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Während sie das Vorgefallene berichtete, rannte sie vom Fenster zur Tür, von der Tür zum Fenster, im Tempo einer Gehetzten. Dazwischen öffnete sie den Koffer, griff nach herumliegenden Gegenständen, nach einem Kleid, ein Paar Schuhen, einem Buch, ließ alles wieder stehen, erinnerte sich an Alexanders Brief, fand ihn nicht gleich, durchstöberte verzweifelt ihre Schreibmappe, ihre Ledertasche, und Kerkhoven sah ihr an, wie unglücklich sie der Gedanke machte, er könne sie für schlampig halten, obgleich er schon beim Betreten des Zimmers bei sich festgestellt hatte, daß Akkuratesse und Ordnungsliebe zu ihren wesentlichsten Eigenschaften gehören mußten. Dergleichen läßt sich in dem Raum, den eine Frau bewohnt, nicht verkennen. Endlich entsann sie sich, daß sie den Brief sorglich in ihrem Suitcase aufbewahrt hatte, und dort lag er auch. Sie reichte ihn Kerkhoven. Er las ihn mit großer Aufmerksamkeit durch. Er begann mehrmals von vorn, weil es ihm Mühe bereitete, die winzige Schrift zu entziffern. Bei der Stelle vom Gang in die Wüste stutzte er. Er ließ das Blatt sinken und schüttelte betroffen den Kopf. Bettina, die beim Auf- und Abgehn ununterbrochen die Hände gegeneinander knetete, blieb stehen. »Was ist es? was haben Sie? was fällt Ihnen auf?« fragte sie angstvoll. – »Sonderbar, das,« sagte er und machte mit dem Zeigefinger eine Bewegung als wolle er an der betreffenden Zeile ein Loch in den Brief bohren, »sehr sonderbar. Auch ich... das Wort ist mir nicht fremd... wie gut versteh ich ihn...« – »Welches Wort?« – »Der Gang in die Wüste... wie gut versteh ich ihn... Merkwürdige Analogie...«
Bettina, schmal und blaß, stand nachdenklich da. Kerkhoven sagte mit entschlossener Herzlichkeit: »Nun setzen Sie sich einmal ruhig hin, verehrte Frau, hören Sie auf, Ihre armen Hände wundzupressen, erzählen Sie mir noch einmal ganz genau, was man Ihnen am Telephon gesagt hat, und dann wollen wir die Sache friedlich besprechen.« Sie sah ihn gespannt an, mit dem dankbaren Vertrauen, das seit gestern in ihr emporgewachsen war wie eine jener sagenhaften Pflanzen, die unter den Blicken eines Fakirs sichtbar sprießen sollen. Denn sie bedurfte des Vertrauens zu einem Menschen. Nach nichts in der Welt verlangte sie mit solcher Inbrunst. Sie gehorchte also, setzte sich ihm gegenüber und wiederholte Punkt für Punkt ihre Unterhaltung mit dem Mädchen zuhause. Den Arm auf das Knie, den Kopf in die Hand gestützt, hörte Kerkhoven zu. »Haben Sie vor Ihrer Abreise Streit mit ihm gehabt? oder nur eine Meinungsverschiedenheit?« fragte er, als sie geendet hatte. – »Nicht im mindesten.« – »Haben Sie eine Verstimmung an ihm beobachtet?« – »Verstimmung... mein Gott... er ist verstimmt seit Jahr und Tag... ein schwacher Ausdruck: Verstimmung...« – »Gut. Einen abnorm freudlosen Zustand nehme ich ohnehin an, dafür zeugt auch der Brief... ich meine nur, ob ein besonderer Anlaß zu irgendeiner... einer Extravaganz vorlag?« – »Ich wüßte nicht... nur das Gewöhnliche... das tägliche Brot des Schreckens...« Sie lächelte etwas fahl. – »Er ist wohl überhaupt kein Mensch, der zu Extravaganzen neigt... zu plötzlichen Ausbrüchen? Oder?« – »Nein, ganz und gar nicht. Er ist der gelassenste, gleichmäßigste, ausbalancierteste aller Männer...« – »Das würde ich auch denken.« – »Ja, schon...« sagte Bettina matt, »aber wenn man unter der Peitsche lebt, verfolgt von siebenunddreißig Advokaten, jeden Tag den Gerichtsboten im Haus, Prozesse, daß man nicht mehr weiß, wo einem der Kopf steht... kein Aufatmen, keine Lebenssicherheit, keine Hoffnung, daß es je wieder besser wird...« Plötzlich verkrampften sich ihre Züge, alle Beherrschtheit schwand, und vollkommen verzweifelt schrie sie auf: »Warum kann man sie denn nicht umbringen! Warum kann man sie denn nicht von der Erde vertilgen! Warum denn nicht!« Sie kehrte sich ab, schlug die Hände vor das Gesicht und preßte fassungslos ihre Stirn auf die Lehne des Sessels. Kerkhoven erhob sich und legte still die Hand auf ihren Scheitel. »Verzeihen Sie,« murmelte sie, heiß vor Scham, »verzeihen Sie mir. Es ist ja eine Sünde... Und es ist dumm. Aber manchmal glaub ich, ich kann nicht weiter... Und jetzt noch das mit Alexander... mir ist so entsetzlich bang...«
Kerkhoven sagte: »Hören Sie mich an, gnädige Frau, Sie werden in aller Ruhe nachhause fahren. Lassen Sie sich nicht quälen, wenn Ihnen die Stunden zu lang werden. Bestellen Sie sich ein Bett für die Nacht. Ich bringe Ihnen ein Schlafmittel, das keinerlei üble Nachwirkungen hat, und Sie werden sieben Stunden schlafen wie ein Säugling.« Sie lächelte mit nassen Augen. »Und wenn Sie mir Glauben schenken wollen,« fuhr er freundlich fort, »ich habe nicht den Eindruck, daß Ihrem Mann etwas Ernstliches zugestossen ist. Was ich vermute, ist, daß er seine Spuren verwischen wollte. Ich habe von einer Analogie gesprochen. Ich werde es Ihnen gelegentlich einmal erklären. Nun, meine Vermutung, die fast eine Gewißheit ist, beruht auf einem Analogieschluß. Er hält sich irgendwo verborgen. Er mußte aus der Kette heraus, verstehen Sie? Meiner Berechnung nach dürften Sie in zwei, längstens drei Tagen Nachricht von ihm haben.«
Bettina, voll Zutrauen und neuer Hoffnung, schaute zu ihm empor wie ein Kind zu seinem Lehrer. »Ja,« sagte sie, »ja... ich danke Ihnen ja so sehr... ich wüßte gar nicht, was ich ohne Sie...« – »Lassen Sie das,« unterbrach er sie lächelnd. »Was ich Ihnen hauptsächlich ans Herz legen möchte, ist dies: es könnte sein, es ist sogar höchst wahrscheinlich, daß Alexander Herzog... ich meine, das alles wird nicht ohne Folgen bleiben... eine Gemütsverfinsterung wird sich einstellen... sie kann krankhafte Formen annehmen... offenbar sind seine Nerven in hohem Grad zerrüttet... in diesem Fall benachrichtigen Sie mich. Telegraphieren Sie mir oder rufen Sie mich an; Steckborn, Haus Seeblick. Ich stehe zur Verfügung. Erscheint es Ihnen notwendig, auch nur wünschenswert, daß ich komme, so werde ich kommen.« Bettina schnellte auf und streckte ihm beide Hände hin. »Das ist das Tröstlichste, was Sie mir sagen konnten,« rief sie, »jetzt brauch ich doch nicht ganz zu verzagen!«