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Ludendorffs Schatten

Der Pariser Zeitungsquell scheint in den letzten Tagen nicht so munter zu sprudeln wie gewöhnlich. Und das ist begreiflich. Es ist traurig, wenn Meldungen über »siegreichen Vormarsch«, die sich längst im Satz befanden und nur noch der Datierung harrten, plötzlich hinfällig werden. Vielleicht aber ist zur Enttäuschung noch eine natürliche Ermattung hinzugekommen, denn auch die bestgebaute journalistische Maschine bedarf nach andauernder Ölfeuerung einmal der Ruhe. Möglich, vielleicht sogar wahrscheinlich, daß in der französischen Öffentlichkeit während dieser notgedrungenen Atempause der Presse eine neue Besinnung eintritt, und daß man beginnt, die Dinge zum ersten Mal bei kaltem, nüchternem Tageslicht zu betrachten. Wenn die deutschen Proteste bisher, aus leichtbegreiflichen Gründen, wirkungslos blieben, – die englische Kritik in ihrer Beharrlichkeit muß sich doch einmal in das Bewußtsein des französischen Volkes einbohren; schreiende Ungerechtigkeiten, wie die in Oberschlesien, können nicht dauernd übersehen werden, ebenso wenig, wie bedeutende Teile des deutschen Volkes die Ungerechtigkeit von Brest-Litowsk trotz offiziöser Suggestionsarbeit nicht übersahen.

Es ist also nach der Unterzeichnung eine gewisse Entspannung eingetreten, und deshalb müssen die kommenden Wochen von der deutschen Regierung wie von allen Parteien und Politikern, die bereit waren, die Verantwortung für das Ja auf sich zu nehmen, in günstigem Sinne ausgenutzt werden. Zum ersten Male seit dem Kapp-Putsch genießt eine deutsche Regierung im Auslande wieder Respekt. Die Annahme des Ultimatums bedeutet keine Niederlage, sie kann eine neue und bessere Ära eröffnen, wenn man endlich von der Politik des Sichtreibenlassens, die seit Versailles leider vorherrschte, zu eigener Aktivität übergeht. Im vergangenen Jahre lebte man allzu gern von der faulen Hoffnung, sich schließlich doch um die eine oder andere der auferlegten Verpflichtungen drücken zu können, und die Handlung war allein auf der andern Seite; man ließ sich stoßen und drängen, und die Faust peinlich im Rücken spürend protestierte man. Das war unwürdig, unwürdig eines großen Volkes, das immerhin genügend Köpfe aufweisen sollte, die imstande sind, die Konsequenzen eines verlorenen Krieges zu erfassen. Damit muß endgültig gebrochen sein; die Annahme des Ultimatums hat auch jeden Rückweg, jeden Seitenausgang verrammelt. Vor uns die harte Tatsache, so wollen wir die betrüblichste Epoche neudeutscher Politik verlassen.

Die Deutschnationalen sind drauf und dran, die letzten Ereignisse zur Neupolsterung ihrer durchgesessenen Oppositionsbänke zu benutzen. Die Deutsche Volkspartei, die bei der Gelegenheit wieder einmal bewiesen hat, daß auch die allerbeste finanzielle Versorgung doch nicht imstande ist, einer Partei eine eigene Politik und damit die Legitimation zu verschaffen, wird nach der Pfeife der Hergt und Westarp tanzen und dabei gelegentlich nach links schielen.

Keineswegs würde sich auch die Sozialdemokratie auf eine solche Koalitionserweiterung einlassen. Es würde eine Frivolität ohne gleichen bedeuten, diese alte Koalition, die nun einmal die natürliche Koalition ist, durch solche Extravaganzen in Frage zu stellen. Diskutabel ist einzig die Erweiterung nach links, die Abrundung durch alle Parteien, die auf demokratischem Boden stehen und gewillt sind, die Verfassung zu schirmen Das ist um so leichter möglich, da die kommunistischen Gruppen in dem jetzigen Zustande der Auflösung immer mehr aufhören, für die beiden großen sozialistischen Parteien eine Gefahr zu bedeuten. Republikanische Sammlung sei die vornehmste Losung des Ministeriums Wirth.

Die politische Situation ist heute erfreulich eindeutig. Auf beiden Seiten hat sich zusammengefunden, was zusammengehört. Die Abstimmung über das Ultimatum war das Entscheidende. Daß sich nach einer nicht ungefährlichen Zeit der Verhandlungen hinter verschlossenen Türen schließlich doch eine stattliche Mehrheit gefunden hat, die Opfer an Geld und Gut und rückhaltlose Entwaffnung der Schießbude Escherich–Kahr für erträglicher hält als französischen Einmarsch, das bedeutet einen Sieg über den Geist der Revanche, über den nationalistischen Schwafel, über den Schatten Ludendorffs, der noch immer breit und trotzig über dem deutschen Volksstaate lag. Das zweite Mal ist es gelungen, diesen odiösen Schatten zu bannen. Das erste Mal war es durch die Niederwerfung der Kappisten. Daß man damals den Sieg nicht voll ausnutzte, ist der tiefere Grund eines unglücklichen Jahres deutscher Innen- und Außenpolitik. Und wieder hat instinktiv die Mehrheit des Volkes wider Ludendorff entschieden. Vielleicht ist es das letzte Mal. daß eine solche Möglichkeit in unserer Hand lag. Das ist die ungeheure Verantwortung der Regierung und aller Parteien hinter ihr, daß sie niemals wieder eine Situation herbeiführen mögen, die für die Feinde der Demokratie Erntetag bedeutet.

Berliner Volks-Zeitung. 14. Mai 1921


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