Dante
Die göttliche Komödie
Dante

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierter Gesang

        1


4


7


10


13


16


19


22


25


28


31


34


37


40


43


46


49


52


55


58


61


64


67


70


73


76


79


82


85


88


91


94


97


100


103


106


109


112


115


118


121


124


127


130


133


136


139


142
    Gleich nah zwei Bissen, gleich verlockt von beiden,
    Stirbt Hungers, eh er einen führt zum Mund,
    Ein Menschenkind, das frei, sich zu entscheiden.
So zwischen zweier Wölfe Giereschlund
    Steht auch das Lamm, gelähmt von gleichem Zagen,
    Steht zwischen zweien Hinden auch ein Hund.
Stand ich drum schweigend, zwischen Zweifelsfragen
    Gleich jenen in der Schwebe, lob ichs nicht,
    Noch kann ich, was Natur gebot, verklagen.
Ich schwieg, doch heißer, als ein Wort es spricht,
    Zugleich mit solchen Fragen malt' im Flehen
    Mein Sehnen sich in meinem Angesicht.
Und Beatrice konnt's wie Daniel sehen,
    Der, als Nebukadnezar Arges sann,
    Den Grimm beschwor, der Unbill hieß begehren,
Und sprach: »Zwei Wünsche, seh ich, ziehn dich an
    Von hier und dort, daß selbst sich muß verschränken
    Dein Drang und keine Luft sich machen kann.
Hält guter Wille stand, so mußt du denken:
    Wie kann Gewalt, die andre mir getan,
    Nach Recht und Fuge mein Verdienst mir kränken?
Dann weckt dir Zweifel, daß, wie hier wir sahn,
    Zu ihrem Stern die Seele scheint zu kehren,
    So wie von Plato Lehre du empfahn.
Die Fragen sinds, die gleich schwer dich beschweren.
    Die schlimmern Stachel birgt, will ich nach Pflicht
    Vorweg erläutern und dich lösen lehren.
Nicht dem Seraph nächst Gottes Angesicht,
    Auch keinem Sankt Johann noch den Patronen
    Israels, höre, selbst Maria nicht 321
Ward höhern Himmels Hege, da zu thronen,
    Als diesen Geistern, die du jetzt gesehn,
    Noch mehr, noch weniger Jahre dort sie wohnen.
Im Glanz des ersten Kreises alle stehn,
    Ungleich teilhaftig zwar am seligen Leben,
    Je wie sie spüren ewigen Odems Wehn.
Hier zeigen sie sich; nicht weil dies nun eben
    Ihr Platz: ein Zeichen ists vom niedren Stand,
    Der ihnen hier im Himmelreich gegeben.
So taugt die Kunde menschlichem Verstand,
    Der einzig mit den Sinnen kann erfassen,
    Was erst hernach von der Vernunft erkannt.
Drum leiht, sich eurer Einsicht anzupassen,
    Die Heilige Schrift Gott Füß und Hände zwar
    Und will euch andres doch verstehen lassen;
Und menschengleich stellt Gabriel euch gar
    Und Michael und ihn, der Not und Weinen
    Tobiä heilete, die Kirche dar.
Ein andres ist, was hier du siehst erscheinen
    Und was Timäus von der Seele lehrt,
    Will ers – so scheint es – nach dem Worte meinen.
Daß heim zu ihrem Stern die Seele kehrt,
    So sagt er, wähnend, daß aus diesen Ringen
    Sie kommt, wenn sie Natur dem Leib beschert.
Doch mag auch anders, als die Worte klingen,
    Die Meinung sein, und dann verdient er nicht,
    Daß ihr verlacht die Lehre, die sie bringen:
Meint er, daß Schimpf und Glimpf, je wie das Licht
    Der Sterne wirket, wider sie sich kehren,
    Dann streift sein Pfeil die Wahrheit haaresdicht.
Mißdeutet zwar, verführten solche Lehren
    Schier alle Welt, mit Namen sie fortan
    Als Jupiter, Merkur, als Mars zu ehren. –
Der andre Zweifel, der dich hält in Bann,
    Birgt mindres Gift, weil nimmer der das Meinen
    Böslich von mir hinweg mißleiten kann.
Will Unbill unser Recht und Urteil scheinen
    Dem Blick der Sterblichen, ists Grund allein,
    Zu glauben, nicht als Ketzer zu verneinen! 323
Doch weil in diese Wahrheit noch der Schein
    Der Leuchte dringt, die euch läßt unterscheiden,
    Magst nach Verlangen du befriedet sein.
Heißt das Gewalt, wenn, der sie hat zu leiden,
    Dem, der Gewalt tut, keinen Finger reicht,
    Entschuldet sie die Seelen nicht der beiden.
Nichts bricht den Willen, der nicht will. Er gleicht
    Des Feuerbrandes eingebornem Drange,
    Der tausendfachem Drucke nimmer weicht.
Beugt er ums Haar sich, folgt er selbst dem Zwange,
    Also auch diese, die den Weg gekannt,
    Wie man zum Heiligtum zurückgelange.
Hielt unerschütterlich ihr Wille stand,
    Wie auf dem Rost Sankt Lorenz standgehalten,
    Wie Mucius, grausam seiner eignen Hand,
Er trieb, sobald sie ledig der Gewalten,
    Zum Wege sie zurück, da sie verjagt, –
    Doch selten sieht man solchen Willen walten!
Erfaßtest du mit Fleiß, was ich gesagt,
    So wird zunicht, was sonst dich auf die Länge
    Mit Zweifeln noch so manches Mal geplagt.
Nun aber steht dir neue Wegesenge
    Vor Augen schon, und du erlahmtest gar,
    Eh selbst hinaus du fändest, im Gedränge.
Nie lügt, das, sagt' ich, sei gewißlich wahr,
    Die selige Seele, die im Himmelsrunde
    So nah der ersten Wahrheit immerdar;
Und nun vernahmst du aus Piccardas Munde,
    Dem Schleier blieb Konstanzes Liebe treu:
    Das, meist du, widerspräche meiner Kunde.
Sieh, Bruder: oft geschieht es, daß aus Scheu
    Vor Fährlichkeit, davor die Menschen zagen,
    Sie wider Willen tun, was Grund zur Reu.
So hat Alkmäon, wie die Lieder sagen,
    Die eigene Mutter, auf des Vaters Flehen,
    Unkindlich, nur aus Kindespflicht, erschlagen.
An solchem Beispiel sollst du mir verstehen,
    Wie oftmals Zwang und Wille sich verglich
    Und wie dann nicht entschuldbar das Vergehen. 324
Das Böse will der Wille nicht an sich:
    Er willigt drein, sofern vor härterm Schlage
    Ihm bangt, der treffen möchte, hielt' er Stich.
Den Willen meint' an sich auf deine Frage
    Piccarda; ich den andren: sie so gut
    Sagt drum die Wahrheit, wie auch ich sie sage.«
So wogt' einher des heiligen Stromes Flut,
    Vom Quell, draus alle Wahrheit fleußt, ergossen;
    So stillt' er ein und andren Dürsten Glut.
»O Liebe ersten Liebens«, überflossen
    Die Lippen mir, »Göttliche, deren Wort
    Mich tränkt und wärmt und Leben neu läßt sprossen;
Zu arm ist aller meiner Liebe Hort,
    Nach Dankespflicht Euch Huld um Huld zu weihen:
    So lohn Euch, der da sieht und kann, hinfort!
Nichts kann, ich sehs, dem Geiste Frieden leihen,
    Als wenn ihn jener Wahrheit Licht erhellt,
    Der ferne keine Wahrheit kann gedeihen.
Drin ruht er wie das Wild im Laubgezelt,
    Wenn er sie fand; und das ist ihm gegeben,
    Sonst wär das Sehnen eitel aller Welt!
Drum sprießt, ein Schoß, am Fuß der Wahrheit eben
    Der Zweifel, als der eingeborne Trieb,
    Von Höh zu Höh dem Gipfel zuzustreben.
Das macht mir Mut und Hoffnung, obs Euch lieb,
    Daß ich in Ehrfurcht, Herrin, fürder frage
    Um andre Wahrheit, die mir dunkel blieb.
Kann, wo Gelübde nicht gelöst, sein' Tage
    Genug wohl tun der Mensch mit andrem Gut,
    Das nicht zu leicht hier wiegt auf Eurer Waage?«
Mit Augen, göttlich so voll Liebesglut,
    Sah Beatrice da mich an, daß wieder,
    Von solchem Glanz bezwungen, wich mein Mut,
Und, schier entrückt, mein Auge schlug ich nieder. 325

 


 << zurück weiter >>