Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Im Hinblick auf die Unverwertbarkeit und für den Finder, sofern er kein Analphabet war, leicht ersichtliche Rückerstattungsmöglichkeit war das spurlose Verschwinden einer umfangreichen wissenschaftlichen Handschrift nicht zu erklären. Denn, um es gleich festzustellen, alle weiteren Nachforschungen, Anzeigen, öffentlichen Verkündigungen hoher Belohnung, alle amtlichen und privaten Schritte zur Wiedererlangung des Manuskripts blieben gänzlich erfolglos; es war als hätte sich das dickleibige Konvolut in seine Bestandteile aufgelöst oder wäre von einem närrischen Raubvogel davongetragen worden, der seine Jungen mit Papier füttern wollte. Es wurde angenommen, ein Bauer oder Tagelöhner oder ein ungebildeter Kleinhändler habe das herrenlose Paket liegen gesehen und mit nachhause geschleppt; nachdem er sich vergewissert, daß es nur beschriebene Blätter waren, hatte er dem Fund keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt und ihn in einem Winkel verstaut oder gar ins Feuer geworfen. Letzteres war noch am wahrscheinlichsten; las er dann die Verlustanzeige in seiner Zeitung oder auf einem Plakat, so hatte er keine Veranlassung mehr, sich zu melden und mußte Unannehmlichkeiten befürchten, wenn er es tat.

Den fieberhaften Bemühungen Alexander Herzogs im einzelnen nachzugehen, wollen wir uns ersparen. Er befand sich nicht einen Augenblick im Zweifel über die Schwere des Verlusts und die Größe seines Unglücks; etwas unermeßlich Kostbares war zerstört, nie wieder gutzumachender Schaden geschehen; für ihn lag es natürlich besonders nah, sich in den gleichartigen Fall zu versetzen; er sagte sich, er würde sicher verrückt vor Zorn und Kummer, wenn ihm so etwas zustieße. Wie er sich vor dem Freund verantworten, wie er ihm überhaupt unter die Augen treten sollte, davon hielt er seine Gedanken ab, es war nicht vorstellbar, es war das Entsetzen schlechthin. Auch mit einem jungen Leben konnte man nicht hoffen, die Schuld jemals zu tilgen; und er war alt. Und wie tilgen? Wo gab es einen Gegenwert, einen Ausgleich? Die verzweifelte Energie, die er zunächst an den Tag legte, war vermutlich Flucht vor diesen Erwägungen. Vierundzwanzig Stunden lang kam er nicht zur Besinnung, gab auch keine Nachricht, weder nach Basel noch nach Seeblick. Dann wurde ihm die Feigheit solchen Verhaltens bewußt; man mußte in Sorge um ihn sein; wenn er seine Person zum Ziel der Angst machte, beging er neben allem andern noch eine grobe Täuschung, er schickte also an Bettina ein Telegramm, das bei allem Lakonismus an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig ließ. Eine halbe Stunde danach, gegen acht Uhr abends, war er in Basel, fuhr in die Weidengasse beim St. Albanstor, Straße und Hausnummer waren ihm noch in Erinnerung, fragte nach Kerkhoven und wurde in das Bücherzimmer des kranken Hausherrn geführt; es dauerte keine drei Minuten, da trat Kerkhoven ein. Und eine Minute später wußte er es. Seit dem gestrigen Abend hatte er in zunehmender Nervosität gewartet, und jeder Anruf in Seeblick hatte nicht nur seine eigene Besorgnis, sondern auch die der Frauen dort vermehrt.


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