Dante
Die göttliche Komödie
Dante

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Neunzehnter Gesang

        1


4


7


10


13


16


19


22


25


28


31


34


37


40


43


46


49


52


55


58


61


64


67


70


73


76


79


82


85


88


91


94


97


100


103


106


109


112


115


118


121


124


127


130


133


136


139


142


145
    Zur Stunde, da des Mondes kaltem Strahl
    Die linde Wärme muß des Tages weichen,
    Im Bann der Erde, des Saturns zumal; 237
Wenn Geomanten größten Glückes Zeichen
    Im Ost sehn aufgehn vor dem Morgengraun
    Auf seiner Bahn, die bald schon muß erbleichen:
Erschien im Traume, totenblaß zu schaun,
    Ein Weib mir, stammelnd, schielend durch die Lider,
    Verkrümmt den Fuß, die Hände abgehaun.
Ich sah sie an, und wie die Sonne Glieder
    Geschmeidigkeit macht, die nachts in Frost erstarrt,
    So gab auch ihr mein Blick die Sprache wieder,
Ihr Gang ward aufrecht, eh mans noch gedacht,
    Und lieblich malt' ihr die verblichne Wange
    Die Rosenröte, der die Liebe lacht.
Da so gelöst die Zunge, hob zum Sange
    Sie ihre Stimme, und mit Müh entwöhne
    Ich meinen Sinn von solchem süßem Klange.
»Ich bin Sirene,« sang sie, »bin die Schöne,
    Die Schiffsgesind betört auf hohem Meer,
    So lockend sind dem Lauscher meine Töne.
Ulyß auf seiner Irrfahrt lockt' ich her
    Mit meinem Singen, – wer sich mir ergeben,
    Wird satt an Lust und läßt mich nimmermehr.«
Kaum schloß den Mund sie, als ich niederschweben
    An mir vorüber raschen Fluges sah
    Ein' heilige Frau, die jene macht' erbeben.
»Virgil! Virgil! Sag, wer ist diese da?«
    Sprach sie, die Züchtige, streng, daß michs erschreckte,
    Und er, nur sie im Auge, faßte, nah
Vor jene tretend, ihr Gewand und deckte,
    Es vorn zerreißend, ihre Blöße auf,
    Daraus entstieg ein Pesthauch, der mich weckte.
Ich hob den Blick: »Komm«, rief mein Hort, »steh auf!
    Wohl dreimal ließ ich meinen Ruf erklingen;
    Laß sehen, wo ein Spalt uns führt hinauf.«
So stand ich auf; des heiligen Berges Ringen
    Strahlt' hoher Tag schon, leuchtend, und im Rücken
    Der neuen Sonne Strahl fürbaß wir gingen.
Die Stirn gesenkt, wie wen die Lasten drücken
    Des Denkens, folgt' ich ihm, wie wer im Gang
    Zum halben Brückenbogen sich muß bücken; 238
Und: »Kommt! Hier geht es aufwärts«, so erklang
    Mir eine Stimme, wie in unsern Reichen
    So lind und gütig nie erhört ein Sang.
Die Schwingen breitend, seine schwanengleichen,
    Wies er hinan, von dem das Wort erscholl,
    Wo klaffend des Gefelses Wände weichen;
Und fächelnd mit dem Fittich, friedevoll,
    Pries er sie selig, die da Leid getragen,
    Weil ihre Seele Trost empfangen soll.
»Was starrt dein Blick, zu Boden noch geschlagen?«
    So, da dem Engel wir zu Häupten dicht,
    Begann mein Weggeleiter mich zu fragen.
Und ich: »So läßt mich gehn ein neu Gesicht,
    So schwer von Zweifeln haftet mirs im Sinne
    Und läßt aus seinem Bann mein Denken nicht.«
»Du sahst«, sprach er, »die alte Unholdinne,
    Um die da droben Trän um Träne fällt,
    Und sahst, wie ihrem Netz der Mensch entrinne.
Wohl! Schlag die Fersen ein! Zum Himmelszelt
    Heb auf dein Auge: sieh das Lockbild grüßen,
    Das um euch kreisen läßt der Herr der Welt!«
So wie der Falk, blickt' eben er zu Füßen,
    Dem Rufe folgend seine Schwingen spannt,
    Um an der Beute seine Lust zu büßen,
So ich: den Spalt, drin Aufstieg litt die Wand,
    Stieg ich hinan, bis wieder einzubiegen
    Der Pfad begann, umkreisend ihren Rand.
Als ich im fünften Ring ihm dann entstiegen,
    Sah weinend rings umher ich die Geplagten
    Auf ihrem Angesicht am Boden liegen.
»Im Staub lag meine Seele«, so verklagten
    Sie sich mit Seufzern, tief und voller Leid,
    Daß ich mit Müh erlauschte, was sie sagten.
»Ihr, denen Hoffnung und Gerechtigkeit,
    Erwählte Gottes, lindern eure Plagen,
    Weist uns zur Höhe, wo ein Weg bereit!«
»Bleibt euch erspart die Pein, die wir ertragen,
    Und wollt den schnellsten Weg zum Berg ihr ziehn,
    Sei auswärts stets die Rechte, laß dir sagen.« 239
So bat der Dichter, und so lehrte ihn
    Dicht vor uns einer, und mein Ohr erkannte
    Am Klang des Worts, was sichtbar nicht erschien.
Die Blicke drum zu meinem Herrn ich wandte,
    Und liebreich winkt' er mir, daß nicht verwehrt,
    Was jener Blick erbat, den ich ihm sandte.
Und da ich frei, zu tun, was mich begehrt,
    Trat ich herzu, mich über ihn zu neigen,
    Den mir verriet das Wort, das uns belehrt.
»O Seele, der hier reift, was aufzusteigen
    Zu Gott dir hilft, in Tränen, laß um mich
    Ein Weilchen deine größre Sorge schweigen:
Wer warst du? Warum so nach oben, sprich,
    Kehrt ihr das Kreuz? Und sag, was zu begehren
    Dort, wo ich lebend herkam, blieb für dich.«
»Warum dem Himmel wir den Rücken kehren,
    Ich sag es dir«, versetzt' er; »doch zuvor
    Laß, daß ich Petri Folger war, dich lehren.
Strömt zwischen Chiavari und Sestris Tor
    Ein schöner Fluß, des Namens, seine Würde
    Zu krönen, meine Sippe sich erkor.
Nur Wochen spürte ich des Palliums Bürde,
    Wie dem, der fleckenrein es will bewahren,
    Daneben jede Last zur Feder würde.
Spät, ach, bekehrt' ich mich, bei greisen Haaren:
    Erst da zum Hirten ich von Rom ernannt,
    Hab ich des Lebens schnöden Trug erfahren;
Sah, daß mein Herz da keinen Frieden fand,
    Noch konnt ich dort im Leben höher steigen,
    Drum Lust in mir nach diesem hier entbrannt.
Zuvor war Argem meine Seele eigen,
    Gott abgewandt, von Habgier ganz verzehrt;
    Nun büß ichs hier, wie wirs im Staub dir zeigen!
Was Habgier an der Seele tut, das lehrt
    Die Buße dieser, die sich Gott ergeben.
    Der Berg hat keine Pein, die herber sehrt!
Wie dort zum Himmel nie sich konnt' erheben
    Das Auge, das auf irdischem Tand geruht,
    Läßts hier Gerechtigkeit am Boden kleben; 240
Wie Geiz die Liebe löscht zu dem, was gut,
    Und läßt zu gutem Werk die Kraft verschwenden,
    Läßt hier Gerechtigkeit in strenger Hut,
Also verstrickt an Füßen und an Händen,
    Uns liegen, ausgereckt, mit starren Gliedern,
    Bis dem gerechten Gott gefällt zu enden.«
Das Knie hatt ich gebeugt und wollt' erwidern,
    Doch als ich anhob und sein Ohr erkannt,
    Wie ich gewillt, vor ihm mich zu erniedern,
Da fragt' er mich: »Was liegst du so im Sand?«
    Und ich: »Ob Eurer Würde spürt' ich eben
    Gewissensbisse, da ich aufrecht stand.«
»Steh auf, mein Bruder, magst dein Knie erheben«,
    Versetzt' er, »Mitknecht, wisse, bin ich dir
    Und allen andern, einem Herrn ergeben.
Im Evangelium heißts: nicht frein sie hier;
    Hast du's begriffen, kannst du freilich sehen,
    Warum ich also reden muß von mir.
Doch geh nun! Sollst nicht länger bei mir stehen,
    Denn dein Verweilen stört im Weinen mich,
    Das, wie du sagtest, reift, was wir erflehen.
Mein Bruderkind, Alagia nennt sie sich,
    Lebt züchtig, wenn sie nicht vom rechten Pfade,
    Verderbt vom Beispiel unsrer Sippe, wich:
Die blieb mir einzig dort im Stand der Gnade.«

 


 << zurück weiter >>