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Es war in den letzten Junitagen, als zwei Ereignisse mit besonderer Wucht auf ihn eindrangen. Sie beraubten sogar ihn für eine Weile des inneren Gleichgewichts und führten in der Folge zu einer Entdeckung, die jeden andern Mann gelähmt und bewogen hätte, sich aller seiner Geschäfte schleunigst zu entledigen, um sich vor der drohenden Gefahr zu retten. Bei ihm bewirkte sie das Gegenteil.
Wir wollen die Vorgänge der Reihe nach erzählen.
An einem Dienstag Mittag fuhr er nach Zürich hinüber, wo er in der Dufourstraße ein bescheidenes Absteigquartier hatte. Dort warteten bereits mehrere Leute auf ihn, die ihn mit ihren Angelegenheiten schon seit längerer Zeit in Atem hielten. Während er den letzten abfertigte, brachte der Postbote ein eingeschriebenes Paket, auf dem als Absender Alexander Herzog genannt war. Er wog es einen Augenblick in der Hand und legte es uneröffnet auf den Tisch in seinem Schlafzimmer, um in der Nacht mit der Lektüre zu beginnen; daß es sich um die von ihm angeregten Aufzeichnungen des Schriftstellers handelte, unterlag keinem Zweifel. Er war im Voraus gespannt und trug die äußere Spannung den ganzen Rest des Tages mit sich herum, ungefähr wie wenn man auf eine bedeutsame Nachricht vorbereitet ist, deren Wortlaut und Tragweite man noch nicht kennt.
Es wurde fünf Uhr bis er in die Nervenklinik kam. Auch dort war das Vorzimmer mit Wartenden gefüllt, und als er sich endlich in den Präpariersaal begab, um verschiedene wichtige Untersuchungen zu machen und Untersuchungsresultate zu begutachten, war es halb acht. Er blieb bis neun. Für halb zehn hatte er die Schreiberin in die Dufourstraße bestellt, er war pünktlich zuhause und diktierte bis dreiviertel zwölf an seinem großen Werk. Ehe das junge Mädchen fortging, kochte sie ihm Tee und richtete einen kalten Imbiß her. Kaum hatte er sich zu Tisch gesetzt und in Hast ein belegtes Brot hinuntergeschlungen, als es draußen läutete. Die Wohnungsinhaberin war schon schlafen gegangen, er mußte selber hinaus, um zu sehen, wer es war. Er öffnete die Flurtür, vor ihm stand eine junge Person, in der Hand einen flachen Reisekoffer. Im Halblicht starrte er ungewiß in das Gesicht der späten Besucherin und machte eine Bewegung als traue er seinen Augen nicht. Es war Aleid Bergmann, Maries Tochter aus erster Ehe. »Was ist geschehen? wo kommst du her?« fragte er verdutzt und zog sie an der Hand ins Zimmer.
Sie stellte das Köfferchen auf einen Stuhl, riß den Stoffhut vom Kopf, schüttelte die Haare und sagte in ihrer burschikosen Weise: »Guten Abend, Onkel Joseph. Nimm mir den mitternächtlichen Überfall nicht übel. Ich konnte nicht anders. Du mußt mir helfen. Ich komme direkt von Dresden, hab hier auf dem Bahnhof nach Seeblick telephoniert und erfahren, daß du in Zürich bist. Und da bin ich. Aber verzeih, ich sterbe vor Hunger und Durst. Darf ich?« Ohne seine Antwort abzuwarten, nahm sie am Tisch Platz, schenkte sich Tee ein und verzehrte heißhungrig alles was auf den Tellern lag, Brote, Wurst, Schinken, Eier, Käse, in erstaunlich kurzer Zeit.
Kerkhoven saß, in stiller Verwunderung, an der andern Seite des Tisches und schaute ihr zu. Sie schien ihm sehr verändert, seit er sie das letztemal gesehen hatte. Das war jetzt zwei Jahre her. Wie alt mochte sie sein? er rechnete nach; etwas über zwanzig. Sie sah jedoch älter aus, reifer. An Schönheit hatte sie nicht zugenommen. Schön war sie nie gewesen. Durch die außerordentliche Blässe, fast Weiße des Gesichts traten die Sommersprossen auf der Haut peinlich störend hervor. Dazu das verstruwelte, kupferrote Haar, das übermäßig lange, schmale Kinn, der grellrot geschminkte Mund. Aber die smaragdgrünen Augen, die einen überraschenden Glanz hatten, der kühne selbstbewußte Blick, verliehen den Zügen einen fremdartigen Reiz, und was beim ersten Eindruck pittoresk und unharmonisch wirkte, wurde bei längerer Betrachtung anziehend, ja ungewöhnlich fesselnd.
Endlich war sie mit dem Essen fertig. Sie wischte mit der Serviette den Mund ab und sagte: »Ich mußte dich unbedingt sprechen, Onkel Joseph. Ich weiß nicht, ob ich der Mutter unter die Augen treten kann. Ich weiß überhaupt nicht, was ich tun soll. Ich bin in einer scheußlichen Situation, schlimmer als du dir vorstellen kannst.« – »Nun, leg los,« antwortete Kerkhoven, »mit mir kannst du offen sein. Wir waren ja einmal recht gute Freunde.« – »Ich bin im vierten Monat schwanger, Onkel Joseph.« – »So. Das ist unangenehm, wenn man nicht verheiratet ist, liebe Aleid. Und das bist du doch vermutlich nicht.« – »Nein.« – »Und wer –?« – »Wer der Betreffende ist, meinst du? Er ist nicht mehr. Er ist tot.« – Kerkhoven machte eine jähe Bewegung. Dann lehnte er sich im Stuhl zurück. Aleid stützte die Ellbogen auf den Tisch und umschloß mit den gekreuzten Händen ihren Hals. »Hast du von Melchior Bernheimer gehört?« fragte sie leise. – »Dem Korvettenkapitän?« – »Ja. Ein Held, Onkel Joseph, ein Held. Kriegskrüppel. Ein Mensch, wie es vielleicht keine zehn in Europa gibt.« – »Ich habe von ihm gehört.« – »Vorgestern haben sie ihn erschossen. Einfach gemeuchelt. Nachts auf dem Heimweg. Ein Kommunist. Von hinten in den Kopf geschossen.« – »Und du...« – »Ich... na ja... was soll ich noch sagen? Das Kind ist von ihm.«
Kerkhoven schaute sie wortlos an. Ihre unnatürliche Gefaßtheit ängstigte ihn. Die Blässe des Gesichts spielte ins Bläuliche. Der smaragdgrüne Blick hatte etwas Aufgerissenes, Kaltloderndes. Um die Lippen vibrierte ein Lächeln wie bei einer Gepeitschten, die sich in heldenhafter Pose gefällt. »Fein, was, Onkel Joseph? Sag selber, ists nicht fein? Feine Leute. Feine Zeit...« – »Ich erinnere mich, in der Zeitung davon gelesen zu haben,« sagte Kerkhoven matt; »aber willst du nicht etwas ausführlicher...« – »Kann nicht,« fiel sie ihm mit seltsam gellender Stimme ins Wort; »verstehst du, wie ich hierhergekommen bin? Ich verstehs nämlich nicht. Ich wollte weg, nur weg. Freunde haben mich an die Bahn gebracht. Haben mir die Fahrkarte gekauft. Ich hätte sonst... ich weiß nicht... was Schreckliches wäre passiert... Er war schon lang zum Tod verurteilt. Er hats gewußt. Alle haben mir die Hölle heiß gemacht. Großmutter drohte mich zu enterben. Ich hab ihr gesagt, daß ich... Enterben... großartig. Wie bei der Courts-Mahler... Ich hatte keine Ahnung, daß die alle so feig sind – so grenzenlos feig... Hör zu, ich glaub ich werde wahnsinnig... bestimmt werd ich wahnsinnig... hast du einen Kognak?«
Sie warf mit einer Kopfbewegung die Haare zurück und lachte. »Ich muß dir viel von ihm erzählen,« fuhr sie zusammenhanglos fort, »tagelang könnt ich dir erzählen... übrigens hab ich ein Bild von ihm, warte...« Sie sprang auf, schleppte das Köfferchen herüber, suchte den Schlüssel, fand ihn nicht, ließ den Nickelhebel springen, wobei sich zeigte, daß das Schloß nicht versperrt war. »Den Koffer hat mir einer im letzten Moment geliehen... weiß gar nicht, was sie alles hineingestopft haben...« Während sie fiebrig und gehetzt redete, schmiß sie Strümpfe, Blusen, Hemden, Taschentücher achtlos auf den Boden; da fiel ihr ein Buch in die Hand, sie vergaß, was sie gesucht hatte und reichte Kerkhoven das Buch. »Das hab ich neulich gelesen,« berichtete sie in ihrer hektischen Hast, »es ist wundervoll... Melchior hat mirs geschenkt... ein paar Tage vor... Der Mann, der das geschrieben hat, weiß allerlei von einem... mit dem müßte man mal reden...« Kerkhoven warf einen neugierigen Blick auf das Titelblatt. Es war Alexander Herzogs letztes Werk: »Tine und ihr Schatten« hieß es, die Geschichte zweier Frauen, Mutter und Tochter, die aneinander zugrunde gingen, weil die eine wirklich lebte, was die andere nur erträumte und zu leben unvermögend war. Kerkhoven kannte es; das unterirdische Hineinspielen des Buches in das Schicksal des jungen Mädchens; der Gedanke, daß im Zimmer daneben eine Botschaft von demselben Mann seiner harrte, von dem diese Geschlagene da wie von einem Erlöser sprach, das warf ein verwirrendes Licht auf die scheinbar zufälligen Zusammenhänge des Lebens und es war ihm als ob die Fäden glühend würden, die er selber in der Hand hielt.
Indessen hatte sich Aleid in einen Sessel geworfen. Sie saß ganz steif, mit angezogenen Schultern, das Gesicht war maskenhaft unbeweglich, und aus den smaragdgrünen Augen, die an die Augen einer exotischen Eidechse erinnerten, flossen wasserhelle Tränen. Sie schien Kerkhovens mitleidigen Blick nicht zu bemerken; sie leckte ein paar Tränen ab, die ihr unter die Nase geronnen waren und fragte mit einem blechernen Ton, ob sie hier übernachten könne. Selbstverständlich könne sie das, erwiderte Kerkhoven, einiges Bettzeug werde sich wohl finden, sie könne auf dem Sofa schlafen; »aber wir müssen einen Beschluß fassen,« fügte er hinzu, »du mußt zu deiner Mutter. Ich kann dich ihr nicht verheimlichen. Und warum auch?« – Mit gerunzelter Stirn dachte Aleid nach. »Komisch, daß ich an die Mutter bis jetzt nicht gedacht habe,« sagte sie; »bis jetzt, wo du von ihr sprichst... ich hab entsetzliche Angst. Sie ist solch ein Charakter. Ich bin kein Charakter.« – »Siehst du darin einen Vorzug?« – »Weder noch. Ich hab mir nie überlegt, ob man Charakter haben soll. Hast du Charakter?« – »Vielleicht. Ein Gesicht muß man haben.« – »Ja, ein Gesicht. Ich hab die Mutter so lang nicht gesehen. Was ist sie für eine Frau? Ich kenne sie ja kaum.« – »Und mich kennst du?« – »Einen Mann kennt man.« – »Deine Mutter ist der einzige Mensch auf der Welt, den du brauchst... Du mußt nur ein Herz für sie haben.« – »Herz? Auch Herz hab ich nicht, Onkel Joseph.« – »Sei kein Prahlhans, Kind.« – »Nein, wirklich nicht. Herz ist ein Vorurteil. Oder sagen wir eine falsche Prämisse. Aber lassen wirs. Du findest also ernstlich, ich soll mich an den mütterlichen Busen flüchten?« – »Es wäre gut für beide Teile.« – »Dann müßtest du etwas für mich tun,« sie preßte die Hände an die Wangen und sah ihn mit einem irren Schimmer in den Augen an, »ich will nichts erzählen, ich will nichts erklären, ich will nicht gefragt werden, ich bin...« sie sprang auf, griff nach der leeren Teetasse und schleuderte sie zu Boden, daß sie in hundert Scherben zerbarst, »so, weißt du, so!« Hierauf ging sie zum Fenster, riß es auf, dehnte die Lunge und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Kerkhoven kniete nieder und legte die Scherben auf ein Häufchen.
Aleid drehte sich nach ihm um. »Geh jetzt schlafen, armer Onkel Joseph,« sagte sie; »kümmere dich nicht um mich. Keine Geschichten, kein Bettzeug, nichts. Ich streck mich da auf dem Sofa aus. Ich bin müd... Herrgott, ich bin müd!«