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Allen guten Menschen, die als dernier cri den stieren Verzweiflungsblick ob der Zeiten Verderbnis auserkoren haben, sei, soweit sie belehrbar sind, dringend das Studium jener Zeiten empfohlen, die großen Krisen folgten. Man kann es leider gar nicht oft genug wiederholen, daß eine Menschheit, die Jahre abgründigsten Schreckens hinter sich hat, nicht in freundlicher Unbefangenheit an ihre alte Arbeit zurückkehrt, wenn diese auch nur im Rentenverzehren bestand. Der eine ist müde geworden, das sogenannte »bessere Ich« ist schlafen gegangen, und was man da unter Menschen wandeln sieht, das ist nicht mehr als ein Bündel künstlich aufgepeitschter Nerven. Der andere, dumpfer Triebmensch, erhebt sich zum erstenmal aus dem Unbewußten, und sein neues Wachsen ist eine einzige Begierde. Treiben wir keine Spiegelfechterei: wir alle sind heute entweder solche Eingeschlafene oder Erwachte. Man hat uns durch die Hölle gepeitscht und wundert sich nun, daß die letzten kümmerlichen Reste des Religionsunterrichtes dabei vollkommen untern Wagen geraten sind. Daneben gibt es noch spaßhaft veranlagte Zeitgenossen, die krampfhaft bemüht sind, all die Exzesse dieser Epoche der armen deutschen Revolution in die allzu engen Schuhe zu schieben. Ach, du bedauernswerte Göttin, du hast mehr gesündigt, als es sich selbst für die unpolitische deutsche Dame, die du bist, trotz gelegentlichen russischen Akzents, gebührt. Aber das hast du nicht verdient! Du sollst schuld sein an militärischem Zusammenbruch, an Putschen, Arbeitsscheu, Sittenverwilderung, Schiebertum, Kirchenaustritten und Schönheitsabenden? Immerhin, vor einem Jahr, da tratst du noch etwas imponierender auf, aber schon damals war leider nicht zu verkennen, daß deine Kleider nicht lang genug waren, um die Kothurne zu verdecken, und deine Stimme war mehr schrill als tönend. Aber die Schuldige bist du nicht. Nein.
Es besteht gar kein Zweifel: die deutsche Revolution ist ein schmächtiges Persönchen, und ihre Umrisse fordern zum Spott heraus. Sie hat nichts gemein mit der himmlischen Hetäre von 1830. wie sie Delacroix gemalt hat. Aber um sie Verführerin zu schelten, dazu gehört die ganze deutsche Temperamentlosigkeit und die Undankbarkeit. Wir wollen nicht aufzählen, was sie an Unterlassungssünden auf sich geladen hat. wir wollen hier erinnern an ihre einzige Tat – sie hat den Krieg beendet.
Für jeden halbwegs Vernünftigen sollte es außer Zweifel stehen, daß der militärische Zusammenbruch auch gekommen wäre ohne meuternde Matrosen und ohne Emil Barths russische Knallpistolen. Schlimmer noch: der Krieg wäre auf deutschem Boden zu Ende geführt worden, die Rheinlande hätten Nordfrankreichs Schicksal geteilt, und der Friede wäre schlimmer geworden als der Versailler. Das Gezeter wider die Revolution könnte wirklich humoristisch aufgefaßt werden, würde sich dahinter nicht eine neue Denkweise verbergen. Neu in ihrer zeitlichen Form, uralt in ihrem Inhalt: die Sehnsucht nach dem spießerlichen Idyll, nach der aufregungslosen Mittelmäßigkeit. Die alte Bürgerlichkeit, um eine neue Note vermehrt, ist wieder da. Ist die geheime Herrscherin der Stunde. Bürgerlichkeit nicht als sozialer Begriff, aber als seelischer Zustand. Da findet sich alles: Abneigung gegen das Ungewöhnliche, Scheu vor dem Erlebnis, Autoritätsdusel, Servilität, Verlangen nach geruhiger Verdauung. Das ist nicht der Citoyen der großen Revolution, nicht der wortreiche aber echt begeisterte Mann der Paulskirche, das ist jenes Lebewesen, das die zahlungsfähige Moral erfunden hat, das nur schwelen kann und niemals glühen, das die Ehrfurcht vor der Leistung nicht kennt, sondern nur das Ducken, wenn eine kräftige Faust droht. Niemals schlägt das Herz höher vor geistiger Tat, aber vor möglichst massiver Entfaltung äußerer Macht, da biegt sich der Rücken. So sieht unser neuer Beherrscher aus, verehrte Freunde, der Tonangebende nach einem Jahr Republik. Er ist es wirklich, mögen auch andere noch das große Wort führen. Er duldet es; liebt es sogar, daß er es nicht selbst zu tun braucht. Denn er betritt die Öffentlichkeit nur herdenweise, nie als Individuum, es ist so, als ahne er irgendwie seine traurige Figur. Er sorgt dafür, daß die Religion hübsch in der Schule bleibt. Nicht aus Religiosität, sondern weil der Mensch etwas glauben muß. Er sorgt dafür, daß wir nicht die Einheitsschule erhalten, damit die Bildung das Privileg seiner Söhne bleibt, die den Typ an Wissen bereichern – und deshalb gefährlicher! – fortsetzen. Er jammert über die Sittenlosigkeit und ist von der Notwendigkeit der Prostitution durchdrungen. Er stöhnt über den Verfall der Wirtschaft und macht Geschäfte, die die Valuta verhunzen. Er bleibt gleichgültig, wenn er an die Kriegsjahre zurückdenkt und vergießt Tränen bei dem Gedanken, daß Hindenburg in Zivil wandeln und sich von einem Frankfurter Juden ausfragen lassen muß. Die Presse fügt sich seinem Geschmack – er gibt der Republik, die er verwünscht, sichtbarlich das Gepräge. Mit wenig Hirn und viel Ellenbogen ist er dabei, auch die letzten Hindernisse aus dem Weg zu räumen. Ob es so bleiben muß? Das hängt ganz davon ab, ob endlich erkannt wird, daß dieser Bürger nicht der Repräsentant einer bestimmten Klasse, sondern einer bestimmten Denkart ist. Daß er nicht mit irgendeiner Wirtschaftsweise, wohl aber mit einer ganz bestimmten Erziehungsweise zusammenhängt. Das gibt ihm seine Macht. Deshalb ist er bodenständig und die einzige wirkliche Gefahr, die die deutsche Republik kennt. Wir müssen eilen, schon wächst er von Tag zu Tag. Schwächer wird die Flamme, die jäh aufloderte, und bald wird sie erloschen sein.
Monistische Monatshefte. 1. Januar 1920