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Zwei Marneschlachten haben die albernen Phrasen von dem »dekadenten Frankreich« und dem »sterbenden Volk« bei uns nicht austilgen können. Die nationalistische Tagespresse denkt nicht daran, ihre alten Schlagwortregister einer Revision zu unterziehen, und selbst in rein schöngeistigen Zeitschriften begegnet man zuweilen Äußerungen, die von keinerlei Sachkenntnis gestreift sind. Mit Recht klagt einer der besten Kenner moderner französischer Geisteskultur, der Bonner Literarhistoriker E.R. Curtius, in seinem grundlegenden Buche »Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich«, daß das geistige Deutschland ein einheitliches Bild des modernen Frankreich nicht besitze.
»Von den ganz vulgären Zerrbildern, die mit dem Wort ›welsch‹ arbeiten und sich davon eine ganz besondere Wirkung erhoffen, sei geschwiegen. Ebenso von der breiten Schicht aller derer, die zwar weder Frankreich noch seine Literatur kennen, aber ganz genau wissen, daß dort alles Phrase, Oberflächlichkeit, Pose und Unechtheit ist. Bierbankurteile, und mögen sie auch aus Gelehrtenstuben erdröhnen, kommen nicht in Betracht.« ...
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In » Buch und Bild 1920«, der Jahresrundschau der Zeitschrift für Bücherfreunde, wird ein Roman des nicht gerade hochwertigen Claude Farrère zum Anlaß des folgenden geschmackvollen Ausfalles gemacht:
»... aber andererseits hat das Buch doch für uns Deutsche besondere Anziehungskraft, seine Krönung mit dem Goncourt-Preis symptomatische Bedeutung. Es bestätigt allenthalben den Satz auf Seite 170: ›Die französischen Kolonien sind recht eigentlich ein Müllhaufen, auf den aller Auswurf der Metropole kommt.‹ Die Preisrichter müssen doch diesen Ausspruch für richtig, diese Schilderung ihrer Landsleute für zutreffend gehalten haben. Wenn dem so ist, können wir nur das Volk bedauern, das so tief gesunken ist; für die Zukunft der oberen Gesellschaftsschicht Frankreichs bleibt nichts mehr zu hoffen. Und das muß auch den Feind dieses heutigen Frankreichs mit Trauer erfüllen.«
Der Roman des vielschreibenden Marineoffiziers Farrère ist uns vollkommen gleichgültig. Belanglos ist auch, daß dem Autor der Goncourt-Preis von 5000 Franken zugefallen ist. Auch bei uns ist schon manches preisgekrönt worden, was eigentlich Prügel verdient hätte. Nicht gleichgültig aber ist es, wenn eine hochangesehene Zeitschrift einem Mitarbeiter erlaubt, Pauschalurteile über ein ganzes Volk zu fällen, die – gelinde gesagt – sehr unbedacht sind. Sehen wir ganz davon ab, daß es an und für sich unzulässig ist, über ein Volk in Bausch und Bogen zu urteilen, es lehrt uns auch ein Blick auf die deutsche Wirklichkeit um uns, wie wenig es angebracht ist, uns über das Treiben anderer moralisch zu entrüsten. Man sollte im wohlverstandenen Interesse des deutschen Glashauses, in dem man nun einmal wohnt, möglichst zurückhaltend sein. Und dann die üble Geste des Herrn Rezensenten, dieses klebrige, hochfahrende Mitleid! Wenn ein alldeutscher Polterer seiner Erbitterung gegen den nichtdeutschen Teil der Welt ungeschlacht und bierehrlich Öffnung verschafft, so ist das zwar ein lebendiger Beweis gegen die anfechtbare Hypothese vom Volk der Dichter und Denker, wirkt aber herzerfrischend neben dem erhobenen Pädagogenfinger muffiger Allerweltsschulmeisterei.
Hätte der Herr Literator auch nur ein wenig Ahnung von der geistigen Struktur des gegenwärtigen Frankreich, er würde wissen, daß gerade die junge Literatur einen leidenschaftlichen Kampf führt gegen Fäulniserscheinungen des modernen Lebens, die sich nicht auf Frankreich allein beschränken. Aber er weiß es nicht und will es nicht wissen; obgleich sein Name nicht genannt ist – ich halte die Wette! – er ist ein Oberlehrer!
Berliner Volks-Zeitung, 29. Januar 1921