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Narrenparadies

»... meiner Ansicht nach ist die einzige Form, in der Deutschland im eigenen Interesse und im Interesse aller anderen Parteien seine Verpflichtungen praktisch erfüllen kann, das jüngst geschlossene Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich, das den wirklichen Schaden durch Sachleistungen wieder gutmachen will. Wir leben im Paradies eines Narren, wenn wir glauben, daß die Erzwingung der Zahlungen an unser Land uns einen Nutzen bringen wird. Aber wir sind ebensolche, wenn wir glauben, daß wir etwas von dem Gelde zurückerhalten, das unsere Alliierten uns auf dem Papier schulden.« Diese sehr vernünftigen Worte hat vor etwa anderthalb Wochen Herr Asquith, der Führer der oppositionellen Liberalen gesprochen. Vor einigen Monaten noch waren solche Äußerungen in England sehr häufig. Keynes machte Schule, und die große Septemberrede des Ministers Churchill mit dem bekannten weltpolitischen Aspekt bedeutete eine tiefe Verbeugung vor dieser Richtung. Dann kam das Wiesbadener Abkommen, und der britische Löwe zog sich gekränkt in seine Höhle zurück. Herr Asquith ist wohl der erste prominente Politiker, der wieder daran erinnert, daß weder die wenig hoffnungsvollen Verhandlungen mit Sinnfein und Ulster noch das Arbeitslosenproblem allein den politischen Horizont ausfüllen, sondern daß die großen internationalen Fragen, die seit Versailles zur Debatte stehen, noch immer der Beantwortung harren. Daß sie aktuell bleiben, auch wenn sich die englische Öffentlichkeit vorübergehend für andere Dinge interessiert. Oder so tut. Wie z.B. für Washington.

Auch die beiden Haager Konferenzen wurden mit sehr viel journalistischem Tamtam präludiert. Aber selbst damals war die innere Skepsis, mit der die Vertreter der großen und führenden Staaten erschienen, kaum stärker als diesmal. Wir haben von der Botschaft des Präsidenten Harding an immer wieder darauf verwiesen, daß es der seit Wilsons Abgang die Vereinigten Staaten regierenden Parteigruppe ohne Zweifel nicht an gutem Willen fehle, das Problem der Abrüstung energisch anzupacken und Vorschläge zu machen, die der antimilitaristischen Stimmung der Nachkriegszeit irgendwie entgegenkommen. Das war sicherlich Amerikas Absicht. Es war gern bereit, sein Möglichstes zu tun. Aber es hatte doch die Absicht, so gleichsam nebenbei den japanischen Imperialismus auf trockene Weise zu erledigen. Amerikas Macht und wirtschaftlicher Einfluß sind überragend; auch ohne ein paar Dutzend gepanzerter Kähne kann der Yankee, der Bankier der Welt, unbequeme und großsprecherische Rivalen zur Räson bringen. Das kleine Japan hat aber eigentlich nicht viel mehr als territoriale Aspirationen ohne rechte reale Unterlage und eine ansehnliche Militärmacht. Ein Soldatenstaat, der auf die Sendung wartet, die ihn zu Höherem berufen soll. Ein armer Staat, der Militarismus als nationale Industrie betreibt, und die Welt (des Ostens) nach dem bekannten Wort als die Auster betrachtet, die ihm sein Schwert einmal öffnen wird. Natürlich durchschaute Japan sofort den Trick, und sträubte sich gegen die Beschickung der Konferenz mit den wohlbekannten, bizarren Gliederverrenkungen seiner Grotesktänzer, die von seinen Künstlern auf unendlich vielen farbigen Blättern festgehalten worden sind. Es war in der Tat eine wenig beneidenswerte Situation für die gelben Diplomaten. Wenn alle von ihren Opfern sprechen, da kann der eine sich nicht ausschließen, ohne moralisch erdrückt und von der ganzen übrigen Welt als Friedensstörer gebrandmarkt zu werden. Wir glauben gern der Mitteilung des Herrn Barzini, daß die japanischen Delegierten in der Eröffnungssitzung der Konferenz, als der Staatssekretär Hughes mit einem, an den heutigen Verhältnissen gemessen, wirklich ziemlich weitgehenden Abrüstungsvorschlage für die Seestreitkräfte herausrückte, ein Bild des ärgsten Jammers boten. Heute können sie die Schlauköpfe wieder hochtragen. Sie haben Sukkurs erhalten. Der moralische Druck ist illusorisch gemacht worden. Europa ist in die Bresche gesprungen, Europa hat dafür gesorgt, daß alle Abrüstungsideen bis auf weiteres Theorie bleiben, gut genug für Doktordissertationen akademischer Weltfremdlinge.

Herr Briand hat das zerbrechliche Gefäß der Hoffnungen demoliert. Dabei hat er ohne Zweifel sehr »wirkungsvoll« gesprochen. Er kann das ja. Die harte Drommete der Schlacht liegt ihm ebenso gut wie die weiche Pansflöte, die all das gutgläubige Getier ködert. Er war auch klug genug, sich in Washington nicht allein auf die Fanfare festzulegen. Er vermied schroffe Töne, wie sie einst die weniger günstig instrumentierte deutsche Delegation im Haag beliebt hatte. Frankreich soll nicht als der Sündenbock dastehen, als der rauhe Marsjünger, der die Befriedung der Welt verhindert, nur weil er sich keinen anderen Zustand vorstellen kann und nichts anderes gelernt. Es galt, ein deutliches Nein zu sagen, ohne das Odium des Neinsagers auf sich zu nehmen. Das war vorauszusehen, mußte sich aus der ganzen Linie der französischen Politik ergeben. Herr Briand hat diese Aufgabe mit Geschick gelöst und damit die ganze Konferenz auf das Niveau eines Frühstückklubs herabgedrückt. Er gab ein reich bewegtes Freskogemälde der Gefahren, die Frankreich von Deutschland bedrohen. Er bestritt emphatisch, daß Frankreich den Hintergedanken hege, in der militärischen Hegemonie die Erbschaft des alten imperialistischen Deutschlands anzutreten. Dazu ist ganz kühl zu sagen, daß es sich hier nicht um einen »Hintergedanken« handelt, sondern um eine längst vollzogene Tatsache, die in dem Augenblick automatisch eintrat, als die deutschen Heere über den Rhein zurückfluteten. Die militärische Hegemonie Frankreichs ist keine versteckte Ambition, die Herrn Briand und seinen Unschuldslämmern von den deutschen Wölfen importiert wird und keine Fiktion exaltierter Teutonenhirne. Sie besteht seit drei Jahren und ist England und Italien wohlbekannt und ein Gegenstand äußerster Sorge. Gerade wir haben das zeitweilige Übergewicht eines stimmungsmäßigen Militarismus in Deutschland aufs schärfste bekämpft und es unwürdig und lächerlich genannt, den Bramarbas zu spielen, den Eisenfresser, dem die Waffen entwunden. Und es läßt sich nicht leugnen, daß trotz aller künstlichen Aufregung gegenwärtig eine gewisse Besinnung in Deutschland eingezogen ist und die nationalistischen Agitatoren häufiger als sonst vor halbleerem Saale ihre muskulösen Stimmbänder wippen lassen müssen. Es gibt kein besseres Mittel, um die junge Saat zu zerstören, als es Herr Briand anwandte. »Wir haben unsere Waffen hergegeben, und die andern denken nicht daran«, so wird es wieder grimmig und verbissen wie in den Blütetagen Escherichs heruntergebetet werden. Das offizielle Frankreich ist krankhaft mißtrauisch; es sieht im Antlitz Deutschlands immer nur die martialischen Grimassen, aber nicht die tiefen Kummerfalten. Es sieht die Renommiersäbel unverantwortlicher Schwadroneure, aber es versteht nicht, in den Augen verhärmter Mütter und sorgenvoller Männer den Wunsch nach Frieden zu lesen. Es wiegt sich im Wohlgefühl der militärischen Vorherrschaft in Europa und denkt auch gar nicht daran, sie höheren Interessen zu opfern, ebensowenig wie Japan seine Position in Ostasien, – nur daß es, psychologisch besser geschult, nicht ein so saures Gesicht machte, sondern seinen ablehnenden Standpunkt mit gleißenden rhetorischen Floskeln verbrämte. Wir kennen diesen französischen Standpunkt zur Genüge aus Ministerreden, Noten, Ultimaten, von Versailles, Spaa und London. Wir sind deshalb über Weise und Text nicht weiter überrascht. Und dennoch, diese feierliche Proklamierung nationaler Ichsucht durch den Sprecher Frankreichs da drüben jenseits des Ozeans, in der neuen Welt, erschüttert. Briands begeisterter Hymnus auf sein Vaterland war ein Plaidoyer für die Zertrümmerung Europas.

Und was wird sonst noch werden in Washington? Hat irgendeiner der vielleicht noch kommenden Beschlüsse irgendwelche Bedeutung, nachdem die Rede Briands »im Augenblick keinen ermutigenden Ausblick auf die Lösung der Frage der militärischen Rüstungen gegeben hat«, wie sich der alte Herr Balfour vorsichtig genug ausgedrückt hat. Chinas Unverletzlichkeit soll garantiert werden. Vielleicht auch die Immunität der Marsbewohner. Man garantiert die Unverletzlichkeit eines Hauses, aber man stellt ein paar Pulverfässer in den Keller. Man garantiert den Frieden der Welt, aber keiner der Garanten denkt daran, seine Streitkräfte zu reduzieren. Und verzichtete man selbst auf die Hälfte der schwimmenden Särge, Kriegsschiffe genannt, was bedeutete das?! Schon längst vor dem Krieg wies ein Marinefachmann, der englische Admiral Sir Percy Scott, darauf hin, daß ihre Zeit abgelaufen. Der Weltkrieg hat die unterseeischen Kampfmittel zur höchsten Vollendung gebracht. Und in den Laboratorien – nicht zuletzt den amerikanischen – werden für den Landkrieg die fürchterlichsten Giftgase vorbereitet. Aber das steht in Washington nicht zur Debatte. Weil es an den Nerv rührt. Weil keiner etwas von dem opfern will, was er für seine Überlegenheit hält.

Das Narrenparadies, von dem Herr Asquith sprach, – es beschränkt sich nicht auf den illusionsfreudigen Teil der englischen Bürger. Es ist überall da, wo Menschen über den Frieden reden, ohne die Waffe zu vernichten. Wo der eine, auf Grund eines umfangreichen Papiers in der Tasche, dem anderen den Fuß auf den Nacken setzt, und dieser wieder in solcher nicht gerade aussichtsvollen Position lamentiert, daß das ein Irrtum sei; er wäre ja gar nicht besiegt, er hätte nur ein paar Monate zu früh aufgehalten, und die Vergeltung werde schon kommen. Sie alle gleichen dem ahnungslosen Wanderer, der auf schmalem Steg, den Abgrund unter sich, die Augen zum blauen Äther richtet, um den Anblick der lieben Engelein zu erhaschen, die dort oben so wunderschön musizieren.

Berliner Volks-Zeitung, 24. November 1921


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