Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Die Gemütskrankheit der Emilie Thirriot äußerte sich seit ungefähr drei Jahren in steigendem Maße als eine nicht gewöhnliche Form von Bewußtseinsverwirrung und Selbstpeinigung. Sie hatte eine siebzehnjährige Tochter und bildete sich ein, die Hebamme habe ihr bei der Geburt ein falsches Kind unterschoben, und zwar ein Mädchen statt des Knaben, den sie nach ihrer Meinung zur Welt gebracht hatte. Den Namen der Hebamme hatte sie vergessen, da sie in einer Gebäranstalt entbunden hatte, hingegen war in ihrem Gedächtnis ein Bild der Frau haften geblieben, ein von ihr erfundenes freilich, viel mehr zwei oder drei Einzelheiten eines Bildes; sie glaubte sich eines Kapotthütchens mit rosa Bändern zu erinnern, sodann schwarzer russischer Röhrenstiefel; immerhin eine wunderliche Kombination, aber das waren eben die Merkmale ihres Zustands. Eines Tages begann sie überall nach der schuldigen Hebamme zu suchen. Sie sammelte auf der Straße und in allen Mülleimern alte Zeitungsfetzen mit Inseraten, fragte in den Spitälern herum, machte polizeiliche Anzeigen und schlurfte in Filzschuhen tagelang durch die Stadt, um nach weiblichen Personen auszuspähen, die ein Kapotthütchen und Röhrenstiefel trugen. Oft faßte sie Verdacht und sprach fremde Leute an, lief, wenn sie sich abkehrten, hinter ihnen her und beschimpfte sie, sodaß sie schließlich zur Beobachtung ihres Geisteszustandes interniert wurde. Da man sie nicht als gemeingefährlich bezeichnen konnte, ließ man sie nach einer Weile wieder frei, betraute aber vorsichtshalber einen jungen Psychiater mit ihrer Beobachtung. Der nahm dann die bedenklichen Symptome an ihr wahr, die sich mit der Zeit immer stärker herausbildeten und zu ihrer dauernden Anstaltsbehandlung führten. Sie war sehr arm und lebte mit ihrer Tochter, die in einer Fabrik arbeitete, in einer Zweizimmerwohnung mit Küche. Es fiel auf, daß sie das Zusammensein mit der Tochter mied wie man die Gesellschaft eines Menschen meidet, den man vor Ansteckung schützen will. Beim Sprechen sah sie ihr nie ins Gesicht; wenn jene ins Zimmer trat, verkroch sie sich in einen Winkel, wurde bleich und zitterte; nichts, was dem Mädchen gehörte, berührte sie, kein Kleidungsstück, den Stuhl nicht, auf dem das Kind saß, das Bett nicht, worin es lag. Von einem gewissen Tag ab weigerte sie sich, die gemeinsamen Mahlzeiten zu kochen, wie sie bis dahin getan. Sie hatte sich beim Kartoffelschälen in den Finger geschnitten. Mit den Zeichen ungeheuerster Aufregung lief sie zur Wasserleitung, wusch das Blut ab und, als die Wunde längst nicht mehr blutete, rieb sie noch immer mit Bürste und Seife krampfhaft ihre Hände. Sodann warf sie sämtliche Kartoffeln ins Herdfeuer, die geschälten und die ungeschälten, das Messer, mit dem sie sich verletzt, und als sie auf dem Fußboden einen Tropfen Blut wahrnahm, holte sie Schaff und Lappen herbei, kniete hin und begann keuchend und mit erstickten Seufzern so lange zu schrubben, bis jede Spur des Bluts verschwunden war. Hier, wie bei verschiedenen andern, ähnlichen Anlässen, machte sie den Eindruck eines Menschen, der von seinem bösen Gewissen bis zur Unerträglichkeit verfolgt wird.
Es war ein Rätsel, vor dem die Ärzte kopfschüttelnd standen. Die Angstzustände häuften sich. Sie wurden eine Gefahr für das junge Mädchen, das nicht mehr wußte, was es von der Mutter denken sollte, wenn diese zu wimmern und zu heulen anfing, sobald das Kind in ihre Nähe kam. Man mußte trachten, Mutter und Tochter von einander zu trennen. Ein Bruder der Frau, der in Friedrichshafen lebte, fuhr nach Kolmar, um sie zu holen. Nach einiger Zeit brachte er sie dann in die Klinik. Von dort, wie schon berichtet wurde, übernahm sie Kerkhoven. Zunächst sah auch er sich vor einer Unerklärlichkeit. Eine dunkle Seele, nicht aufschließbar, beladen mit einer Angst, die uralt schien, wie von den Ahnen her. Er ging behutsam vor. Seine Fragen zogen anfangs einen weiten Kreis, ehe sie sich ins Persönliche und Erlebte wagten. Allmählich erkannte er, daß es sich um ein tief verlagertes Phänomen des Wahnlebens handelte. Schicht um Schicht tat sich auf. Wieder einmal enthüllte sich das scheinbar Einfache, ja Erdhafte, als das Verworrenste und Nächtigste. Indem er ihr, fast spielend, ein Interesse für ihre Person einflößte wie für die Heldin einer spannenden Geschichte, machte er sie neugierig auf ihre eigene Vergangenheit und auf verborgene Regungen ihres Gemüts. Er drückte ihr gleichsam die Schaufel in die Hand, mit der sie grub. (Aber mißverstehen wir seine Absichten nicht; das Ziel war nicht, wie bei gewissen Schulen von Aufgräbern, daß die unterirdischen Bestände als Schutt zutage kamen, der fortgeräumt werden sollte, sondern als Baumaterial, das, weil verschüttet, sich bis nun der Verwendung entzogen hatte, ein von dem üblichen grundsätzlich abweichendes Verfahren.)
Der Wahn war schrecklich genug. Sie glaubte, ihr ganzer Körper bestehe aus Gift, insonderheit Speichel, Blut und Atem und alle Ausscheidungen, und dieses Gift wirke sich lediglich gegen die leibliche Tochter aus. Ihre organische Beschaffenheit, so nahm sie an, war derart, daß sie unweigerlich und ohne daß sie das geringste dazutat, den Tod der Tochter herbeiführen müsse, daß sie also zu irgendeiner Zeit, es konnte morgen, es konnte in einem Jahr geschehen, zur unfreiwilligen Mörderin des jungen Mädchens werden mußte, eben durch jene fürchterliche Eigenschaft ihrer giftigen Natur. Deshalb hatte sie das Blut mit solchem Entsetzen von ihren Händen gewaschen; deshalb räumte sie alle Dinge, die sie angerührt hatte, aus dem Weg, wenn ihr das Kind vor die Augen kam. Auf einer oberen Stufe des Wahns war sie überzeugt, ihr Kind zu lieben, mit einer aufrichtigen, mütterlichen Liebe; in Wahrheit jedoch lag unter dieser Decke von Liebe ein unergründlicher, elementarer Haß, der von ihrem Bewußtsein allerdings abgedrängt war, der aber mit den Jahren ihr Leben zerrieben und ihr durch den Konflikt zwischen Vernichtungswunsch und weiblicher, menschlicher Pflicht das Dasein zur Folter gemacht hatte.
Geheimnisvolle Finsternis, die die stumme Menschenseele aus sich heraus gebiert! War das Verlangen nach dem Knaben und die Enttäuschung über die Tochter der unterste Grund der Verstörung? Zweifellos gibt es Frauen, in denen der Wille zum Sohn gebieterisch wie ein Naturgesetz ist, und die sich von der göttlichen Ordnung betrogen fühlen, wenn sie ihr Leib darum betrügt. Dann war auch die Suche nach der Hebamme mit dem Kapotthütchen und den russischen Stiefeln nur ein Vorwand, um dem Geschick einen Schuldigen entgegenstellen zu können, denn aufgehäufte Schuldenrechnung und Abwälzung der Verantwortung ist das Kennzeichen fast jedes Wahns, und daß sie diesen Schuldigen, eine Schattenfigur ohne Gesicht und Namen, nur mit den äußeren Attributen einer Karrikatur versehen, nicht zu finden vermochte, zwang ihre kranken Sinne in die Bahn der Selbstvernichtung, eine so umwegige und abstruse, wie keine Vernunft es erdenken konnte. Aber wahrscheinlich lag alles noch viel weiter zurück als Erinnerungen, Bilder und Eindrücke reichten; weiter als die unglückliche Ehe, über die sie nur spärliche Andeutungen machte, so als ob der Mann sie an Stelle einer Andern geheiratet hätte; daher auch die Wahnidee von den vertauschten Kindern; bis auf die Mutter zurück, die sie in früher Jugend zu fremden Leuten gegeben; bis in die Geschlechter zurück, harte Bauern und Handwerker, die ihres Glaubens wegen verfolgt aus Frankreich hatten fliehen müssen und sich erst nach der Revolution wieder in der elsäßischen Heimat niedergelassen hatten. In jedem Einzelleben verkörpert sich ein Teil der Stammes- und Volksgeschichte ; was eine Familie in Jahrhunderten erlitten und erfahren hat und alle ihre Zugehörigen schweigend mit ins Grab genommen haben, kommt plötzlich und ohne ersichtlichen Grund in einem sonst ganz unbedeutenden Glied der Kette zum Ausbruch, und in einem solchen Fall pflegt die Natur gerade das ahnungslose oder gedächtnislose Individuum gleichgiltig zu opfern.
Von Aussehen war sie eine rundliche, freundlich dreinblickende, sauber gekleidete Frau von etlichen vierzig Jahren, an der nur die katzenartig bernsteingelben Augen auf etwas Ungewöhnliches hindeuteten. Diese Augen konnten einen Ausdruck annehmen wie man ihn bei Menschen trifft, die mit dem zweiten Gesicht begabt sind. Kerkhoven war sehr bald darauf aufmerksam geworden und hatte beschlossen, dem Anzeichen nachzugehen. Er beobachtete sie heimlich, und wenn sie ihm zuerst, in ihrer kranken Einbildung als sei sie eine vom Schicksal gezeichnete Mörderin, wie eine jener Spukgestalten erschienen war, derengleichen in Grimmschen Märchen vorkommen, mythische Unholdin, Koboldwesen mit einem Zug finsterer Gemütlichkeit; so zeigte sich dann, infolge einer unmerklichen Drehung gleichsam oder durch den Pendelausschlag nach der andern Seite, das Gegenbild, von einer übernatürlichen Fähigkeit getragen, übernatürlich im Sinn der Ratio-Menschen und der Zweimalzweiistvier-Leute, die noch immer in banaler Zweifelsucht belächeln und zu leugnen bestrebt sind, was ein Mann wie Kerkhoven, zur Genüge belehrt über die Ausweitbarkeit der menschlichen Seelenkräfte, längst nicht mehr zu den Wundern rechnete. Sein Staunen galt dem speziellen Fall. Es war tatsächlich etwas wie Umkehr einer Wahngebundenen unter Abstreifung des kranken Ichs.