Ziel loszugehen. »Sie müssen deswegen nicht denken, Frau Merck,« sagt sie mit messerscharfer Stimme, »daß Sie mit solchen mondänen Allüren meinen Mann kapern können. O nein. Da müßten andere kommen und sind auch andere dagewesen. Überhaupt, meine Ehe mit Alexander, das verrat ich Ihnen nur aus Nettigkeit, damit Sie orientiert sind, falls Sie es noch nicht wissen, meine Ehe mit Alexander ist ein rocher de bronze. Niemals, mag geschehen, was will, niemals wird sich Alexander von mir scheiden lassen. Darüber bin ich ganz beruhigt. Glauben Sie ja nicht, daß ich mir Sorgen mache. Ich möchte nur verhüten, daß Sie sich in der Hinsicht falschen Hoffnungen hingeben.« Bettina muß sich erst fassen. Ein derartiger Platzregen von Schrecklichkeiten ist ihr, so lange sie denken kann, nicht auf den Kopf gefallen. Auch jetzt wieder ist ihr als müsse sie Ganna packen und ihr zurufen: Frau! was reden Sie denn! besinnen Sie sich doch! so was ist ja unter Menschen nicht möglich! Sie zwingt sich zu einem Lächeln und erwidert im Ton wie man zu einem phantasierenden Kind spricht: »Sie haben bestimmt Recht, Frau Ganna. Sie brauchen mir das wirklich nicht zu sagen. Niemand hat die Absicht, Ihnen Alexander wegzunehmen.« Ganna stößt einen Laut aus, der wie ein drohendes Knurren klingt. »Ich wollte es auch niemand raten,« sagt sie barsch abschließend und erhebt sich. Bettina begleitet sie in den Flur und hilft ihr beim Anziehen des Mantels. Sie trägt ihr Grüße an die Kinder auf. Ganna ist gerührt. Sie verabschiedet sich mit gefühlvollen Dankesbezeigungen. Sie hat keine Ahnung, wie töricht und verletzend sie sich benommen hat. Sie trägt den Kopf hoch und freut sich über ihren Sieg. Bettina, als sie wieder allein ist, hat einen Schwindelanfall. Sie reißt die Fenster auf. Ihre Füße sind eiskalt, die Fingernägel blau. Sie friert bis ins Mark. Sie geht ins Schlafzimmer, entkleidet sich und fällt ins Bett. Den ganzen Tag über ist ihr sterbenselend. Sie sucht das Furchtbare zu vergessen. Es muß aus ihr heraus. Es darf nicht in ihr drin sein. Als sie mir von dem Besuch erzählte, bebend, fröstelnd, verhalten, war schon eine Woche darüber vergangen.

Die Circe

Da sich alle meine früheren Verhältnisse nach einem Jahr, höchstens nach zweien, friedlich ab- und ausgelebt hatten, wartete Ganna auch diesmal trotz tieferer Beunruhigung zuversichtlich auf das Ende. Als das Ende nicht kommen wollte, trat eine völlige Gleichgewichtsstörung bei ihr ein. Düsterer alter Aberglaube erwachte in ihr. Bisweilen äußerte sie allen Ernstes den Verdacht, Bettina müsse mir einen Zaubertrank eingegeben haben. Jedenfalls schien ihr die Gefahr einer dauernden Liebesknechtschaft so groß, daß sie auf Mittel und Wege sann, mich aus Bettinas vermeintlichen Netzen zu befreien. Auf dieser Grundlage erhob sich eine der unzerstörbaren Gannafiktionen, mit deren Hilfe sie sich immer eine Weile seelisch über Wasser hielt: ich schmachtete nach ihrer Ansicht in einer widerwillig ertragenen sexuellen Hörigkeit, in welcher ich von dem Wunsch gequält wurde, mich den Banden der herzlosen Circe zu entziehen und der viel echter geliebten Ganna wieder in die Arme zu sinken. Sie ließ es nur nicht zu, die grausame Verführerin, sie schläferte mich mit ihrem Liebesgift ein und beraubte mich so sehr meiner Mannheit, daß ich Ganna vor ihr verleugnen mußte, was umso leichter war, als es die Circe selbstverständlich fertig brachte, alle Tugenden Gannas in Laster umzudeuten. Doch mit dieser noch ziemlich harmlosen Verzerrung der Wirklichkeit begnügte sich Ganna keineswegs. Allmählich befestigte sich in ihr die Vorstellung, Bettina habe bei dem Zwangsverkauf der Wiese ihre Hand im Spiel gehabt; nicht bloß Bettina allein, die ganze Waldbauer-»Clique« sei daran beteiligt gewesen, wie denn das einzige Bestreben dieser Leute und ihres gesamten Anhangs darauf ausginge, sie, Ganna, zu verleumden, mich ihr immer mehr zu entfremden und sie gänzlich zu vernichten.

Da nützte keine Widerrede, kein Nachweis des zutageliegenden Unsinns, kein Augenschein, kein Bitten, Beschwören oder Kopfschütteln, das wuchs und wuchs unaufhaltsam, verschwisterte sich mit andern Wahnideen, machte die Luft, in der ich atmete, zu einem schmutzigen Brei und den Himmel über mir schwärzer und schwärzer.

Meine und Bettinas Verschuldung

Ich müßte eigentlich viel mehr von Bettina erzählen als ich bisher getan habe, aber es fällt mir schwer. Jedes Bild von ihr rückt sogleich in solche Nähe, daß mein Blick keinen Umriß mehr gewahrt, und ich kann mich nur darauf beschränken, Schritt für Schritt aufzuzeigen, was sich durch sie in meinem Innern und meinem Leben geändert hat. Ich denke, dies gibt einen deutlicheren Begriff von ihrem Wesen, als wenn ich mich weitläufig über ihre Eigenschaften, ihr Aussehen oder ihre verschiedenen Stimmungen verbreitete. Der Mensch, mit dem man wahrhaft lebt, ist ja auf eine sonderbare Weise unsichtbar, so wie man sich selber unsichtbar ist; man spürt ihn nur, man hat ihn in sich drin und entfaltet sich wiederum in ihm. Das Wort Liebe hat da gar keine rechte Bedeutung mehr.

Es ist klar, daß mir Bettinas Ehe von Anfang an viel zu denken gab. Ohne daß wir uns darüber ausdrücklich unterhalten hatten, schien es mir ausgemacht und zweifellos, daß sie sich in diesem Punkt nicht zu Halbheiten und Unaufrichtigkeiten erniedrigte. Nach und nach erkannte ich denn auch, wie die Dinge zwischen ihr und Paul lagen. Im Grunde sehr unverwickelt. Sie hatten sich als ganz junge Leute gern gehabt und ein wenig wie auf Probe geheiratet. Sie waren nicht schlecht dabei gefahren. In der ersten Zeit war es zu einigen unschuldigen Stürmen gekommen, dann hatten sie einen Freundschaftsvertrag geschlossen und lebten nun in herzlicher Verständigung mit- oder nebeneinander. Seit kurzem fühlten beide, daß ihre Beziehung einer neuen Ordnung und Klärung zutrieb. Sie sprachen oftmals darüber, in allem Frieden, sie machten einander das Herz nicht schwer. Bettina besaß keinerlei Vermögen; »ich bin wie ein Bettelbub in die Ehe getreten,« sagte sie mir einmal, »und wenn es sein muß, geh ich wieder so heraus.« Und ein andermal äußerte sie: »Eine Ehe ist keine Versorgungsanstalt; über die Kinder einigt man sich, schon um der Kinder willen, und im übrigen, was geh ich den Mann an, der mich oder den ich nicht mehr haben will?« Leicht sein, frei sein war alles. Manche Freunde, die ihr verwundert zusahen, wie sie ihren Faden spann, waren geneigt, es Schicksalsvertrauen zu nennen. Aber das war wohl ein zu anspruchsvolles Wort für sie. Sie war, ganz einfach, nicht wehleidig. Sie fürchtete sich nicht vor dem Leben. Sie brauchte keinen zahlenden Versorger. Sie verachtete jegliche Sicherheit.

Die Monate in der Stadt waren zerrüttend für uns beide. Es war die Zeit, da das Männermorden draußen stumpfe Gewöhnung wurde. Der Glaube, daß man mit dem Volk für eine gerechte Sache litt, wurde von allen Seiten unterhöhlt und brach zusammen. Nahe Menschen, die begeistert hinausgezogen waren, kehrten ruiniert an Leib und Seele heim, untauglich zu jedem Geschäft, Verlorene. An der Somme fiel ein Halbbruder von mir, den ich in seiner Jugend zärtlich geliebt hatte. Kein Brief, kein Gruß, schweigender Tod. Die hetzerischen Lügen von oben und unten und jenseits der Grenzen zermürbten das Herz. Die Üppigkeit der Reichen, ihr bacchantischer Taumel war ein Schauspiel, das an Frechheit nicht überboten werden konnte. Während sie die Nächte vertanzten und verhurten, standen Armeen von Müttern vor den Bäcker- und Metzgerläden, ein Zug von Lemuren. Gar oft wanderte ich mit Bettina durch unbeleuchtete Vorstadtgassen; das ungeheure, massenhafte Elend betäubte uns. Abermals bat ich, mündlich und schriftlich, um Verwendung im Heer; das Gesuch erledigte sich, als ich an einer langwierigen Gallenkolik erkrankte. Ohne Bettina, ihr Mitleben, Mitatmen auch in meiner Arbeit, hätte ich nicht weiter gewußt. »Darf man so aneinander Genüge finden?« fragte ich sie beklommen, »ist es nicht eine Herausforderung des Schicksals? Zwei armselige Menschlein, die den Untergang um einen Augenblick des Glücks hinausschieben wollen; als obs darauf ankäme, das Erwachen nicht umso gräßlicher wäre...« Bettina nahm es nicht an. In aller Demut nahm sie es nicht an. Es gab einen Unheilsvogel, der schrie in den Nächten im Garten hinter ihrem Haus; sie hatte ihm, seinem Schrei nachgeformt, den Namen Giglaijo gegeben, und wenn sie ihn hörte, gefror jeder Blutstropfen in ihr. Aber sie besaß ja diese segensreiche Kraft im Vergessen des Bösen und Häßlichen, es war die andere Seite ihres Mutes, und wenn die Wurzeln in der Erde aufbrachen und die Sonne anfing, sich über einen gewissen Dachfirst zu erheben, fieberte sie dem Frühling entgegen und genas langsam vom Winter, der ihr Finsternis und Siechtum war. Sie hatte eben auch ihre Dunkelheiten in sich, und die dunklen Stunden der Heiteren sind oft viel dunkler als die der Dunklen.

Zu Sommersbeginn konnten wir uns loslösen aus der melancholischen Existenz in der Stadt. Es war zur festen Einrichtung geworden, daß wir die Zeit vom frühen Juni bis zur Septembermitte in Ebenweiler verbrachten. Ganna kam mit den Kindern erst im Juli, nach Schulschluß, und die Wochen, die wir für uns allein hatten, waren die Glücksinseln des Jahres. Dort im heimatgewordenen Tal war es erlaubt, die brennende Welt zu vergessen. Man spottete nicht des Hochgerichts dabei, die Natur billigte es in ihrer erhabenen Gnade. Wenn der Geschützdonner im Süden dumpf herüberdröhnte, klang es wie Gottes Groll über eine Menschheit, die seine Schöpfung schändete, die Eismauern um den Gipfel waren wie zugeriegelte grüne Pforten, vor denen das Menschensterben Halt machte. Alles gehörte uns beiden, die Wälder, der See, die Bäche, die Brücken, die weißen Wege. Es gab Sternenabende, an denen das zitternde Firmament goldne Flocken auf das Bett unserer Liebe streute, und Regennächte, an denen alle Haßflammen der Erde ausgelöscht schienen. Ich wanderte hin und her, von meinem Haus zu Bettinas Haus, von Bettinas zu meinem, zu allen Stunden des Tages und der Nacht, abends, wenn die Kühe zur Tränke getrieben wurden, morgens, wenn der Bauer die Sense dengelte, der Tag hieß Bettina, die Nacht hieß Bettina, das Leben hieß Bettina.

Doch wenn Ganna da ist, muß dafür bezahlt werden. Mit unzähligen Kisten und Koffern, Rollen und Säcken rückt sie an, jedes Kind muß seine besonderen Spielsachen mithaben, für jedes mögliche Lesegelüst hat sie sich mit Büchern versorgt, es würde für fünf Jahre Einsamkeit und Kerker reichen. Ich mache ihr Vorhaltungen über das Zuviel an Transport, die Sachenüberschwemmung. Aber da komm ich schön an; warum soll gerade sie verzichten? fragt sie kampflustig; wo sind denn ihre Toiletten, ihre Hüte, ihre vierzehn Paar Schuhe, will ich ihr die vielleicht zeigen? ihren Liegesessel soll sie etwa nicht mitnehmen? ihren Schopenhauer nicht? seht mir doch diesen Mann an, der seine Frau geistig auf Wasser und Brot setzen will!

Ich hatte sie öfters flehentlich gebeten, Ebenweiler zu meiden. Sie habe doch das schöne Heim am Rande der Stadt, stellte ich ihr vor, die Kinder könnte sie mir für einige Zeit mit dem Mädchen schicken. Sie wies es entrüstet von sich. Sie lasse sich nicht verdrängen, sagte sie. Sie sei die legitime Frau. »Soll ich es dir und deiner Geliebten noch bequemer machen?« brauste sie auf; »damit die Leute glauben, ich hätte freiwillig abgedankt? Nein, den Gefallen tue ich der Person nicht. Was ihr mit mir treibt, schreit ohnehin zum Himmel.«

Bettina hatte schon im ersten Sommer ein Bauernhäuschen eine Viertelstunde von unserm entfernt gemietet. Es war unbedacht von ihr gewesen, sich in so bedrohlicher Nähe von Ganna niederzulassen. Aber sie gewann das Haus lieb und entschloß sich erst im vierten Sommer eins am andern Ende des Tals zu beziehen. Zu spät begriffen wir auch, daß es ein Fehler war, einen Ort als gemeinsame Zuflucht zu wählen, wo ich durch jahrelange gesellschaftliche Beziehungen und als bekannte Figur sozusagen unter jedermanns Aufsicht stand. Allein die Landschaft war mir teuerer als jede andere; ich dankte ihr neben der eigentlichen Heimat alles, was äußere Natur, Atmosphäre, Wasser, Stein und Pflanze einem schauenden und schaffenden Menschen zu geben vermögen; ein anderer Schlupfwinkel fand sich nicht, und hätte er sich gefunden, Ganna hätte uns in jeden verfolgt. Am ehesten durften wir dort hoffen, gestützt auf meine Vertrautheit mit den Einheimischen, als freies Paar dem sonst unvermeidlichen Anathem zu entgehen.

Ganna nahm den Vorteil wahr, der sich ihr dadurch bot. Daß wir die bürgerliche Welt herausforderten, war ein Gewinnposten für sie. Ihre Märtyrermiene erweckte das Bedauern der Menschen. Wäre sie weniger geschäftig bemüht gewesen, Partei zu bilden, Gannapartei, sie hätte noch mehr Anhänger gehabt. Gleichwohl konnte es nicht ausbleiben, daß Bettina von gewissen Kreisen verfehmt wurde. Kalte Blicke streiften sie; man tuschelte hinter ihr her; Verleumdung wirbelte auf wie Kehricht, wenn der Wind hineinbläst. An jedem zweiten oder dritten Tag wurde ihr ein herrisches Sendschreiben, eine befehlerische Botschaft Gannas überbracht. Sie aber ging darüber hinweg. Sie würdigte das alles ihrer Aufmerksamkeit nicht. Beflügelten Schrittes eilt sie dahin, ein bißchen Unrat spritzt an die Knöchel: was macht das aus? die führenden Damen laden sie nicht zu ihren Jours und schneiden sie bei Begegnungen: es kümmert sie nicht. Sie bemerkt es nicht. Manchmal gibt es ihr einen kleinen Riß; man hat ja seinen Stolz und weiß, wer man ist, aber es ist rasch verwunden, der Anblick eines Blumenbeets, eine halbe Stunde Geigenspiel genügt, es zu vergessen. Sie ist nicht die Frau, die vor den Menschen die Augen niederschlägt. Gemeinheit ist ihr unverständlich, an Klatsch hört sie vorbei, das Aufnahmeorgan fehlt. Eine ängstliche Bekannte glaubt ihr zur Vorsicht raten zu sollen; es sei doch nicht nötig, daß sie sich immerfort öffentlich mit mir zeige. Sie antwortet: »Warum nicht? wie sollen sich denn sonst die Leute daran gewöhnen?«

Bei alledem war es die brüchige Stelle in unserer Position. Wir hätten heimlicher verfahren müssen, besonnener und rücksichtsvoller. Wir hätten unser Glück nicht Ganna auf die Nase setzen dürfen. Wir haben sie dadurch schwer gereizt und verbittert. Wir haben damit eine Schuld auf uns geladen, die uns in späteren Jahren mit Wucherzinsen, hundertprozentig, abverlangt wurde. Wenn Ganna damals noch ein Gefühl der Frauenwürde in sich gehabt hat, wir erstickten es gedankenlos und achteten im Rausch des Einandergehörens der Stimme der Vernunft nicht. Gewiß, ich war längst an Ganna verzweifelt, tief und gründlich verzweifelt, hatte es längst aufgeben müssen, aus ihr eine Gefährtin zu machen, aber steckte da nicht ein Versäumnis, das fünfzehn, sechzehn, siebzehn Jahre zurücklag, und hätte ich nicht mit Gewalt oder mit Güte, mit jedem erdenklichen Opfer, reinen Tisch machen müssen, statt mich in furchtsamer Schwäche und einem aus Feigheit geborenen Pflichtbewußtsein an der Seite einer Frau hinzuschleppen, der ich und die mir nichts mehr zu geben und zu werden vermochte? Und Bettina in ihrer Hochgemutheit, ihrer Abwendigkeit von allem Trüben, Zerspaltenen, Problematischen und Finstern, schloß die Augen und ging achselzuckend daran vorüber. Ja, es war kühn, es war stark, es hatte einen edlen Trotz, aber es war nicht gut, und es half uns nicht. Es säte Unheil.

Leben der Menschen untereinander. Die Wahrheit eines jeden ist nur die Wahrheit seiner Enge. Das Gesamte der Art und der Eigenschaften läuft immer durch ein Prisma und wird dort in seinen Farben gebrochen. Sehr verschieden ist die Beobachtungserfahrung von der Leidenserfahrung, und es besteht keine Hoffnung, das grell Widerspruchsvolle jemals zu vereinen, denn das Ich und das Nicht-Ich sind Feinde vom Anfang der Welt her.


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