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Etwas wurde lahm in ihm. In manchen Stunden erlosch die Willensglut. Dann wurden auch die Menschen, die sich um ihn bewegten, zu grauen Schatten. Müdigkeit fiel ihn an, besonders in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Abend; da verkroch er sich in eine entlegene Kammer des Hauses und versuchte durch vollkommene seelische Konzentration die Organtätigkeit, die zu versagen drohte, wiederherzustellen. In der Nacht arbeitete er an seinem Werk. Es fehlte nur noch der krönende letzte Teil, in welchem er mit allen Hilfsmitteln seiner Wissenschaft und Erfahrung die Brücke von der sinnlichen Welt des Wahns zur übersinnlichen des Glaubens schlug, von der Biologie und Physiologie in die Gewißheit der göttlichen Sphäre, von der Gehirnanatomie zur geisthaften Struktur eines obersten herrschenden und schicksalsbestimmenden Wesens. In dem Schlußkapitel sprach er von Wirklichkeit und Zeit als Phänomenen der transformatorischen Nervensubstanz, und indem er auch den Raumbegriff als funktionelle Projektion der den Tod wollenden Neuroglia betrachtete, gelangte er zu einem Unsterblichkeitsprinzip, das unmittelbar durch den Sieg über den Wahn einerseits, den über die Körpersubstanz (und damit den Tod) andererseits zur Wahrnehmung der Einheit von Seele und Leib und Schöpfer und Geschöpf führte, zu einer biologisch-religiösen Seinsform.
Auf diese Stunden der äußersten Anspannung folgten immer ausgedehntere Perioden der Erschlaffung, Zustände des Verfalls, die er vor seiner nur allzu wachsamen Umgebung oft kaum mehr verbergen konnte, trotz einer Selbstbeherrschung, die studiert und geübt war wie die Rolle eines Komödianten. Während eines solchen Anfalls bat er einmal Bettina, sie möge ihre Geige holen und spielen. Froh, ihm einen Wunsch erfüllen zu können, zauderte Bettina keinen Augenblick. Dies wiederholte sich dann Tag für Tag. War es eine Laune, ein inneres Bedürfnis? Er hatte nie zuvor das Verlangen nach Musik geäußert. Möglich, daß es nicht Bettinas Spiel allein war, das eine so wohltätig lösende, fast heilkräftige Wirkung auf ihn ausübte, sondern mehr noch ihre Natur, die in ihrem Spiel mit großer Eindringlichkeit und Wahrheit hervortrat, der Schwung in ihr, die Gläubigkeit, die aus der Tiefe heraufquellende Heiterkeit. Wenn sie das Instrument ans Kinn setzte und mit dem Bogen über die Saiten strich, stand die leibhaftige Musik vor einem, voller Figur und rhythmischer Handlung, Bild und Klang verschmolzen. Sie war eine Meisterin der Improvisation; eine einfache heimatliche Weise verschwisterte sich mit einem Tanzmotiv, und beide schwebten selig empor wie Lerchen in den Frühlingshimmel. Nichts war schwelgend und zerflossen, sie produzierte sich auch nicht, sie sang oder vielmehr es sang in ihr. Manchmal wurde auch Marie von den Tönen herbeigelockt; sie kauerte sich still in einen Winkel, hörte still zu, und wenn das Spiel zu Ende war, ging sie wieder fort.
Eines Tages spielte Bettina ein kleines Capriccio eigener Erfindung, ein reizendes Stück, das klang als ob Elfengelächter die Traurigkeit eines vergeblich Werbenden verspotte. Als sie fertig war, schaute Kerkhoven eine Weile nachdenklich vor sich hin, dann sagte er: »Sie haben mir damit ziemlich viel über sich selber mitgeteilt. Sonderbar, Sie sind doch nicht gerade wortkarg, und doch hat man immer den Eindruck der Schweigsamkeit bei Ihnen. Sogar am meisten dann, wenn Sie lebhaft und angeregt sprechen; was Sie ja gern tun.« Bettina errötete ein wenig, antwortete aber nicht direkt, sondern ließ nur ein paar Worte über das »innere Schweigen« fallen, ein Ausdruck, der Kerkhoven gefiel. Er sagte, vieles sei Verrat und Selbstverrat, was wie Geständnis und anvertrautes Geheimnis wirke. Das geahnte Wissen von einander genüge den heutigen Menschen nicht mehr, ein selbsthassender Trieb zwinge sie, sich und den andern aufzureißen. So habe Aleid vor einiger Zeit gegen Alexander ein schmerzliches Erlebnis ihrer Mutter preisgegeben, bei dem sie allerdings in Mitleidenschaft gezogen war; jedoch es dem Uneingeweihten zu enthüllen, davor hätte sie unter allen Umständen zurückscheuen müssen. Alexander wieder habe es vor Marie nicht verschweigen wollen, obgleich es vielleicht besser gewesen wäre zu schweigen; es habe Marie tief verstimmt, sodaß sie seitdem das Beisammensein mit Aleid tunlichst vermieden habe.
»Als ich während des Kriegs in Polen war,« erzählte Kerkhoven, »brachte man eines Tages einen Mann zu mir, einen Juden, der in der ganzen Gegend unter dem Namen Schloime der Schweigende bekannt war. Er hatte vor vielen Jahren eine schöne junge Person zur Frau genommen, es war eine Liebesheirat, die beiden lebten sehr gut mit einander. Trotzdem kam es häufig zu Streitigkeiten, der Mann war krankhaft jähzornig, und einmal verwünschte er sie in seiner besinnungslosen Wut mit dem Ausruf: das Feuer soll dich verbrennen! Kurz darauf brannte in der Nacht das Haus nieder, und die Frau fand in den Flammen den Tod. Die Gewissensbisse trieben den Mann zum Rabbi, er beichtete ihm seine Sünde und fragte, was er tun müsse, um die Schuld wieder gutzumachen. Der Rabbi sagte: wenn deine Zunge gefehlt hat, mußt du sie strafen, enthalte dich von nun an aller Rede. Und von dem Tag an, achtundzwanzig Jahre lang, hatte der Mann geschwiegen. Nicht ein einziges Wort ist mehr über seine Lippen gekommen. Seine zwei Söhne hatten ihn durch List in meine Ordination gelockt, sie hofften, ich könnte ihn durch irgend ein Zaubermittel sein Gelöbnis vergessen machen, aber als er vor mir stand, lächelte er nur in abgründiger Weisheit, und mir war, als könne eher er mir helfen als ich ihm...«