Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Kerkhoven war sich nicht im Unklaren darüber, daß es das zwölfjährige Leben in der Einsamkeit war, das sie so bedürftig nach Welt, nach Mitteilung, nach Menschen gemacht hatte. Ja, fast zwölf Jahre, seit ihrem achtundzwanzigsten Jahr, hatte sie mit Alexander Herzog tief im steirischen Gebirge in einer Art Klausur gelebt und war unter dem ständig anwachsenden Druck eines beispiellosen Geschehens nahezu zerbrochen. Das Geständnis, das sie ihm gleich zu Anfang des Gesprächs machte, daß sie seit Monaten aufgehört habe, wie ein normaler Mensch zu schlafen, daß jeder Brief, jedes Telegramm, jedes Telephonsignal in ihrem Herzen eine wahre Klopforgie bewirke (so drückte sie es aus), ließ auf eine bedenkliche Gemütsverfassung schließen. Nur vergessen, das war ihre Sehnsucht Tag und Nacht; nur mit Leuten beisammen sein, die von neutralen oder abliegenden Dingen redeten, von freundlichen, heiteren, hübschen Dingen. Nichts mehr wissen von dem Schauerlichen, Grausigen, Hoffnungslosen, das dort in ihrem Heim die Sonne verhing und die Luft vergiftete. Sie übertreibt, dachte Kerkhoven, sie hat einen beweglichen Geist, eine künstlerische Phantasie, es ist nicht anders möglich, sie übertreibt. Aber wenn er sie dann anschaute, fand er, daß diese Vermutung wahrscheinlich grundlos war. An ihrem klaren, nüchternen, alles Tatsächliche prägnant zusammenfassenden Bericht war ihm gerade das Fehlen jeder Übertreibung angenehm aufgefallen. Die Mischung von äußerer Kühle und innerer Glut erinnerte ihn ein wenig an Marie. Die Berührung beider Elemente gab der ganzen Person etwas wunderlich Bebendes. Auch bei Marie war es so. Nein, das stimmt schon alles, sagte er sich, mit der hat es schon seine Richtigkeit. Als sie ihm weiterhin bekannte, daß sie von Haus aus Musikerin sei, Geigerin, und in früheren Jahren ein paar gar nicht üble Lieder und Sonaten komponiert habe, ging ihm ein Licht über ihre hochgradige Reizbarkeit und Erschütterbarkeit auf. Aber sie versäumte nicht, hinzuzufügen, daß sie seit langem von der Musik Abschied genommen habe, von aller Musik, der Geigenkasten mit der Guarneri liege zuhause im Schrank wie auf einem Kirchhof. Sie hatte einfach für Gaben und Kräfte, deren sie sich lebhaft, ja ungestüm bewußt war, keine Verwendung mehr; der Verkümmerungsprozeß, von dem sie sich bedroht sah, hatte eine an Schwermut grenzende Hypochondrie in ihr erzeugt. Primitive, animalisch veranlagte Naturen können dagegen unter Umständen ihre Vorkehrungen treffen; ein so durchgebildetes, zu sinnvoller Eigenentfaltung bestimmtes Geschöpf wie sie war ohne einen rettenden Arm verloren. Kerkhoven starrte sie mit großen Augen ununterbrochen an, als sie ihm in knappen Umrissen ihr Leben während der letzten sechs Monate beschrieb. Es war abenteuerlich...

»Spät,« sagte er, sich erhebend; »Sie haben Ruhe nötig. Wahrscheinlich werden Sie mich in den nächsten Tagen brauchen. Ich bleibe noch bis Ende der Woche in Zürich. Zwischen zehn und zwei Uhr bin ich telephonisch erreichbar.« Er schrieb ihr die Nummer auf. Sie dankte ihm bewegt. Sie ahnte nicht, wie bald und wie sehr sie ihn brauchen würde. Als es so weit war, am nächsten Tag schon, fragte sie sich mitten in ihrem Kummer und in ihrer Ratlosigkeit bestürzt: ist er denn ein Prophet?


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