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Begonnen hatte das Gespräch damit, daß sich Kerkhoven mit großer Lebhaftigkeit nach Alexander Herzog erkundigte und Bettina den Eindruck schilderte, den ihm damals in Freiburg die Herzogsche Vorlesung gemacht. Dann erwähnte er, daß ihm das unendlich zerquälte Aussehen des Mannes aufgefallen sei und fragte Bettina, ob dafür eine bestimmte Ursache vorhanden gewesen. »Nicht nur gewesen,« antwortete sie, »die Ursache besteht noch immer.« Zögernd und mit halben Worten berichtete sie von einem organischen Leiden, das er sich infolge jahrelanger schwerer Aufregungen zugezogen. Und als Kerkhoven wie beiläufig hinwarf, auch sie biete nicht eben ein Bild strahlender Gesundheit, sie wirke mehr als angegriffen, wirke gleichgewichtslos, streifte ihn ein schneller Blick aus grüngrauen Augen; sie zuckte apathisch die Achseln und murmelte: »Wärs anders, es wäre ein Wunder.«
Sie war sichtlich gehemmt. Vor allem durch den Zweifel, ob sie sich eine Offenheit, die sich als unbedacht erweisen konnte, durchgehen lassen dürfe; dann durch die Erwägung, daß der Mann, der ihr so ungewohnten Anteil bezeigte, Mitwisser und Mitträger von allzuvielen Menschenleiden sein mußte. Sie sah es ihm an. Nach und nach faßte sie Mut, und endlich hatte sie überhaupt keine Bedenken mehr. Wie das zuging, war ihr rätselhaft; sie mußte sprechen. Sie mußte alles, alles sagen. Sie konnte sich nicht helfen, es war wie ein Sturzbach, aufgestaut seit unerträglich langer Zeit. Und während sie es in hastige, fliegende Worte kleidete, kam es ihr so unglaubwürdig, so unwahrscheinlich, so toll phantastisch vor, daß sie sich beklommen fragte, ob sie der Mann nicht für eine hysterische Lügnerin halten würde, trotzdem sie sich nicht annähernd imstande fühlte, das Erlebte in seinem ganzen Umfang wiederzugeben, weder in der Reihenfolge, noch in den Verursachungen. So oft sie einen prüfenden Blick in sein Gesicht warf, wurde sie unsicher. Meist hielt er den Kopf gesenkt und die Augen halb geschlossen. Seine Finger sammelten unsichtbare Brotkrumen auf der Glasplatte des Tisches. Bisweilen nickte er ihr zu, mit einem Ausdruck als wisse er alles schon seit hundert Jahren.
»Nun haben Sie einen ungefähren Begriff,« sagte sie nach zweistündigem atemlosen, halblauten Erzählen; »mein Leben heißt Ganna. Alexander Herzogs Schicksal heißt Ganna. Unser beider Unglück heißt Ganna.«
Er dachte nach. Dann fragte er sie, ob sie einen Brief von der Frau habe, etwas von ihrer Hand Geschriebenes. Sie besann sich; ja, sie hatte einen Brief. Sie öffnete ihre große Ledertasche, durchwühlte sie und brachte einen kuvertierten Brief zum Vorschein, den sie aus dem Umschlag zog und Kerkhoven reichte. Er hielt den aufgefalteten Bogen vor sich hin und betrachtete, ohne zu lesen, die großen spitzigen eiligen Buchstaben, denen etwas unheimlich Fanatisches anhaftete. Er las, begann von vorn, las zur Hälfte, verdeckte einen Teil des Blattes mit seiner riesigen Hand und schaute dann wie träumend in die Luft, wobei seine Züge sich verfinsterten. Plötzlich fragte er unerwartet: »Haben Sie Nachricht von Ihrem Gatten?« – Bettina fuhr zusammen. »Nachricht? Nein. Warum?« – »Seit wann sind Sie von zuhause fort?« – »Seit sechs Tagen. Warum?« – Da sagte er mit ebenso unerwarteter Bestimmtheit: »Ich weiß nicht, ob es richtig war, daß Sie ihn in diesem Moment allein gelassen haben.« – Sie wurde um eine Schattierung blasser. »Ich konnte nicht mehr weiter,« flüsterte sie.
Sie war darüber verstimmt, daß er den Schwerpunkt seines Interesses in die Richtung verlegte, wohin sie ihm, in einem Gefühl alt- und starrgewordenen Trotzes, nicht folgen mochte. Jetzt nicht. In dieser Stunde nicht. Lang genug war sie nicht vorhanden gewesen. Jetzt wollte sie einmal vorhanden sein. Er erriet, was in ihr vorging. Er schüttelte bedächtig den Kopf und sagte ernst: »Ich verstehe Sie ausgezeichnet.« – Sie atmete erleichtert auf. »Haben Sie denn Grund zu Befürchtungen?« forschte sie widerstrebend und ihrer eigenen Sorge gleichsam den Rücken kehrend. – »In Bezug auf ihn? Allerdings, gnädige Frau.« – »Und was raten Sie mir zu tun?« – »Das läßt sich so rasch nicht sagen.« – »Finden Sie es falsch oder unüberlegt, daß ich mich Ihnen anvertraut habe.« – Er legte seine Hand, eigentlich nur die Fingerspitzen, auf ihren Arm. »Ich bitte Sie. Ich bitte Sie...« – Sie murmelte: »Man denkt nicht nach. Brandschatzt die Zeit eines andern Menschen. Es ist sonst nicht meine Art.« – »Ich bitte Sie,« wiederholte er etwas ungeduldig; »beruhigt es Sie, wenn ich Ihnen sage, daß ich keine eigene Zeit besitze?« – »Umsomehr muß man aufpassen,« antwortete Bettina. Sie schlang die Hände um die Kniee und beugte sich vor. »Komisch,« flüsterte sie, »erst jetzt spür ich, es war der allerkritischste Augenblick.« – »Das ist immer so, gnädige Frau.« – Sie sah ihn fragend an, von unten her. – »Es handelt sich um Sekrete, wenn Sie es im Doppelsinn nehmen,« erklärte er in leichtem Ton; »es gibt ein Organ in Ihnen, das die Katastrophe unterdrücken will.« – »Sie glauben also an eine Katastrophe?« – »Ich kann mich dem Eindruck nicht entziehen. Hauptsächlich, wie gesagt, im Hinblick auf Alexander Herzog.« – Es war Bettina als rutsche ihr Herz ein Stück herunter. Offenbar war sie eines Versäumnisses schuldig. Sie hatte sich das Entscheidende nicht klargemacht. »Können Sie denn helfen?« stammelte sie und erschrak vor ihrer eigenen Kühnheit. – Er lächelte etwas zurückhaltend. – »Ich weiß, es ist eine alberne Frage,« fuhr sie schüchtern fort, »aber liegt das überhaupt im Bereich menschlicher Macht?« – »Menschliche Macht ist gering und ist unbegrenzt,« erwiderte er. »Soviel ich bis jetzt sehe, ist es ein ziemlich einzigartiger Fall, so typisch er wieder in anderm Betracht ist. Nur...« – »Nur?« – »Es ist besser, Sie dringen jetzt nicht in mich. Ich muß es mir sorgfältig überlegen. Ich weiß noch zu wenig. Alles was ich weiß ist, daß dieser Mann gerettet werden muß.« Da sich Bettinas Gesicht jäh verfärbte, fügte er hinzu: »Und er kann nur gerettet werden, wenn Sie...« Er blickte sie fest an, mit einem Ernst, der ihr durch und durch ging. Ihr wurde kalt im Rücken. Sie hatte Lust, aufzustehn und wegzugehen. Er fragte so leise, daß sie die Worte nur mit den Nerven vernahm: »Ich vermute, Sie lieben ihn nicht mehr?« – Bleich, verstört starrte sie ihre Fußspitzen an. »Das... wie kann man... o nein... das läßt sich doch nicht...« Sie brach ab und senkte den Kopf noch tiefer.