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Graf Paul von Hoensbroech, der bekannte Kulturpolitiker, hat eine Broschüre erscheinen lassen, in der er sich – in Form eines offenen Briefes an den Vorstand des vierten hannoverschen Reichstagswahlkreises – mit der liberalen Politik auseinandersetzt. Wie Graf Hoensbroech liberaler Reichstagskandidat werden konnte, ist eines der vielen Rätsel, die die Fortschrittliche Volkspartei aufgibt. Er erscheint als ein mäßig konservativer Mann, der kein ausgeprägter Parteipolitiker ist, sondern seine Sonderziele hat; er ist beim Liberalismus gelandet, weil er für sie hier die tatkräftigste Unterstützung zu finden hoffte. Solche Männer, die in keine Parteischablone passen, haben oft einen scharfen Blick für das Wesen der Parteien. Da Graf Hoensbroech nicht »staatsmännisch« angekränkelt ist, sondern den Willen zur Tat hat, konnten ihm die Schwächen seiner Partei nicht verborgen bleiben; und er fühlte das Bedürfnis, sich mit ihr auseinanderzusetzen. So schrieb er in allerbester Absicht ein Büchlein, wie es kompromittierender für den Fortschritt noch kein Mensch geschrieben hat. – Ich sehe von einer Inhaltsangabe ab und lasse den Autor selbst reden:
Seite 25.
»Unsere Politik ist vielfach eine Politik der Wünsche und Velleitäten, der Reden und Phrasen; aber nicht eine Politik des harten Wollens und des konsequenten Tuns. Das Schreien nach Macht ist im Übermaße bei uns vorhanden; der Wille zur Macht fehlt. Wir haben viele geistreiche Köpfe, aber wenig harte Köpfe.«
Über die Wahlrechtsfrage heißt es (Seite 27):
»Wir reden und schreiben darüber, aber wir handeln nicht. In Bremen und Lübeck, wo unsere Partei herrscht, verweigert sie das gleiche und allgemeine Wahlrecht, und in der wichtigen Frage der Drittelung beim preußischen Dreiklassenwahlrecht treten wir mit den Nationalliberalen für Gemeindedrittelung ein! Und wie schwächlich ist unsere Haltung dem schlechten Kommunalwahlrecht gegenüber! Was tut der in Berlin allgewaltige Freisinn dafür?! Aus unserm heißen Wahlkampfe wissen Sie, wie diese unsere ›Wahlrechtssünden‹ mir immer und immer in Versammlungen vorgehalten wurden, und wie ich nichts anderes tun konnte, als ihr Vorhandensein mit Bedauern einzugestehen.«
Seite 28.
»Noch lange werden uns Flensburg und Niederbarnim vorgehalten werden, wo der Mandatshunger uns Brüderschaft schließen ließ mit den ärgsten Reaktionären.«
Und weiter:
»Ganz halb und ganz versagend ist unser Verhalten in den großen Kulturfragen.«
Seite 33.
»Welche ›Großtaten‹ vollführen wir nicht täglich und wie viele ›große‹ Männer gehören nicht zu uns? Und die Wirklichkeit? Von den ›Großtaten‹ habe ich schon gesprochen; von den großen Männern will ich schweigen, um nicht persönlich zu werden.«
Was der Verfasser über den Bülow-Block, über die Stichwahltaktik schreibt, werden sich die Herren in der Zimmerstraße nicht hinter den Spiegel stecken. Er spricht es offen aus, daß der Fortschritt die eine Hälfte seiner Mandate von links, die andere von rechts erschachert. Graf Hoensbroech, durch das oberflächliche und phrasenhafte Gebahren seiner Partei verstimmt, wollte eine freimütige Kritik an ihr üben. Daß aus seiner Arbeit mehr geworden ist, nämlich ein Steckbrief der Fortschrittlichen Volkspartei, hat ganz gewiß nicht in seiner Absicht gelegen. An der Fortschrittlichen Volkspartei reformieren wollen, ist ein Versuch am untauglichen Objekt. »Wenn ein Affe in den Spiegel sieht, kann kein Apostel herausschauen« – so ähnlich sagt Lichtenberg irgendwo.
Wir Demokraten wollen uns dieses Sündenbrevier merken und es der Maleficantin vor Augen halten, wenn sie wieder einmal die Tugendstolze spielt.
Der Linksliberalismus. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 50 Pf.
Das freie Volk, 30. November 1912