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»Mir scheint aber, anfangs haben Sie Ganna als... wie soll ich sagen... als Schicksalsträgerin anders eingeschätzt,« sagte Alexander, »Sie hatten doch empfunden, daß sie meine Gottesgeißel geworden war. Oder irre ich mich?« – »Natürlich nicht. Ich war damals stark beeinflußt von Ihrer Lage, von Ihrer Stimmung, habe selber alles durchs Vergrößerungsglas gesehen, und dann kam das niederschmetternde Bildnis! Ich mußte es erst in mir verarbeiten.« – »Und alles hat sich mit einem Schlag verändert, weil...« Er kehrte sich in die Richtung, wo Marie und Bettina saßen und bemerkte erklärend: »Joseph Kerkhoven hat nämlich die Gabe des zweiten Gesichts in sich entdeckt. Gannas Geist ist ihm begegnet. Ich darfs doch verraten?« Er schaute Kerkhoven an, der den Unterton von Ironie in seinen Worten nicht weiter übel nahm. Bettina ließ ein verwundertes Ach hören und heftete den gespannten Blick auf Kerkhoven. Marie schien beunruhigt. Die Sache war ihr nicht geheuer. Offenbar fürchtete sie, daß da ein Zusammenhang mit gewissen Anzeichen körperlichen Verfalls bestand, die sie in letzter Zeit manchmal an ihm beobachtet hatte. »Wie war es denn? erzähl doch,« drängte sie.
Er berichtete das seltsame Intermezzo im Eisenbahnzug mit der ihm eigenen Trockenheit. »Wieso haben Sie sie erkannt?« fragte Bettina. – »Erstaunt Sie das, nach dem Porträt, das unser Freund von ihr gemalt hat?« antwortete Kerkhoven schmunzelnd. Und er beschrieb Gannas Aussehen und Gebaren mit allen charakteristischen Zügen so treffend, daß Bettina laut herauslachte. »Sie lachen,« sagte Kerkhoven, »aber mir war, zunächst wenigstens, nicht zum Lachen. Ich muß offen zugeben, im ersten Augenblick hatte ich ein verdammt unbehagliches Gefühl. Vor allem wegen meines eigenen Zustands. War mir ja neu, diese Art von Sinnestrübung oder... Sinnestrübung ist natürlich ein total verkehrter Ausdruck, das Gegenteil ist vielleicht richtig. Und dann das Wesen vor mir... unheimlich... erinnerte mich an... Als Kind hatte ich eine grauenhafte Angst vor Fledermäusen. Jeder kennt das. Aber bei mir war es eine krankhafte Phobie. Ich glaubte, sie wühlten sich einem in die Haare und man müßte auf der Stelle sterben. Eines Abends im Freien verfiel ich in einen Schreikrampf, meine Mutter warf eine Bettdecke über mich, und man mußte mich ins Haus tragen. So überkams mich jetzt wieder. Jawohl, liebe Frau Bettina, Sie schauen mich so komisch an, aber ich bin vielleicht doch nicht ganz der eiserne Mann, den Sie in mir vermuten. Doch lassen wir das. Es ist nicht interessant. Das Interessante kommt noch. Wie ich mir das Wesen so betrachte, die Erscheinung, da sag ich mir: stimmt ja alles nicht, ist ja alles ein Fieberprodukt, da ist kein Dämon, ist keine Ate, ist keine Verkörperung des Bösen, sondern eine arme, unglückselige Person, ein Weib, wie es tausende gibt, nicht normal, nicht verrückt, harmlos im Grunde, und gefährlich nur, wenn man aus ihr etwas macht, was sie weit und breit nicht ist... Wollten Sie etwas sagen, Frau Bettina?« unterbrach er sich, da Bettina von ihrem Sitz emporgeschnellt war. Aber Bettina, als bedaure sie, ihn abgelenkt zu haben, schüttelte stumm den Kopf und nahm wieder Platz. Er fuhr fort: »Und sehen Sie, von dem Moment an vernichtigte sich die Erscheinung. Ich kanns nicht anders bezeichnen. Verkrümelte sich. Zerging wie Rauch. War in jeder Beziehung nicht mehr vorhanden.«
Jetzt war es an Alexander Herzog, aufzuspringen. In nervöser Hast lief er zweimal durch die ganze Länge des Saals, dann blieb er stehen und fragte: »Also bin ich nach Ihrer Ansicht ein Gespensterseher?« – »Ich habs dir immer gesagt,« kam es, wie von weit her, aus Bettinas Mund, »hab es dir fortwährend gepredigt.« – »Was der Zuschauer befindet, macht das Leiden nicht kleiner,« versetzte Alexander heftig. – »Als Zuschauerin war mir wohler gewesen,« murmelte Bettina mit einiger Bitterkeit. Marie legte sanft ihre Hand auf Bettinas Arm. – »Alexander meint nicht Sie, Frau Bettina, er meint mich,« sagte Kerkhoven, und Alexander Herzog stutzte überrascht, denn es war zum ersten Mal, daß ihn Kerkhoven beim Vornamen nannte. Kerkhoven trat auf ihn zu und schlug seine mächtige Pranke auf des andern Schulter. »Lieber, Verehrter,« redete er ihn an, »hier wird nicht Kritik an Ihnen geübt. Auch nicht, ich wiederhole es, an dem Geschöpf Ihrer Phantasie. Dieses wollen wir in seinem Rahmen und seiner Farbe belassen. Was uns angeht und worum wir uns zu bekümmern haben, aber ganz gehörig, ist der Mann und Mensch und Freund Alexander Herzog. Und dem sage ich: die Ganna, die wir sehen und von der wir wissen, ich spreche im pluralis majestaticus, weil ich nicht uns zufällig Anwesende meine, sondern eine gedachte Zahl, unbefangene Beurteiler, denken Sie sich meinetwegen zwei Dutzend Joseph Kerkhovens, kompetentere Joseph Kerkhovens, die sagen also: die wirkliche Ganna ist kein fürchterlicher Teufel, sie ist eine gewöhnliche, durchschnittliche, hausbackene Neuropathin, ein Schulfall.« – »Es ist falsch, es ist ein Irrtum,« gab Alexander in erregter Abwehr zurück, »gerade Sie haben sich doch immer gegen die Sammelbegriffe gewendet, hat man mir erzählt –.« – »Allerdings, aber wenn mir jeder Seelenkranke zu einem Weltuntergangssymbol würde und jeder Psychotiker zum Werwolf, der die Menschheit bedroht, wäre ich selber eine Gefahr für die Menschheit.« – »Sie übertreiben. Sie können doch den Augenschein nicht leugnen, meine blutige Erfahrung nicht. Es hat doch alles ein solches Übermaß bei dieser Frau, die Gier, die Besitzwut, die Rachsucht, die Verblendung, die Selbstgerechtigkeit, der Dünkel, der Paragraphenwahn...« – »Ich lade Sie ein, mich einmal eine Woche lang in die Ambulanz zu begleiten,« erwiderte Kerkhoven ruhig; »ich werde Ihnen Männer und Frauen, junge und alte, vorführen, kann es Ihnen statistisch nachweisen... unter dreißig Fällen zehn manisch Besessene, fünf oder sechs Halbverbrecher, die übrigen notorische Querulanten, unheilbar Seelenblinde, Menschen, die von einem geheimnisvollen Haß gegen ihre Nächsten verzehrt werden, Leute, die genau so aussehen wie irgendein Beliebiger, der Ihnen auf der Straße begegnet, und die von gräßlichen Vernichtungsgelüsten heimgesucht werden, die an nichts denken als an Mord, verkappte Sadisten, Selbstquäler, die nur noch dadurch vegetieren, daß sie ihre Brüder, Schwestern, Mütter und Gatten quälen... ich habe Ihnen ja, glaube ich, von der Selma Imst erzählt... auch so ein Fall... und so geht das Tag für Tag, und ginge, wenn meine Zeit ausreichen würde, auch Nacht für Nacht, eine ununterbrochene Parade von Zerrütteten, ein Heerlager des Wahns und dabei nur ein verschwindend kleiner Ausschnitt, eine Kompagnie in einer ungeheuern Armee.« Er ging herum, die Hände auf dem Rücken, den Kopf gesenkt. »Ich will zugeben,« sprach er weiter, »daß der Fall Ganna Herzog durch eine gewisse Häufung von Wahnhandlungen auffällt. Es wäre aber ein Fehlschluß, wollte man deshalb seinen typischen Charakter bezweifeln, seine Alltäglichkeit, seine vergleichsweise Unbeträchtlichkeit. Denn diese Häufung, dieses Übermaß, wie Sie es nennen, wie sind sie denn entstanden? Wer hat es denn mit allem Fleiß und Eifer dahin gebracht? Wo ein Explosivkörper ist, muß ein Chemiker sein, der die Stoffe gemischt hat. Dieser Chemiker waren Sie, einzig und allein Sie.« – Alexander Herzog stand wie in den Boden gewurzelt. »Wenn Sie noch eine Weile so fortfahren,« entgegnete er tonlos, »werden Sie behaupten, ich hätte Ganna auf dem Gewissen, was Ihnen jedenfalls Gannas begeisterten Dank eintragen wird.« – »Verzeih, mein Lieber, aber was du da redest, ist Unsinn,« sagte Bettina, »Professor Kerkhoven mißt dir ja keine bewußte Schuld bei...« – »Wieso nicht? was sonst?« – »Es handelt sich um die Wechselwirkung bestimmter Eigenschaften und daß man die Augen davor schließt... daß man nicht aufmerkt... hab ich Recht?« Sie sah Kerkhoven fragend an. – »Ja, Sie haben Recht, Bettina,« antwortete Marie an Stelle ihres Mannes; »ich glaube, Joseph meint, daß jedes Verhältnis zwischen Menschen sich nach einem System gegenseitiger Entsprechung regelt.« – Kerkhoven nickte. »So ist es,« pflichtete er bei, »es ist tatsächlich der zentrale Punkt. Sehen Sie, Teurer, da ist zum Beispiel Ihr Zusammenbruch wegen des Bucheggergutes. Gewiß, man hat Ihnen schon vorher grausam zugesetzt, und es war sozusagen der letzte Stoß. Trotzdem scheint mir der große Kummer um diesen Verlust nicht gerechtfertigt. Wenn Ihr Helmut Tränen vergießt, weil er nicht mehr in sein Hausli zurückdarf, gut, das läßt sich verstehen, obgleich es eine gefährliche Weichheit verrät bei einem Kind, eine gefährliche Weltangst vor allem... aber Sie! Denken Sie einmal nach...« – »Da ist nichts nachzudenken,« fiel ihm Alexander fast zornig ins Wort, »das Stück Erde dort war mein Um und Auf im Leben... Am Morgen, wenn ich die Fensterläden im Schlafzimmer aufgemacht habe, stand die Buche wie eine grüne Mauer da, wie ein konzentrierter Urwald... und die silberblätterigen Birken, und die jahrhundertalten Ahornbäume, einer teilte sich in fünf Stämme und sah aus wie die Finger einer Riesenhand... und die Blutbuche... und der Nußbaum und die vielen Eichhörnchen im Herbst... erinnerst du dich, Bettina?... und der Christusbaum, der schon ein wenig morsch war... und die Dahlien und die Rosen... draußen die Bergwände, in meinem Arbeitszimmer die Bücherwände, es war Schutz vor allem Unglück, es war beinahe Schutz vor dem Tod...« Er hielt inne und sah Kerkhoven und die beiden Frauen der Reihe nach an als wundere er sich, daß er ihnen dies erst begreiflich machen mußte, daß sie es nicht wußten und in ihrer Unwissenheit sein Gefühl verkannten. Und alle drei betrachteten ihn schweigend.
»Du weißt sehr gut, daß wir das Haus ohnehin nicht mehr hätten halten können,« sagte endlich Bettina, »mich haben die Sorgen nicht mehr schlafen lassen, und du hättest deine ganze Schaffenskraft hingeben müssen – für eine schöne Illusion.« – »Demnach wäre ja Ganna ein Werkzeug des Himmels gewesen,« versetzte Alexander bitter; »das heiß ich keine Illusion, wenn man sieht und spürt, was man hat und es innerlich wahrhaft besitzt.« – Da sagte Marie zaghaft: »Es ist wohl Ihre sinnliche Natur, Alexander, die Sie so stark an die Dinge verhaftet. Und daß Sie sie leibhaftig zu eigen haben wollen, Bäume, Wege, Landschaft. In Ihrer Jugend waren Sie so wundervoll unabhängig und dann haben Sie sich mehr und mehr an die Sachen verdungen. Woher kam das?« – »Von Ganna kam es,« rief Kerkhoven, ehe Alexander antworten konnte, »nur von Ganna. Doch klar. Sie haben vorhin von Gannas Besitzgier gesprochen. Da besteht eine Ursachenverbindung.« – »Wie soll ich das verstehen?« fragte Alexander unsicher; »Sie meinen, wenn ich nicht so mit allen Fasern an dem Besitz gehangen hätte...« – »Genau das will ich sagen. Es gibt ein Gesetz der korrespondierenden Seelenbewegungen. Sucht weckt Eifersucht. Widerstand gegen die Gier macht gierig. Streit um Habe erniedrigt. Sie sind nicht der Mann des Habens. Es ist nicht Ihre Bestimmung, es steht nicht in Ihrem Stern geschrieben. Alle Sachen, um das Wort meiner Frau zu gebrauchen, haben eine Seele, und zwar eine richtig dämonische, den Menschen feindlich gesinnte Seele. Während sie sich scheinbar an ihren Eigentümer klammern, verraten sie ihn an den, der sich ihnen noch bedingungsloser verkauft. Deshalb steht auch hinter jedem Besitz die Schuld. Wissen Sie das nicht? Selbstverständlich wissen Sie es.«
Alexander hatte sich vor den Kamin hingekauert, die Ellbogen auf die Knie, den Kopf in die Hände gestützt. Kerkhoven ging zu ihm hin und zog ihn empor. »Nun wollen wir Sie aber nicht länger quälen,« sagte er gütig, »kommen Sie, lassen wir die Damen allein, ich begleite Sie, Sie müssen jetzt Ruhe haben.« Er schob seinen Arm unter den Alexanders und verließ mit ihm den Raum.