Conrad Ferdinand Meyer
Gedichte
Conrad Ferdinand Meyer

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Fingerhütchen

            Liebe Kinder, wißt ihr, wo
Fingerhut zu Hause?
Tief im Tal von Acherloo
hat er Herd und Klause;
aber schon in jungen Tagen
muß er einen Höcker tragen;
geht er, wunderlicher nie
wallte man auf Erden!
Sitzt er, staunen Kinn und Knie,
daß sie Nachbarn werden.

Körbe flicht aus Binsen er,
früh und spät sich regend,
trägt sie zum Verkauf umher
in der ganzen Gegend,
und er gäbe sich zufrieden,
wär' er nicht im Volk gemieden;
denn man zischelt mancherlei:
daß ein Hexenmeister,
daß er kräuterkundig sei
und im Bund der Geister.

Solches ist die Wahrheit nicht,
ist ein leeres Meinen;
doch das Volk im Dämmerlicht
schaudert vor dem Kleinen.
So die Jungen wie die Alten
weichen aus dem Ungestalten –
doch vorüber wohlgemut
auf des Schusters Räppchen
trabt er. Blauer Fingerhut
nickt von seinem Käppchen.

Einmal geht er heim bei Nacht
nach des Tages Lasten,
hat den halben Weg gemacht,
darf ein bißchen rasten,
setzt sich und den Korb daneben,
schimmernd hebt der Mond sich eben:
Fingerhut ist gar nicht bang,
ihm ist gar nicht schaurig,
nur daß noch der Weg so lang,
macht den Kleinen traurig.

Etwas hört er klingen fein
nicht mit rechten Dingen,
mitten aus dem grünen Rain
ein melodisch Singen:
»Silberfähre, gleitest leise« –
Schon verstummt die kurze Weise.
Fingerhütchen spähet scharf
und kann nichts entdecken,
aber was er hören darf,
ist nicht zum Erschrecken.

Wieder hebt das Liedchen an
unter Busch und Hecken,
doch es bleibt der Reimgespan
stets im Hügel stecken.
»Silberfähre, gleitest leise« –
Wiederum verstummt die Weise.
Lieblich ist, doch einerlei
der Gesang der Elfen,
Fingerhütchen fällt es bei,
ihnen einzuhelfen.

Fingerhütchen lauert still
auf der Töne Leiter,
wie das Liedchen enden will,
führt er leicht es weiter:
»Silberfähre, gleitest leise« –
»Ohne Ruder, ohne Gleise.«
Aus dem Hügel ruft's empor:
»Das ist dir gelungen!«
Unterm Boden kommt hervor
kleines Volk gesprungen.

»Fngerhütchen, Fingerhut«,
lärmt die tolle Runde,
»faß dir einen frischen Mut!
Günstig ist die Stunde!
Silberfähre, gleitest leise
ohne Ruder, ohne Gleise!
Dieses hast du brav gemacht,
lernet es, ihr Sänger!
Wie du es zustand gebracht,
hübscher ist's und länger!

Zeig dich einmal, schöner Mann!
Laß dich einmal sehen!
Vorn zuerst und hinten dann!
Laß dich einmal drehen!
Weh! Was müssen wir erblicken!
Fingerhütchen, –welch ein Rücken!
Auf der Schulter, liebe Zeit,
trägst du grause Bürde!
Ohne hübsche Leiblichkeit
was ist Geisteswürde?

Eine ganze Stirne voll
glücklicher Gedanken,
unter einem Höcker soll
länger sie nicht schwanken!
Strecket euch, verkrümmte Glieder!
Garstger Buckel, purzle nieder!
Fingerhut, nun bist du grad,
deines Fehls genesen!
Heil zum schlanken Rückengrat!
Heil zum neuen Wesen!«

Plötzlich steckt der Elfenchor
wieder tief im Raine,
aus dem Hügelrund empor
tönt's im Mondenscheine:
»Silberfähre, gleitest leise
ohne Ruder, ohne Gleise.«
Fingerhütchen wird es satt,
wäre gern daheime,
er entschlummert blaß und matt
an dem eignen Reime.

Schlummert eine ganze Nacht
auf derselben Stelle;
wie er endlich auferwacht,
scheint die Sonne helle:
Kühe weiden, Schafe grasen
auf des Elfenhügels Rasen.
Fingerhut ist bald bekannt,
läßt die Blicke schweifen,
sachte dreht er dann die Hand,
hinter sich zu greifen.

Ist ihm Heil im Traum geschehn?
Ist das Heil die Wahrheit?
Wird das Elfenwort bestehn
vor des Tages Klarheit?
Und er tastet, tastet, tastet:
Unbebürdet! Unbelastet!
»Jetzt bin ich ein grader Mann!«
jauchzt er ohne Ende,
wie ein Hirschlein jagt er dann
über Feld behende.

Fingerhut steht plötzlich still,
tastet leicht und leise,
ob er wieder wachsen will?
Nein, in keiner Weise!
Selig preist er Nacht und Stunde,
da er sang im Geisterbunde –
Fingerhütchen wandelt schlank,
gleich als hätt' er Flügel,
seit er schlummernd niedersank
nachts am Elfenhügel.

 


 


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