Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Es handelte sich um Neidhardts Enkelin. Sie war als Sechzehnjährige bei einem übermütigen Spiel mit Freundinnen von einer Leiter gestürzt. Seitdem, seit sechseinhalb Jahren, lag Johanna gelähmt im Bett, Sie konnte kein Glied rühren. Sie lag auf dem Rücken, den Blick nach oben gerichtet, Tag und Nacht, denn sie schlief nur wenig, auch nahm sie nur flüssige Nahrung zu sich, ein halbes Glas Milch im Tag, manchmal etwas verdünnten Honig. Die Ärzte konnten den Sitz des Leidens nicht erkennen. Es wurde eine sogenannte Motilitätsstörung angenommen.

Es gab Zeiten, wo sie frei von Schmerzen war. In einer solchen Periode, die schon wochenlang dauerte, lernte Marie sie kennen. Als sie sie zum ersten Mal auf dem schmalen Lager sah, die zu Skeletten abgemagerten, förmlich ausgedörrten weißen Hände über der Brust gefaltet, den schönen, großen, geduldigen Blick auf sich ruhen fühlte, war sie tief bewegt. Sie konnte aber damals noch nicht wissen, welche Kräfte in dem Mädchen schlummerten. Krankheit, Siechtum, langsames Hinsterben und der Heroismus, mit dem der Geist es auf sich nimmt, das war schließlich nichts Außerordentliches; hier kam noch etwas anderes hinzu.

In der zweiten Septemberwoche traten wieder die Schmerzen auf. Sie waren so furchtbar, daß die Kranke zeitweilig ohne Besinnung schien. Die Arme verdrehten sich unter Konvulsionen, der Nacken wurde steif, das Gesicht grau wie Asche. Medikamente zu nehmen, hatte sie sich seit jeher geweigert; der Großvater hatte ihr feierlich versprechen müssen, daß er sie niemals durch irgendwelche Mittel betäuben lassen werde. Sie klagte nicht, auch bei unerträglicher Qual nicht. Im Gegenteil, eine seltsame Heiterkeit verbreitete sich dann über ihre Züge. Am ersten Tag ließ man Marie nicht zu ihr; der alte Mann ging fortwährend im Hause herum und murmelte Gebete. Erst am Abend des zweiten Tags durfte sie zu Johanna ins Zimmer. Die Petroleumlampe war mit einem Tuch verhängt. In der Ecke saß eine Klosterschwester, regungslos wie eine Wachsfigur. Kaspar Neidhardt stand in der geöffneten Tür und sprach das Vaterunser. Zwei Schritte vor Johannas Bett verharrte Marie wie an den Boden gewurzelt. Ein inbrünstiges Lächeln belebte die Züge des Mädchens. Jedes Anwachsen des Schmerzes, und man spürte es wie durch Übertragung, wenn dies der Fall war, verstärkte die Glut dieses Lächelns. Es hatte etwas Unirdisches. Unirdisch: noch nie war Marie der abgebrauchte Begriff so sinnfällig geworden.

Ähnliche Erscheinungen sind bekannt. Wir wissen von Steigerungen angeblich krankhafter oder abnormer Seelenzustände an der Grenze des Mystischen, die für die Wissenschaft so wenig zugänglich sind wie für die gewöhnliche Erfahrung. Bei Johanna war es noch nicht dieses Äußerste, Weltgelöste, wo der Mensch durch das Leiden in eine neue Form hinübergeführt wird. Sie hatte bis jetzt die Bindung an ihre Umgebung keineswegs verloren. Sie war weder entrückt noch ereigneten sich irgendwelche Wunder mit ihr. Das Lächeln jedoch, das die übermäßigen Qualen auf ihr Gesicht zauberten, stammte immerhin aus einer fremden Region. Es war von einer Beschaffenheit, daß sich Maries Vorstellung von dem, was ein Mensch innerlich über sich vermag, grundlegend änderte. Nicht als wäre sie plötzlich andern Sinnes und andern Strebens geworden; so gehen ja diese Dinge nicht vor sich. Es vollzieht sich eine leise Ablenkung, ein Einbiegen in einen neuen Weg, der scheinbar noch die Richtung des früheren hat und sich nur sehr allmählich wendet. Marie war noch zu nah ihren Bedrängnissen, zu nah der Angst, als daß es mehr hätte sein können denn ein kleiner Schritt gegen das Geheimnis hin, das noch tief in ihrer Ahnung und in ihrem Gewissen ruhte.

Das eben zeigte sich am folgenden Morgen, als sie in der Kirche saß, während der alte Neidhardt im Chor spielte. Er war die ganze Nacht über wach gewesen. Marie war um elf Uhr abends nachhause gegangen, seitdem war er nicht mehr von Johannas Bett gewichen. Am Vormittag sprach er davon, daß er in die Kirche gehen wolle. Was das bedeutete, wußten seine Leute. Wahrscheinlich bestand ein Zusammenhang zwischen den Schmerzparoxismen der Gelähmten und diesem spontanen Bedürfnis, sich in der Musik von seiner Herzensnot zu befreien. Marie saß mit ihren Kindern gerade beim Frühstück, als die Klänge der Orgel in das Zimmer des kleinen Gasthauses drangen, in dem sie wohnte, fünf Minuten Wegs von der Kirche entfernt. Sie erhob sich hastig und eilte hinüber.

Und da geschah es, daß sie sich wehrte und verschloß gegen die Wirkung der Musik als sei es eine unzulässige Verführung und Betörung; als sei sie nicht fähig, in den überweltlichen Sinn der Töne zu dringen und als sei der weltliche nur genießerisches Mißverstehen; als dürfe kein sinnlicher Rausch, keine wollüstige Harmonie an die Entfaltung des zarten Keims hinrühren, von dem sie noch nicht wußte, welchen Raum, welche Wurzeltiefe er in ihrem Innern brauchte. Man muß aufmerksam sein, war ihr Gefühl, man darf sich nicht dort hingeben, wo das eingelullte Herz sich sein Tun abschmeicheln läßt; Standhaftigkeit ist nötig, Gegenwart ist nötig, Unrührbarkeit gegen das was lockt und schwächt und aufweicht.

Sich diesem Gebot zu unterwerfen, fiel ihr schwer; sie war ja eine lyrische Natur, abhängig von Träumen. Sie liebte nicht nur die Musik, sie verstand auch etwas davon, hatte sich nie leer schwärmend von einem Tongewoge tragen lassen. Schönheit war ihr ein Lebenselement gewesen; ohne die Kunst war ihr die Welt blütenlos erschienen; wenn sie eine Zeitlang den Anblick schöner Bilder und Plastiken hatte entbehren müssen wie in den Jahren auf Lindow oder nicht die Muße, die Kraft gefunden hatte, sich in eine Dichtung zu versenken, war ein quälender seelischer Hunger über sie gekommen. Die Schranke, die sich nun in ihrem Innern dagegen aufrichtete, überraschte sie selbst. Es war der Ruf nach Bewahrung. Sie hatte es oft genug an sich erlebt, daß die ausschweifende Hingabe an das Schöne von den Menschenverpflichtungen entbindet und auf Gewissenseinschläferung hinausläuft.

Nachher war sie schlechter Verfassung. Ihre Nerven waren so gespannt, daß sie das Geplauder der Kinder nicht ertrug. Es ist die Sehnsucht, dachte sie, es kann nichts anderes sein. Aber wenn sie sich genauer prüfte, lag unterhalb der Sehnsucht das dunklere Gefühl, eine drückende Ungewißheit und Unsicherheit als ob sie einen schweren Verlust erlitten hätte und es noch nicht wüßte. Gegen Abend trat sie an Johannas Bett; am liebsten wäre sie hingekniet, um von der Siechen Trost zu erflehen. Das Mädchen lag noch immer in schmerztrunkener Verlorenheit, doch hatten die Krämpfe nachgelassen. Auf einmal heftete sie den geisterhaft strahlenden Blick auf Marie. Es war ein tiefer Mitleidsblick, schwesterlich, seherisch, und da wußte Marie, daß sie in einer bestimmten Gefahr schwebte, daß mit Joseph etwas geschah oder geschehen war, was unheilvoll in ihrer beider Leben eingriff. Von Sorge verdüstert schickte sie eine Kabeldepesche an ihn. Es war sonst nicht ihre Gewohnheit, den telegraphischen Apparat zu bemühen. Drei unerträgliche Tage vergingen, bis seine beruhigende Antwort kam. Ihre Bangigkeit verminderte sich dadurch nicht. Fast mit Schrecken erkannte sie die Leidenschaftlichkeit ihres neuerwachten Gefühls. Wieder wehrte sie sich, wollte sich retten vor dem Süßen und Betäubenden, aber diesmal umsonst.


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