Jakob Wassermann
Joseph Kerkhovens dritte Existenz
Jakob Wassermann

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Die unvermeidliche Begegnung mit Lili Meeven rief in Alexander Herzog dieselbe Empfindung hervor, die man hat, wenn man sich an einen schweren Traum erinnert, der viele Tage, vielleicht sogar Wochen zurückliegt, und man vergeblich bemüht ist, sich seinen Inhalt zu vergegenwärtigen. Sonderbar genug, daß eine Ähnlichkeit, die zum Beispiel Bettina vom ersten Augenblick an aufgefallen war und auf die sie sofort mit stürmischer Abneigung reagierte, ihm zunächst gar nicht bewußt wurde. Die Frau war ihm nicht gerade sympathisch; ihre heftige und indiskrete Art zu fragen, war ihm entschieden unangenehm; aber da sie wie viele Damen ihrer Gesellschaftsklasse mit dem üblichen Rüstzeug literarischer Bildung versehen war und keine Gelegenheit vorübergehen ließ, ohne ihm zu beteuern, wie sehr sie ihn als Schriftsteller verehrte, sah er über ihre abstoßenden Eigenschaften hinweg, ja er spürte sie nicht einmal. Doch nach und nach wurden ihm ihre Besuche lästig; ihre schöngeistigen Gespräche fielen ihm auf die Nerven; die Familiengeschichten, die sie ihm erzählte, langweilten ihn; die Selbstberäucherung, die sie ihrer Person zollte, verdroß ihn; die naive Schamlosigkeit, mit der sie Intimitäten aus ihrer Ehe ausbreitete, erregte seinen Widerwillen; der flatternde Blick, der bald eine ziellose Gier, bald eine animalische Traurigkeit, bald eine verworrene Schwärmerei verriet, wurde ihm ebenso zur Pein wie ihre hemmungslose Schwatzsucht und der Mangel jeglicher Genauigkeit und Verläßlichkeit in der Rede. Aber noch immer tastete er sich unsicher gegen ihr Bild vor wie wenn hinter diesem Bild ein anderes stünde, das er kannte und vergessen hatte. Von ihren krankhaften Zuständen wußte er da noch nichts; sie verbarg sie sorgfältig vor ihm; er wirkte geradezu als Hemmung; wenn sie in ihre Ekstasen verfiel, brauchte Kerkhoven nur von Alexander zu sprechen und sie erschrak wie bei einer Beschwörung und nahm sich zusammen. Es war außerordentlich lehrreich für Kerkhoven; es hatte etwas von der Erdbeziehung zwischen Isothermen; obwohl er Bettina vorher darauf aufmerksam gemacht hatte, daß etwas dergleichen geschehen könne, hatte er mit einer eigentlichen Heilwirkung nicht gerechnet. Großartiges Verfahren der Natur: sie schliff einem entarteten Typ die Schärfen ab, um bei dem Gegentyp den Magnetismus auszulösen, der unter veränderten Verhältnissen, mit einem verwandten weiblichen Partner, schon einmal in Erscheinung getreten war. »Das sind eben die Gesetze, nach denen wir uns mischen,« sagte Kerkhoven, als er mit Bettina darüber sprach: »auch Gott muß sich die Regeln vereinfachen, durch die er das Getriebe in Ordnung hält.«

Und Alexander suchte wie mit einer Binde vor den Augen. Eines Tages schickte ihm Lili Meeven einen kurzen Brief. Sie entschuldigte ihr Nichtkommen (er hatte ihr Kommen gar nicht gewünscht) und bat um ein bestimmtes Buch. Während er die Zeilen las, stutzte er. Die Schrift; woher kannte er die Schrift? Bettina schaute ihm über die Schulter und las mit. »Findest du es nicht merkwürdig?« fragte er; »auch den Namen... Meeven... sogar der Name äfft mich... Meeven...« Er schlug mit den Knöcheln auf das Briefblatt in seiner Hand und lachte plötzlich. Schüttelte den Kopf und lachte. So sah das von außen aus! Lili Meeven! So sah es aus, wenn es ein vergessener Traum geworden war! So harmlos das Gefahrvolle, so klein das Monströse, so ehern in der Kette drin das Wahnhafte! Der Schmerz eines Erlebnisses kann also von einem abfallen, wenn es aus dem Blut herausgestoßen und wie Treibholz unter anderm Treibholz im Strom des Lebens weiterschwimmt! Das muß man wissen, das muß man erfahren, daran muß man glauben! Und während ihm diese Gedanken glühend durch den Kopf schossen, drehte er sich zu Bettina um, drückte seine Hände an ihre Schläfen und küßte ihren Mund, ihr Kinn, ihre Augen, ihre Stirn, ihre Haare, wieder, immer wieder...

»Jetzt ist Ihre Zeit gekommen,« sagte Kerkhoven, als sie ihm zart andeutend von dieser seltsamen Szene erzählte: »Sie brauchen sich nur nicht zu sträuben, es vollendet sich von selbst, wenn Sie nur den Sinn richtig verstehen. Sagen Sie doch, haben Sie ihn je so heiter gesehen so... so befreundet mit seinem Schicksal? so reif für Bettina? Ja, wahrhaftig, das ist es, reif für Bettina, und Bettina darf nicht faul sein, sie muß ernten, die Scheune füllen, das Glück einbringen, tapfer sein, klug sein, umsichtig sein, Bettina sein! Die Gottschwörerin! Das bedeutet ja Ihr Name, falls Sie es nicht wissen sollten: die Gottschwörerin. Ich habe mich eigens vergewissert.« Bettina schaute ihn maßlos verwundert an. So hatte sie ihn nie gesehen, solche Worte nie von ihm gehört. Sie standen an der Parkgrenze, unter den Birken, mitten im Schnee. Sie senkte die Augen, ließ sie über die weiße Fläche gleiten, erhob sie wieder zu ihm und sagte leise: »Lieber, lieber Meister.« – Er fuhr zusammen. »Wieso Meister?« fragte er verdutzt; »so hat mich einer genannt, bei dem bin ich übel gefahren mit der Meisterschaft...« – »Bei mir sind Sie gut gefahren damit,« antwortete Bettina mit einem gleichsam entfernten Lächeln, »Sie haben ja mein Leben gemeistert.«

Er beugte sich nieder und berührte mit den Lippen ihren Scheitel. Es war eine Liebkosung, die sie zeitlebens nicht vergaß. Und nachher ging sie ins Haus und trat in Alexanders Zimmer. Er saß am Schreibtisch, sie näherte sich ihm unhörbar, legte den Arm um seine Schulter und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich liebe dich. Ich liebe dich...«


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