Dante
Die göttliche Komödie
Dante

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Zweiter Gesang

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    Es rührte schon der Sonne lichter Rand
    Den Horizont, des Mittagskreis den Bogen
    Zum Scheitel über Zions Zinnen spannt;
Und gegenüber stieg aus Ganges' Wogen
    Die Nacht und kam, die Waage in der Hand,
    Die wachsend sie verliert, heraufgezogen:
Drum safranfarb bereits, wo ich nun stand,
    Vor Alter glänzt' Auroras holde Wange,
    Die weiß und rosenrot zuvor entbrannt.
Wir standen noch am Strande, wie wer lange
    Zuvor sich seinen Weg bedenkt und geht
    Mit Wunsch und Willen, eh der Fuß im Gange: 163
Und sieh! Wie Mars oft, eh der Frühwind weht,
    Sank er im West zum Meeresspiegel nieder,
    Rotglühend hinter dichten Dünsten steht,
So strahlte mir – o säh ichs einstmals wieder! –
    Ein Licht, und übers Meer hin flogs heran,
    Wie keine Schwinge schnellt ihr Fluggefieder.
Ich blickte fragend meinen Führer an,
    Und als ich wieder drauf mein Auge richte,
    Schiens heller schon, und größer ward es dann.
Nun strahlt' es beiderseits in weißem Lichte
    – Ich sah nicht, was –, und auch am untern Rand
    Kam weißer Schimmer mählich zu Gesichte.
In Schweigen alleweil der Meister stand,
    Bis in dem ersten Weiß sich Flügel zeigen;
    Doch als er nun den Fergen recht erkannt,
Da rief er: »Eile, dich in Staub zu neigen!
    Sieh, Gottes Engel: falte deine Hände!
    Siehst solche Boten nun herniedersteigen.
Sieh menschlich Werkzeug ihn verschmähn, als stände
    Kein Ruder ihm, kein ander Segel an
    Als nur sein Flügelpaar zur fernsten Lände.
Schau, wie so steil sich reckend himmelan
    Die Lüfte teilt das ewige Gefieder,
    Das nie, wie Erdenflaum, sich wandeln kann!«
Nah kommend nun und näher strahlt' er wieder,
    Des Himmels Flügelbote, lichtrer Helle,
    Daß in der Näh ichs nicht ertrug und nieder
Mein Auge senkte. Und sein Schifflein schnelle,
    Das leichte, ließ er ans Gestade gleiten –
    Das furchte kaum mit seinem Kiel die Welle.
Auf seiner Stirn den Glanz der Seligkeiten,
    Am Heck der gottgesandte Schiffer stand,
    Und mehr denn hundert Seelen ihm zur Seiten.
»Da Israel zog aus Ägyptenland«,
    Den Lobpsalm sangen sie und bis zum Ende
    Mit einer Stimme alle miteinand.
Noch hob er, segnend mit dem Kreuz, die Hände,
    Drauf warf hinab zum Strand sich Paar für Paar,
    Und er stieß ab, rasch, wie er kam zur Lände. 165
Die dort zurück am Lande blieb, die Schar,
    Blickt' in die Runde, landfremd, wie mich deuchte,
    Wie wer da lauter Neues wird gewahr.
Rings schnellte Pfeile lichten Tags die Leuchte
    Des Himmels, die vom Mittagskreise grad
    Mit flammendem Geschoß den Steinbock scheuchte,
Da hob zu uns die Stirne auf und bat
    Der neuen Pilger Schar: »So ihr imstande,
    Zum Berg zu gehen, weiset uns den Pfad.«
Virgil darauf: »Ihr wähnet hierzulande
    Des Ortes wohl uns kundig? Just wie ihr
    Fremdlinge sind wir selbst an diesem Strande;
Nur eben, eh ihr kamet, kamen wir,
    Auf andren Wegen, rauh und streng zu gehen,
    Daß Kurzweil uns bedünkt das Klimmen hier.«
Die Seelen, die an meines Odems Wehen
    Gewahrt, daß Lebenshauch mich noch durchdringt,
    Sie blieben blaß vor Staunen vor uns stehen;
Und wie den Boten, der den Ölzweig bringt,
    Um Kunde zu empfahn, in dichtem Schwalle,
    Sich drängend ohne Scheu, das Volk umringt,
So starrten mir die heilsgewissen alle,
    Die Seelen ins Gesicht, vergessend schier
    Die Heiligung von ihrem Sündenfalle.
Und aus dem Schwarme sah ich nahen mir,
    So sehnsuchtsvoll, mich zu umfahn, die eine,
    Daß gleichen Sehnens Drang mich zog zu ihr.
O Schemen, wirklich nur dem Augenscheine!
    Dreimal mit Armen wollt' ich ihn umfangen,
    Dreimal statt seiner Brust drückt' ich die meine.
Wohl malte Staunen sich auf meinen Wangen;
    Drum lächelt' er, dieweil er rückwärts wich,
    Und vorwärts drängend kam ich nachgegangen.
Von ihm zu lassen, bat er sänftiglich;
    Da kannt ich ihn und bat ihn, nach Gefallen
    Zu harren, Rede mir zu stehn, auf mich.
Und er: »Wie dort im Fleische du vor allen
    Mir lieb, so lieb ich dich, von ihm befreit.
    Gern wart ich. Doch warum mußt du hier wallen?« 166
»O mein Casella, daß ich einst bereit
    Zur Widerkehr, muß diesen Gang ich wagen«,
    Sagt' ich; »doch was nahm dir so lange Zeit?«
Und er: »Nicht darf ich über Unbill klagen,
    Wenn er, der aufnimmt, wen er will und wann,
    Die Fahrt mir mehr als einmal abgeschlagen:
Sein Wollen hält gerechter Will in Bann.
    Jetzt freilich nimmt er, seit drei Monden grade,
    Jedweden, wer da will, in Frieden an.
Auch mich, der damals harrte, zum Gestade,
    Wo Tibers Flut in Salz taucht, hingewandt,
    Auch mich nahm jetzt er auf in seiner Gnade.
Zur Münde dort er nun den Fittich spannt,
    Dort sammelt stets sich, was beim letzten Gange
    Nicht niederfährt zum acherontischen Strand.«
Und ich: »Wenn nicht die Lust am Minnesange
    Und seine Übung neue Pflicht dir wehrt,
    Der oft mein Herz gestillt mit seinem Klange,
O tröste meine Seele, die, beschwert
    Mit Fleisch und Bein, gewagt, hier einzudringen,
    Und sich in solcher Bangigkeit verzehrt!«
»Minne, die mir im Sinn ihr Wort läßt klingen . . .«,
    Begann er so holdselig, daß seither
    Im Innern stets mir tönt sein süßes Singen.
Der Meister, ich, der Pilger ganzes Heer,
    Wir standen freudevoll um ihn im Kreise,
    Als läg' uns sonsten nichts am Herzen mehr;
Andächtig lauschten alle seiner Weise –
    Da sieh, der Alte! »Säumige Seelen ihr,
    Was ficht euch an?« so rief der würdige Greise.
»Was soll die Lässigkeit, das Rasten mir?
    Zum Berge, auf, der Hülle los zu werden,
    Die Gott zu schaun dem Blicke wehret hier!«
Wie Tauben auf der Weide, die in Herden
    Voll Ruhe Körner picken oder Saat,
    Still, ohne die gewohnten Trutzgeberden,
Wie die, wenn irgend, was sie furchten, naht,
    Im Nu die Atzung lassen, weil dem Drange
    Gewalt ein übermächtig Drängen tat: 167
So sah ich lassen jene Schar vom Sange
    Und, wie wer flieht und weiß noch nicht, wohin,
    Enteilen gleich, hinan zum Bergeshange.
Nicht säumiger war unsrer Flucht Beginn.

 


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