Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Die gezeichnete Stirne

              »Weib, verrate mir, von wem gerufen
Du zur Leidgesellin dich gegeben?
Wer herunter dieses Kerkers Stufen
Dich gezogen, du mein süsses Leben?«

»König Enzio, keine Menschen haben
Mich vermocht im Kerker zu verbleichen!
Nein, ein Schicksal war mir eingegraben,
Meine junge Stirne trug ein Zeichen.

Unsre Väter nahmen dich gefangen
Und wir Kinder hattens bald erfahren,
Dass du nimmer wirst ans Licht gelangen,
König Enzio mit den Ringelhaaren!

Dass du nimmer tragen eine helle
Rüstung wirst, wo die Drommeten klingen,
Dass du nimmer rauschen Wald und Quelle
Hörst, noch einen freien Vogel singen!

Und wir Kinder lauschten sachte, sachte
Durch das Gitter in des Kerkers Tiefe,
Leis und heftig streitend, ob Er wachte
Schwerbekümmert oder ob Er schliefe –

Meine Stirne drückt ich an das Eisen,
Drinnen lagst du schlummernd, wie mir deuchte,
Blickte ... blickte, war nicht wegzuweisen,
Bis der Wächter drohend mich verscheuchte.

Mütterlein ersah mich und wehklagte,
Schlug die Hände jammervoll zusammen:
›Kind, wer hat dir in die Stirne‹ – fragte
Sie – ›gezeichnet dieses Kreuz von Flammen?‹

Hiess mich dann in ihren Spiegel schauen –
Teuerwerter Herr, so wahr ich lebe,
Eingezeichnet über meinen Brauen
Waren deines Kerkers Eisenstäbe!

Aussen wich das Zeichen, aber innen
Bliebs, da ich zur Maid erwuchs, geschrieben –
Herr, seit jenem Tag war all mein Sinnen
Dich und deinen Kerker nur zu lieben.«

 


 


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