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Die weittragenden Folgen, die die Befassung mit der gemütskranken Frau Thirriot nach sich ziehen würde, hatte Kerkhoven nicht voraussehen können, als er sie in das Haus Seeblick brachte. Es war als ob eine unsichtbare Hand sich zu einem hohen Zweck seiner bediente. Das Geschehnis, in das er dadurch verstrickt wurde, war sogar für ihn, den in Schicksalen und Schicksalswendungen Erfahrenen, dermaßen beklemmend, daß er sich manchmal des Schauderns nicht erwehren konnte. In gewisser Weise erinnerte es ihn an die erstaunliche Entschleierung der Unschuld jenes Leonhart Maurizius, der neunzehn Jahre im Zuchthaus gesessen und dem der sechzehnjährige Etzel Andergast zum Befreier geworden war; nur daß es sich hier um ein junges Paar handelte, das seit nunmehr sechs Jahren zu lebenslänglicher Kerkerhaft verurteilt und es in diesem Fall nicht ein Knabe war, der einen ungeheuerlichen Justizirrtum aufklärte, sondern im Verein mit Marie und der Schwester Wys-Wiggers eine fünfundvierzigjährige schwer irritierte, beinahe unzurechnungsfähige Frau. In einem so gesetzhaften Leben wie dem Kerkhovens bewegen sich die entscheidenden Begebenheiten in konzentrischen Ringen.
Hier der Sachverhalt, was den angedeuteten Gerichtsprozeß betrifft. Im Dezember 1925 wurde in einer westschweizerischen Kantonshauptstadt der Apotheker Karl Imst, ein Mann Mitte der Dreißig, unter dem dringenden Verdacht verhaftet, gemeinsam mit seiner Geliebten Jeanne Mallery seine Ehefrau Selma durch Gift aus dem Weg geräumt zu haben. Die sofort einsetzende Untersuchung enthüllte ein ungewöhnlich finsteres Familien- und Ehebild. Imst hatte die Frau kennen gelernt, als er noch Student war und sie geheiratet, nachdem ihm ein ererbtes väterliches Vermögen den Kauf der Apotheke ermöglicht hatte. Die Beziehungen zwischen den beiden Gatten waren von Anfang an die mißlichsten. Die Frau beklagte sich über die Kälte und Lieblosigkeit des Mannes, er wiederum zieh sie der Zanksucht, der Kleinlichkeit und Herrschgier. Er behandelte sie schlecht, sie behandelte ihn noch schlechter. Wegen des nichtigsten Anlasses brach sie einen Streit vom Zaun, wenn nicht mit ihm, so mit der Magd, etwa weil diese beim Feuermachen ein Zündholz zuviel verbraucht hatte. Die Geburt eines Kindes nach fünfjährigem Zusammenleben besserte das Verhältnis mit nichten. Als er anfing, seine Vergnügungen außer Hause zu suchen, beschuldigte ihn die Frau des lüderlichen Wandels, später behauptete sie sogar, er habe ihr während einer nächtlichen Szene geraten, ein Pülverchen einzunehmen, wenn es ihr bei ihm nicht mehr passe. Die beiden Leute fanden wohl auch physisch kein Glück beieinander; der Mann fühlte sich sinnlich nicht angezogen, die Frau war fordernd, kaum ersättlich, aber von tiefer Kälte. Da machte Imst bei einem Osterausflug die Bekanntschaft von Jeanne Mallery. Sie war eine Genferin, studierte Mathematik und hielt sich bei Verwandten in Langenthal zu Besuch auf. Eine Ferienfreundschaft entwickelte sich zu leidenschaftlicher Liebe. Jetzt nahmen die Ehezwistigkeiten überhaupt kein Ende mehr, oftmals äußerte sich Imst zu seiner Geliebten, er führe ein Leben wie in der Hölle. Was die Frau betrifft, so verzeichnete sie seit Jahr und Tag jeden Wortwechsel mit dem Mann, jede Beleidigung und Zurücksetzung, die sie erfuhr, in einem Tagebuch, und dies war, bei einer sonst so wenig gebildeten und noch weniger zur Selbstrechenschaft geneigten Person ein unheimlicher Charakterzug, denn dieses Tagebuch spielte bei dem Prozeß wie auch späterhin eine bedeutende Rolle. Doch um nicht vorzugreifen, die Beziehung zwischen der hübschen jungen Jeanne und dem Apotheker Imst konnte nicht verborgen bleiben, die schmählichen und aufreibenden Eifersuchtsszenen ließen den häufig erwogenen Scheidungsplan in den Vordergrund treten, die Frau erklärte sich einverstanden, aber die Verhandlungen wurden mit großer Bitterkeit und Erbitterung geführt, keiner ersparte dem andern einen Vorwurf, keiner übte Schonung. Hauptsächlich wegen des Kindes kam es zu heftigen Erörterungen; die Frau wollte es dem Mann gänzlich entziehen und ihm nicht einmal die gesetzlich gewährleisteten Besuche gestatten. Nach langwierigen und erschöpfenden Prozeduren, auch solchen materieller Art, wurde endlich im November 1924 die Scheidung ausgesprochen. Als dem überwiegend schuldigen Teil wurde dem Mann zur Wiederverheiratung mit der Geliebten eine Wartefrist von einem Jahr auferlegt, eine Maßregel, die viele Unzuträglichkeiten und Schwierigkeiten im Gefolge hatte. Da ihm Jeanne in jeder Weise unentbehrlich geworden war, auch in seinem Berufe, hausten sie unter einem Dach; dies erregte gehässiges Gerede, überdies setzte sich Imst dadurch einer Strafverfolgung wegen Konkubinats aus.
Weit verhängnisvoller jedoch waren die Begegnungen, die er mit der geschiedenen Frau hatte. Den Vorwand lieferte das Kind. Imst liebte das kleine Mädchen über alles. Er konnte die Trennung von ihm nicht verwinden. Als er nun, nach Monaten, die Frau wiedersah, zeigte sie sich ihm in einem andern Licht. Sie war schwer bedrückt; ihr ganzes Wesen wartete auf Aussprache. Das Kind, offenbar von ihr bearbeitet, setzte sich dem Vater auf die Kniee und bat ihn unter Liebkosungen, er möge wieder zur Mutter zurückkehren. Dazu lag ihm die Frau mit beweglichen Klagen in den Ohren, sie könne die Einsamkeit nicht aushalten, sie habe keinen Menschen, der sich ihrer annehme; schließlich, als sie merkte, daß der Mann ihr teilnahmsvoll zuhörte, wurde sie kühner und deutlicher und sprach von der Möglichkeit einer neuen Heirat. Nicht jetzt, nicht gleich, sie könne ruhig ein, zwei Jahre warten; wenn sie nur wieder ein Ziel vor Augen hätte, sei ihr schon geholfen. Sie sehe ein, daß sie ihn oft gekränkt und sich gegen ihn vergangen habe, aber das werde alles anders werden. Imst war im Grunde ein weichherziger Mann; er widerstand solchen Bitten nicht leicht. Wie alle schwachen Charaktere war er nur zu sehr geneigt, das ihm widerfahrene Böse zu vergessen und an Schwüre und Gelöbnisse zu glauben, die eine Sinneswandlung beim Andern annehmen ließen. Das tägliche Beisammensein mit dem Kind bestärkte ihn in dem Wunsch, dem zärtlich geliebten Wesen wieder ein Elternheim zu geben, und er versprach, Selma wieder zu heiraten und so das dem Kind durch die Scheidung zugefügte Unrecht gutzumachen. Aber als er dann zu Jeanne zurückkehrte, wurde ihm der Zwiespalt, in den er durch diese Zusage geraten war, erst in seiner ganzen Tragweite bewußt. Er hatte sie, die er liebte, die mit unbedingter Treue zu ihm stand, die ihm ein vorher unbekanntes Glück gegeben hatte, aufs schnödeste verraten. Er fand aber die Kraft nicht, ihr offen einzubekennen, was er getan. Sie jedoch fühlte es, ahnte es, und als er ihr dann das Geständnis nicht länger vorenthalten konnte, hatte er wiederum nicht die Kraft, folgerichtig den einen Weg zu gehen, zu dem er sich selber verurteilt hatte. Gleichzeitig bedrängt von der Geliebten und der Frau, von der Leidenschaft, die ihn zu jener trieb, dem mißverstandenen Pflichtgefühl, das ihn von neuem dieser verhaftet hatte, verlor er den Boden unter den Füßen; er schwankte kläglich hin und her, und eine krankhafte Freud- und Entschlußlosigkeit kam über ihn. Jeanne berief sich auf das Recht ihres Herzens, auf die düsteren Erfahrungen, die der Freund bereits in der Ehe mit Selma gemacht. Sie verdoppelte die Beweise ihrer Ergebenheit und Treue, ohne dabei einen moralischen Druck auf den unglücklichen Mann auszuüben, eine Schonung, deren sich die Andere keineswegs befleißigte; während Jeanne sich noch auf Bitten und Flehen verlegte, hatte die Nebenbuhlerin, kühl und berechnend, das standesamtliche Aufgebot besorgt und mit ihrem Anwalt einen Plan zur finanziellen Abfindung Jeannes ausgearbeitet. Vor so viel Tatkraft wich Imst mutlos zurück und überredete die Freundin, für einige Zeit zu Bekannten ins Appenzellische zu reisen. Sie willfahrte ihm, beschwor ihn aber in flehentlichen Briefen, sie nicht im Stich zu lassen, sie habe ja keinen Menschen auf der Welt außer ihm. Zu alledem war es schon zu spät. Die Wiederverheiratung der geschiedenen Eheleute hatte inzwischen stattgefunden, Selma war mit ihrem Kind in das Haus des Mannes gezogen, und als Jeanne an einem Novemberabend krank und elend dort eintraf, erfuhr sie das Geschehene von der Dienstmagd. Was sollte sie nun tun? wohin sollte sie gehen? Sie begehrte die Frau zu sprechen, Selma empfing sie auffallend freundlich und bot ihr mit Rücksicht auf ihren trostlosen Zustand ein Obdach für die Nacht an; alles weitere sollte nach der Rückkehr des Mannes, der über Land gefahren war, geregelt werden. Diese Regelung bestand darin, daß Jeanne Mallery vorläufig im Hause verblieb. Die Siegerin, großmütig gestimmt, wollte sie beherbergen bis sie sich eine neue Existenz gegründet hatte. Jedenfalls schlossen die beiden Frauen miteinander Frieden, sie teilten sich in die Arbeit im Hause, Jeanne bediente wie früher die Kunden in der Apotheke und war im Laboratorium tätig, Selma führte die Wirtschaft, und für Imst war diese Lösung des Konflikts ein Glücksfall, auf den er nicht zu hoffen gewagt hatte.
Es waren trügerische Maßnahmen, war ein Scheinfrieden. Zu vermuten ist, daß sich in der Frau ein unterirdischer Groll sammelte, als sie sah, daß die neu geschlossene Ehe das Verhältnis zwischen ihrem Gatten und Jeanne nicht zu zerstören vermocht hatte. Vielleicht war es ihre Absicht gewesen, die Beiden auf die Probe zu stellen, und indem sie sie unter den Augen behielt, konnte sie den verhohlenen Haß gegen die Rivalin nähren und sich wiederum die Qualen schaffen, durch die allein sie sich noch ein Leben der Sinne vortäuschte. Eines Abends, als Imst zu spät zu Tisch kam, brach die unterdrückte Erbitterung aus; ohne auf seine Entschuldigungen zu hören, fuhr sie ihn bösartig an, überhäufte ihn mit Schmähungen und tat wie wenn er schon die ganze Zeit, statt seine Pflichten zu erfüllen, ein Lumpenleben geführt und die Nächte in Wirtshäusern verbracht hätte, eine völlig aus der Luft gegriffene Beschuldigung. Der Mann brauste auf und antwortete hart, jetzt habe er zwei Jahre Ruhe gehabt, wenn sie wieder in der alten Weise anfange und ihre Versprechungen nicht halte, könne sie ihre Sachen packen und gehen. Auf eine so energische Sprache war Selma nicht gefaßt. Sie allein glaubte die Macht über Frieden und Krieg zu besitzen; als sie sich nun in Gegenwart Jeannes wie ein Dienstbote behandelt sah, begann ein unstillbarer Zorn an ihr zu nagen. Imst bereute seine Heftigkeit, aber alle Versuche, die Frau wieder zu versöhnen, stießen auf ihren verächtlichen Trotz; am andern Morgen wurde sie plötzlich bettlägerig, klagte über Kopfschmerz, Schwindel und Brechreiz, Imst fragte sogleich besorgt, ob sie ein Mittel eingenommen habe, sie verneinte es, er wollte nach dem Arzt telephonieren, sie sagte, sie brauche keinen Arzt, und da die Beschwerden sich nicht steigerten, beschloß Imst, noch zu warten, brachte ihr aus seiner Apotheke etwas Pantopon und Silicose und verordnete eine entsprechende Diät. In den nächsten zwei Tagen wechselte das Befinden ständig, am Abend des dritten zeigten sich jedoch Symptome einer schweren Magen- und Darmerkrankung, der Puls war klein, kalter Schweiß hatte sich eingestellt, verbunden mit Sehstörungen und Herzschwächen. Imst berief den Arzt, auch dieser fragte sie, ob sie etwas eingenommen habe, sie leugnete es wieder, sagte nur, um drei Uhr nachmittags sei ihr auf einmal furchtbar schlecht geworden und seitdem fühle sie sich mit jeder Stunde elender. Eine klare Diagnose ergab sich nicht. An Vergiftung dachte der Arzt erst, als keine Hoffnung mehr vorhanden war. Um elf Uhr nachts verschied sie. Am folgenden Tag wurde auf Betreiben des Arztes und mit Imsts Einverständnis die Leiche seziert. Bei der chemischen Untersuchung fanden sich ganz abnormale Mengen von Arsen. Nach weiteren zwei Tagen wurden sowohl Imst wie auch Jeanne Mallery verhaftet.