Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Das Auge des Blinden

        Durch das Marktgedräng von Namur
Stelzt ein armer narbger Krüppel.
»Leute, bringt mich zu Don Juan!«
»Schweigst du wohl! Da ist Don Juan!«

»Schweigst du wohl, blick auf! da ist er!«
In des Volkes Gasse reitet
Ein Gespenst am hellen Tage:
Don Juan der Österreicher –

Don Juan der Österreicher,
Der im Wein das Gift getrunken
König Philipps, seines Bruders,
Und Don Juan weiss den Mörder.

Seinen Mörder kennt Don Juan,
Auch den armen Krüppel kennt er,
Der den Bügel ihm betastet,
Der die Hand ihm deckt mit Küssen –

Der ihm deckt die Hand mit Küssen:
»Bin zerfetzt wie eine Fahne!
Wohne jetzt in Barcelona –
Braves Volk, bei meiner Ehre!

Braves Volk! es speist und tränkt mich:
›Alter, leere dieses Glas mir!‹
›Alter, kanntest du Don Juan?‹
›Sprich uns immer von Don Juan!‹

Immer sprech ich von Don Juan!
In den Schenken, an dem Hafen
Gab ich tausendmal zum besten
Bei Lepanto die Viktorie!

Die Viktorie von Lepanto
Gab ich tausendmal zum besten ...
Hergestelzt bin ich nach Flandern
Zu dem Abgott meines Lebens!

Helle Freude meines Lebens!
Sohn des Kaisers! Kind des Glückes!
Deines Volkes Held und Liebling!
Ruhmgekrönter junger Feldherr!

Junger Feldherr mit dem Lorbeer
In den goldnen Ringelhaaren,
Mit dem Himmel in den Augen,
Sonnig wie ein Engel Gottes!

Eia, schöner Engel Gottes! ...«
Durch die Menge, die des Todes
Bild betrachtet, geht ein Schauder.
Juan, der gespenstig bleiche,

Juan mit des Grabes Antlitz
Sucht erstaunt das Aug des Krüppels –
Ist es trunken? Lohts im Wahnsinn?
Es ist leer. Es ist erloschen!

Ist dem Tageslicht erloschen.
Don Juans zerstörte Jugend
Blüht in eines Blinden Auge
Fort in unversehrter Schönheit.

 


 


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