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Ich habe vor zwei Monaten an dieser Stelle die heutige Verfassung des Katholizismus in Deutschland zu schildern versucht. Es wäre ungerecht, den Protestantismus zu übergehen. Nicht daß er noch wie einst der natürliche Gegenpol der Kirche Thomas von Aquins wäre. Das ist heute die moderne unkirchliche Weltanschauung. Aber er hat gewisse deutsche Entwicklungsstufen in nicht fortzudenkender Weise beeinflußt und beansprucht noch heute einen hervorragenden Platz, eben unter Berufung auf seine bedeutsame Tradition. Mag man diese noch so hoch einschätzen, der Gegenwartswert hängt ab von Gegenwartsleistungen. Und diese fehlen.
Der derzeitige Zustand des Katholizismus kann vielleicht am richtigsten als eine gewisse majestätische Erstarrung bezeichnet werden. So ein Bild kann man nun auf die evangelische Kirche nicht anwenden. Da ist alles in Fluß, alles in Bewegung. Aber diese Bewegung ist durchaus zentrifugal. Sie strebt nicht nur von der Mitte hinweg, sondern trachtet durchweg danach, möglichst ganz von diesem geistigen Territorium fortzukommen, also mit einem Worte: die evangelische Kirche befindet sich mitten in einem Auflösungsprozesse. Und die einzigen Gemeinden, die von diesem Verfall nicht berührt werden, stehen schon seit längerem nicht mehr auf dem alten dogmatischen Boden. Der orthodoxe Lutheraner wird sie nicht anerkennen und ihr Blühen dem Teufel freundlichst anempfehlen.
Die katholische Kirche fühlte sich allezeit dem Staat überlegen; er war stets nur ein Teil ihres Gebäudes. Der Protestantismus war, im Gegensatz dazu, stets nur ein Organ des Staates, ein sozusagen geistiges Mittel zur Beherrschung der Untertanen. Der kleinste Bettelmönch hatte immer mehr Stolz im Leibe als der angesehenste Konsistorialrat und kuschte nur vor dem Mächtigen der Erde, wenn es die Politik seines Ordens gebot. Der protestantische Geistliche war immer der devote Kultusbeamte, der Gendarm mit Bibel und Talar. Ebenso wie seine Kirche keine geistige Macht war, sondern eben nur eine Behörde ... wie das Kriegsministerium und die Remontekammern. Als Luther seinen Pakt mit den Fürsten schloß, legte er den Todeskeim in sein Werk. Aus einem Versuch, das Christentum wiederherzustellen, wurde eine Sezession, in ihrem Wohl und Wehe gebunden an das Staatsgebäude, das ihr Kleider und Schuh gab. Essen und Trinken, Haus und Hof. Und Luthers Epigonen haben sich immer bemüht, Verdienst und Würdigkeit für diese guten Gaben zu erweisen, und evangelisch-kirchlich wurde gleichbedeutend mit »staatserhaltend«. Niemals bohrte das Verlangen, diese Fesseln abzustreifen. Niemals suchte man Beziehungen zu modernen Strömungen, die bereits eine Macht in der Welt bedeuteten, die aber der Staat mit scheelen Augen ansah. Wer es unternahm, wurde als ein Abtrünniger betrachtet. Das ist den alten Landeskirchen so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, daß sie mit ihrer neuen Freiheit einfach nichts anfangen können und die neue Zeit verfluchen, die die alten verrammelten Tore aufgesperrt hat. Da ist keine Vitalität mehr und keine Werbekraft – nichts als das Geflenne nach dem herrlichen Obrigkeitsstaat, den man so schön erhalten hat und von dem man so schön erhalten wurde.
Die evangelische Kirche, aus der einst Herder und Schleiermacher hervorgingen, ist heute eine Hochburg geistiger und mehr noch politischer Reaktion geworden. Und wer unbeschadet ihrer religiösen Unzulänglichkeit noch bei ihr verharrte, sei es auch nur aus alter Anhänglichkeit, den jagt heute ihre monarchistisch-militaristische Kaffrigkeit hinaus.
Die Novemberrevolution hat nicht viele von den alten Institutionen wirklich erledigt, aber eine sicherlich: – die Kirche Luthers!
Monistische Monatshefte. 1. Mai 1921