Dante
Die göttliche Komödie
Dante

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehnter Gesang

        1


4


7


10


13


16


19


22


25


28


31


34


37


40


43


46


49


52


55


58


61


64


67


70


73


76


79


82


85


88


91


94


97


100


103


106


109


112


115


118


121


124


127


130


133


136


139


142


145
    So weit von Tagsbeginn zur dritten Stunde
    Der Sphärentanz sich dreht, der, wie im Reigen
    Ein spielend Kind, ohn Ende schwingt die Runde,
So weit noch hatt ins Meer hinabzusteigen
    Die Sonne: Vesperstund war dort, und hier
    Mußt' eben Mitternacht der Weiser zeigen.
Und mitten schien ihr Strahl ins Antlitz mir,
    Denn weit schon mußten um den Berg wir schwenken,
    Und gradeswegs gen Abend schritten wir. 220
Da fühlt' ich blenden auf die Stirn sich senken
    Weit hellern Glanz, als ich zuvor empfand,
    Und staunt' und wußte nicht, was davon denken;
Drum hob ich zu den Brauen meine Hand
    Und machte sie, den Überschwang der Helle
    Zu dämpfen, mir zum Schirm ob deren Rand.
Doch wie ein Sonnenstrahl, von klarer Welle,
    Vom Spiegelglase gar zurückgeschnellt,
    In gleichem Sinn und von des Fall-Lots Schwelle
In gleichem Abstand, als er niederfällt,
    Nach jenseit wieder sich empor muß schwingen,
    Wie Meßkunst lehrt und beim Versuch erhellt:
So fühlt' ich Licht allhier ins Auge dringen,
    Das vor den Füßen rückgestrahlt mir schien,
    Und stracks zum Weichen meine Blicke zwingen.
»Was ist das, teurer Vater«, frug ich ihn,
    »Davor kein Schirm doch Schutz dem Auge spendet,
    Das wider uns da scheint heraufzuziehn?«
»Kein Wunder«, sprach er da, »daß noch dich blendet
    Das himmlische Gesind! Er ladet ein
    Zu jenen Höhn, der uns von dort gesendet.
Bald fügt sichs, daß du nicht mit Zagen, nein,
    Mit aller Wonne, die dir zu empfinden
    Natur verliehen, blickst in diesen Schein.«
Dem seligen Engel nahe, hört' ich linden,
    Huldvollen Gruß von seinen Lippen klingen:
    »Geht ein! Sollt sanfter jetzt die Stiege finden.«
Wir folgten ihm, und da wir weitergingen,
    Klang: »Selig die Barmherzigen!« ein Sang,
    Von rückwärts, und: »Getrost, dir solls gelingen!«
So stiegen wir, selbzweit, empor den Hang,
    Ich und der Meister; Frucht nun heimzutragen
    Aus seinem Wort gedacht' ich auf dem Gang.
»Was wollte«, wandt' ich mich an ihn mit Fragen,
    »Von dem, was nimmer mehreren gemein,
    Der Geist vorhin aus der Romagna sagen?«
Drauf er: »Was seines ärgsten Lasters Pein,
    Das weiß er jetzt! Was Wunder, wenn ers schelte,
    Daß, die drum weinen, nicht so viele sei'n. 221
Daß ihren Sinn die Welt auf Güter stellte,
    Die Teilung mindert, macht, daß so der Neid
    Mit seinen Seufzern euren Busen schwellte;
Hätt euer Sehnen aus der Zeitlichkeit
    Zur Himmelsliebe sich emporgehoben,
    Wär eure Brust vor solcher Angst gefeit:
Je mehr ihr eigen nennen, was dort oben,
    Je mehr des Guts hat jeder inne dort,
    Je heißre Liebe glüht im Bunde droben.«
»Mich hungert«, sagt' ich, »jetzt, nach deinem Wort
    Noch mehr nach Lösung denn zuvor im Schweigen,
    Und Zweifel heckts auf Zweifel fort und fort.
Wie kann, geteilt, ein Gut im Werte steigen,
    Daß all die vielen Eigner reicher macht
    Sein Schatz, als wenn er wenigen zu eigen?«
Und er zu mir: »Auf Irdsches nur bedacht,
    Schleicht alleweil dein Geist auf Erdenwegen;
    So wird das Licht der Wahrheit dir zu Nacht.
Es neigt der Liebe sich mit seinem Segen
    Da droben das unnennbar reiche Gut
    Wie dem, was leuchten mag, der Strahl entgegen
Und schenkt je mehr, je mehr schon flammt an Glut;
    So wächst, je mehr sich Liebe kann entfalten,
    Die Huld, die ewige, die auf ihr ruht.
Je mehr sich drum zu dem da droben halten,
    Je mehr zu lieben gibts, gibt rechtes Lieben,
    Und spiegelnd strahlt es wider, wers erhalten.
Hat dir mein Wort den Durst noch nicht vertrieben,
    So wisse: Beatrice sollst du sehn,
    Die stillt dir jeden Wunsch, der wach geblieben!
Nur sorge du, daß gleich den ersten zween
    Die andren Wundenmale bald sich schließen,
    Die nur, wenn sie dich schmerzen, dir vergehn.«
›Das frommt mir‹, wollt' ich sagen; sieh, da stießen
    Wir auf den nächsten Kreis, wo, voll Verlangen
    Zu schaun, mich meine Augen schweigen hießen.
Dort nahm mich jählings ein Gesicht gefangen,
    Und meine Augen, die entzückten, sahn
    Viel Volks in einer Tempelhalle prangen. 222
Und drinnen sah ich eine Fraue nahn,
    Die sprach mit mütterlich besorgtem Bitten:
    »Mein Sohn, warum hast du uns das getan?
Wir suchten dich und haben Pein gelitten,
    Ich und dein Vater . . .«, aber kaum verklangen
    Die Worte, als mir das Gesicht entglitten.
Und es erschien ein' andre, naß die Wangen
    Vom Tau, den Groll erpreßt um bittres Leid
    Und Kränkung, die von andren wir empfangen:
»Bist Herr der Stadt, um deren Namen Streit
    Selbst unter Göttern war«, schien sie zu sagen,
    »Draus allen Wissens Licht erstrahlt so weit,
Nimm an des kecken Armes dreistem Wagen
    Doch Rache, der umfangen unser Kind,
    Pisistratus!« Er aber schien zu fragen
Gelaßnen Blickes, gütig und gelind:
    »Wie büßt uns dann, der Übles sinnt, der Schlimme,
    Wenn wir verdammen, die uns liebreich sind?«
Dann sah ich welche, heiß entbrannt von Grimme,
    Die einen Jüngling steinigten und schrien:
    »Zum Tod mit ihm, zum Tod!« mit Donnerstimme.
Und schon zu Tod getroffen sah ich ihn
    Zu Boden sinken. Aber floh sein Leben,
    Sein Auge noch dem Himmel offen schien;
Sah ihn in solcher Not zum Herrn erheben,
    Das einen Stein erbarmt, sein Angesicht,
    Noch betend, seinen Würgern zu vergeben.
Da taucht' aus innrer Schau mein Sinn ans Licht,
    Sah, was leibhaftig um ihn her geschehen,
    Und ward des Trugs gewahr, der trüglich nicht.
Mein Führer, der mich also mochte sehen
    Wie einen, der dem Schlaf sich kaum entrang,
    Begann: »Was hast du, daß du wankst im Gehen?
Gehst ja schon diese halbe Meile lang,
    Wie wer vom Schlummer trunken oder Weine,
    Umflort den Blick, und schwankend ist dein Gang!«
»Trautvater«, bat ich, »hör mich an, ich meine
    Dir alle die Gesichte zu entdecken,
    Von deren Schau gelähmt mir das Gebeine.« 223
Doch er: »Mit hundert Larven magst du decken
    Dein Antlitz: nichts, was deine Seele sinnt,
    Sei's das Geringste, kannst du mir verstecken!
Was du gesehn, es mahnt dein Herz, geschwind
    Sich aufzutun, daß drinnen, dir zum Segen,
    Aus ewigem Quell der Strom des Friedens rinnt.
›Was hast du?‹ fragt' ich nicht, wie jene pflegen,
    So nur mit Augen schaun, die nicht mehr sehen,
    Sobald entseelt der Leib im Sand gelegen;
Ich frugs, auf daß du fester solltest stehen;
    So, daß die Frist des Wachens, eh sie schwand,
    Er nütze, spornt man den, der träg zu gehen.«
Gen Abend gings, den Blick vorausgesandt,
    So weit er trug, in jener Strahlen Regen,
    Die abendlich, hell leuchtend, dort entbrannt;
Und siehe, nah und näher, uns entgegen
    Kam näher, finster wie die Nacht, ein Rauch,
    Sich unentrinnbar breitend allerwegen,
Der nahm uns Sicht und freien Odems Hauch.

 


 << zurück weiter >>