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»Die Szene wird zum Tribunal ...«
Momentbilder aus dem »Reigen«-Prozeß

Auf der Anklagebank nicht wie sonst Individuen, deren Körperlichkeit Lombrosos pessimistische Ideengänge bestätigt, sondern »Sladek und Genossen«. Herr Sladek als Direktor gut bürgerlich, mit goldener Brille äußerst reputierlich. Nur die »Genossen« haben sich größtenteils noch nicht recht in die neue Rolle hineingelebt. Liegt ihnen der Regisseur nicht? Wenigstens scheint der Herr Landgerichtsdirektor bei diesem Ensemble nicht die gleiche Geschlossenheit erreichen zu können wie Herr Hubert Reusch, der nun untätig hinter seinem Direktor steht und nur etwas sagen darf, wenn er gefragt wird. Ja, sie alle fühlen sich fremd und blicken aus erstaunten Augen auf das Tribunal und auf die außerordentlich reiche Sachverständigenkollektion, welche kein Geringerer als Gerhart Hauptmann eröffnet.

Gertrud Eysoldt folgt mit ruhiger Aufmerksamkeit der Verhandlung, und nur manchmal, wenn der Zeuge Faßbender von dem spricht, was er den »Sexualismus auf der Bühne« nennt, schüttelt sie ernst den Kopf. Die kleine niedliche Dame, die das Stubenmädchen spielte, verschwindet sitzend fast hinter der Brüstung, und man sieht nur ein Paar große braune, unendlich belustigte Augen. Weiß Gott, so ein Paar fidele Mädchenaugen widerlegen eindringlicher als ein langes Plaidoyer diese ganze Aktion der koalierten Vollbärte und Jägerhemden von Groß-Berlin.

Aber ganz hinten in der Ecke Herr Forster-Larrinaga. Glattrasiertes mageres Gesicht, etwas blasiert, etwas resigniert; aber irgendwo zwischen Mund und Nase hockt der Schelm. Herr Forster-Larrinaga, reichbegabt, Dichter. Schauspieler, Kapellmeister, Komponist, ist hier sozusagen der »Floh im Panzerhause«. Ein sehr kultivierter Sprecher, der ganz vorzüglich kurze mokante Sätze zu bilden weiß. Ein zwiefach Verdammter; er ist ja der Komponist der Begleitmusik, der die Anklageschrift bekanntlich einen »unanständigen Rhythmus« nachrühmt. Und Forster weist mit vollendeter Grazie den Ruhm zurück, das größte Genie des Jahrhunderts zu sein, nämlich den Normalrhythmus des Beischlafs entdeckt zu haben. Ja, diese inkriminierte Melodie ist von ihm bereits vor vierzehn Jahren als – »Tragischer Walzer« komponiert worden und bildet Abend für Abend die musikalische Unterlage einer Piece jener Lola Herdmenger, der Tänzerin von unantastbarer Dezenz. Unter den Zuhörern macht sich nach dieser Eröffnung die lang zurückgedrängte gute Laune plötzlich hörbar Motion. Der Herr Vorsitzende wahrt mit scharfer Betonung die Würde des geweihten Raumes. Und dann nochmals, wie Herr Kampers erklärt, er habe in zwei Aufführungen seiner Partnerin einen Klaps auf die Verlängerung des Rückens gegeben. Das sei auf Anordnung der Regie späterhin unterlassen worden. Herr Kampers fügt erläuternd hinzu, daß er die Derbheit süddeutschen Soldatenmilieus aus eigener Anschauung kenne. »Ach so, das ist süddeutsch«, bemerkt der Vorsitzende, und das Publikum feixt. Aber es war nicht als Witz gemeint.

Wolfgang Heine, der Stabschef der Verteidigung, macht an diesem Tage von den sonst so virtuos gehandhabten Waffen kaum Gebrauch. Die Zeugen der Staatsanwaltschaft sind auch zu kleinkalibrig. Der Herr Professor Faßbender wird von dem Kollegen Heines, Justizrat Rosenberger, wohlwollend in Behandlung genommen. Wie oft der Zeuge das Theater besuche, wievielmal etwa im Jahre, ob er seit zehn Jahren überhaupt im Theater gewesen sei. Immerhin wesentlich zur Beurteilung der Qualifikation. Und nach einer schwierigen halben Stunde ist es endlich heraus, daß der Zeuge seit geraumer Zeit außer einer »Hamlet«-Aufführung nur drei Stücke gesehen habe, und zwar ausschließlich solche, die bereits den Protest seiner Gesinnungsfreunde heraufbeschworen hatten. Der Verteidiger konstatiert, daß ihm das genüge, und dankt mit einer tiefen Verbeugung. Fast ein Theatercoup; die Spannung im Auditorium löst sich; Räuspern, unterdrücktes Kichern; die Stimmung neigt zu Applaus.

Dann noch eine brave alte Dame, die den »Reigen« überhaupt nicht gesehen, dafür aber eine Entrüstungskundgebung desto überzeugter unterschrieben hat; Herr Lizentiat Mumm hat ihr dieses eindrucksvolle Manifest überreicht.

Pause. In den Wandelgängen schwankt die Stimmung zwischen Heiterkeit und Enttäuschung. Wozu der Lärm ...? Und mitten zwischen dem bunten Volk der Bühnenkünstler und Literaten grau und kümmerlich das erboste Fußvolk der beleidigten Sittlichkeit. Eine Kollision zweier Welten.

Auch Sladek und Genossen haben die Armesünderbank verlassen und zünden sich unter dem Plakat »Rauchen verboten!« die lang entbehrte Zigarette an.

*

Am Sonntag mittag Lokaltermin im Kleinen Schauspielhause, das heißt Aufführung des beanstandeten Stückes vor Richter, Zeugen und Sachverständigen. Der Vorsitzende ruft die Namen der Geladenen auf und ermahnt, von Äußerungen der Zustimmung oder des Mißfallens abzusehen. Es tut der Stimmung keinen Abbruch; stille Heiterkeit zerniert die Tugendhaften. Ohne seelische Verwüstungen offensichtlich werden zu lassen, rauscht der »unanständige Rhythmus« vorüber. Die Gardine hebt und senkt sich; die Angeklagten von gestern sind wieder Künstler. Und nochmals: wozu der Lärm? Man seziert diese Bilder und Situationen und findet nichts, was auch nur im entferntesten geeignet wäre, die ungeschriebenen Gebote des Anstandes und der Delikatesse zu ramponieren. Wenn der Soldat und die Dirne oder die Schauspielerin und der Dichter tatsächlich ein öffentliches Ärgernis erregen, dann wird es allerdings höchste Zeit, Venus und ihren Tannhäuser mit einem Strafmandat auseinander zu treiben, besser noch, sämtliche berühmten Liebespaare der Weltliteratur der Korrektionsanstalt zu überweisen.

Berliner Volks-Zeitung. 8. November 1921


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