Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die wunderbare Rede

              Auf der Appierstrasse zieht ein Heer
Schnellen Schrittes, weit umwölkt von Staub.
Weiss am Horizont das Häusermeer –
»Rom ist morgen euer!« zeigt Sever.
»Flieget, Adler! Stosst auf euren Raub!«

Morgen? Rom sorgt sich um morgen nicht.
»Die Gladiatoren spielen heut!«
Weiber schmücken sich. Orestes ficht!
Manch unheimlich brennend Augenlicht
Blitzt im Spiegel, den die Sklavin beut.

Sänften hasten zum Theater schon,
Von Gewitterwolken überjagt,
Schwüle Blicke, die wie Fackeln lohn!
Ungeduldig finstre Brauen drohn: »Eilet Sklaven!«
Spiel ist angesagt!

Über Dach und Zinne ragt empor
Himmelhoch ein riesenstarker Bau,
Der ein Volk empfängt durch manches Tor.
Hinter seinem Mauerkranz hervor
Steigt es schwarz und schwärzer auf im Blau.

Drinnen drängen sie sich Sitz an Sitz,
Jede Stufe strotzt und wogt und schwillt.
Auf der Bühne züngelnd hell und spitz
Kurze Schwerter. Schimmernd flirrt ein Blitz,
Und ein erster Sprudel Blutes quillt.

Starren Blickes, blass vor Leidenschaft
Lauert vorgeneigt die Römerin
Auf die Sterbewunde – eine gafft
Lüstern, eine sinnt dämonenhaft,
Eine lauscht mit hartem Mördersinn.

An der rasch gedrehten Klingen Spiel
Haften Seelen gierig, ohne Zahl –
Traf der Stoss! Er sass. Ein Fechter fiel,
Wälzt sich um im Sand und ist am Ziel
Nach der kurz empfundnen Sterbequal.

Mark und Herz erschütternd gellt ein Schrei!
Dort auf dem Balkon ein Weib im Traum:
Um die Schultern wehn die Haare frei,
Und als ob sie die Sibylle sei,
Ruft sie ehern durch den vollen Raum:

»Wehe morgen! Fechter, du bist tot!
Gute Fahrt! Dir tun sie nichts zuleid!
Morgen wehe! Horch! Die Tuba droht!
Eine weite Flamme weht und loht!
Wehe! Sie zerreissen mir das Kleid!«

In das Morgen blickt sie voller Graun,
Schaudernd wie vor Blutes tiefem Strom,
Denn ihr Auge kann das Künftge schaun –
Es ist keine von den irdschen Fraun,
Es ist Rom! Es ist die Göttin Rom!

Vor dem Volk auf hoher Stufe ragt
Rom die Herrin in versteintem Schmerz,
Rom, vor welcher einst die Welt gezagt,
Jetzt die wunde, die geschlagne Magd!
Leid und Mitleid füllen jedes Herz.

Durch die Menge geht ein Flüstern leis,
Eine Rede schwirrt und irrt und rauscht,
Flutet höher, höher stufenweis,
Braust wie Meeresbrandung, füllt den Kreis,
Jeder spricht sie mit und jeder lauscht:

»Schande! Brandmal! Striemen! Sklavenjoch!
Wehe! Sie zerreissen dir das Kleid!
Ach wie lange noch, wie lange noch?
Stürbest, Göttin Roma, stürbst du doch!
Aber du bist voll Unsterblichkeit!«

 


 


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