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Während diese Zeilen geschrieben werden, ist der Ausgang von Spa noch ungewiß. Entschieden ist zwar über die Militärfragen, aber um die weit wichtigeren wirtschaftlichen Probleme wogt noch das Redegefecht. Aber es soll uns in diesem Augenblick nicht darauf ankommen, ob Deutschland etwa in der Kohlenfrage Konzessionen gemacht werden oder nicht, wir wollen hier einmal darlegen, mit welchen Gefühlen diese erste und höchst bedeutsame Aussprache zwischen Siegern und Besiegten in Deutschland erwartet wurde. Wir glauben uns, indem wir uns an gewisse Imponderabilien halten und die Niederschläge der »realen« Politik, die Reden, Erklärungen, Artikel, Bulletins, Dementis beiseite lassen, eher imstande, die Frage zu beantworten, wie es möglich war, daß diese ersten Verhandlungen der deutschen Staatskunst eine so fast überirdische Blamage eintrugen und warum die Revision des Friedens, die eigentlich vom Tage der Unterzeichnung an zum geheimen oder offenen Programm der Anti-Chauvins aller Nationen geworden war. nicht fortzuschreiten vermag.
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Man hat im Laufe der Zeit gelernt, mit Pauschalurteilen über ein ganzes Volk sehr vorsichtig zu sein. Und wenn man die Deutschen so oft als »rettungslos militaristisch infiziert« bezeichnet, so ist daran unstreitbar sehr vieles richtig, aber man darf darunter nicht ohne weiteres das Schwärmen eines gesamten Volkes für die Freuden des Kasernenhofes und alle üblen Folgen eines mehr als selbstbewußten Militarismus verstehen. Im Gegenteil, die Kaserne ist von weiten Volksschichten immer als ein infames Zwangsinstitut aufgefaßt und dem Zuchthaus gleichgesetzt worden. Das eigentlich Vergiftende war die Institution des Reserveoffiziers, die es der lieben Jeunesse dorée und strebsamen Sprößlingen des Kleinbürgertums in die Hand gab, das persönliche Nichts mit der schimmernden Aura feudaler, also unbürgerlicher Anschauungsformen zu umkleiden und durch die zu rechter Zeit ausgespielte Suprematie des »vornehmsten Rockes« wenn auch nicht eine Persönlichkeit, so doch den Vertreter einer privilegierten Klasse vorzustellen.
Aber etwas lebte und atmete in jedem Deutschen, so wie er in den letzten Jahrzehnten erwuchs und damals, 1914, in den Krieg zog. Das war das Gefühl, einer starken und respektierten Nation anzugehören – einer Großmacht! Man kann das ohne Schwierigkeiten erklären. Durch Jahrhunderte war das alte Reich ein Jammerbild von Schlamperei und Duodez-Despotismus gewesen. Nun war ein Zug straffer Zentriertheit hineingekommen. Der Aufschwung war endlich da! Der Aufschwung, ja das ist das Wort. Und keines war beliebter in der wilhelminischen Ära. Großmacht und Aufschwung! Und auch die röteste Opposition war glücklich über ihr weites Paradefeld für den Aufmarsch der Arbeiterkolonnen. Aber als an jenem Novembertag der Kaiser, von den Ereignissen überrannt, ins fremde Land floh, die deutschen Heere hemmungslos zurückfluteten, da war das Phantom mit dem tönenden Namen zerblasen. Die deutsche Großmacht war nicht mehr. Die Zeit war für den Deutschen gekommen, seine politische Geistigkeit einer Revision zu unterziehen. Aber was bisher als zu betont vorgetragen worden war, um wirklich glaubhaft zu sein, das wurde nicht weggefegt durch den rauhen Wind der Niederlage, sondern zurückgedrängt in die Region des Unterbewußten. Und nun beginnt jener verhängnisvolle Prozeß, wie die von der Oberfläche verscheuchten, ins Dunkel verbannten Vorstellungen nach allen Seiten ausstrahlen, jeden politischen Gedanken durchsetzen, jede politische Handlung mit unsichtbarem Bande führen. Die Ausländer, die nach Deutschland kamen, rieben sich die Augen. Ja, mein Gott, sind diese Menschen denn alle besessen, hat sie denn dieser Ausgang gar nichts gelehrt?
Denn Deutschland ist nicht mehr Großmacht. Deutschland ist seiner Entschlußfreiheit beraubt. Deutschland ist abhängig. Deutschland ist Objekt. Deutschland ist hinabgedrückt in den Rang jener unseligen »Interessensphären« auf dem Balkan, im Orient. Was hat es Zweck, solche Tatsachen zu bewimmern? Wir müssen sie zu verstehen suchen. Aber viele unserer Volksgenossen wollen die sehr deutlichen Schriftzeichen der Geschichte nicht verstehen. Sehen sie überhaupt nicht. Reden und schreiben, als wär es nie gewesen. Belügen sich damit, es hätte ein geheimer tückischer Feind ihre Front hinterrücks erdolcht. Bestreiten überhaupt die Niederlage. Und doch haben einmal vergötterte Feldherren ein kleinmütiges Bittgesuch um Waffenstillstand dem Gegner überreicht. Ist einmal der Gefeiertste unter ihnen, Leichenhügel hinter sich, bei Nacht und Nebel flüchtig geworden. Sie aber leben, als wäre es nie gewesen ...
Das sind so die psychologischen Voraussetzungen der Tragi- Farce von Spa. Man redet Wochen vorher unendlich viel von Stolz und Würde, patscht in Begeisterung hinein und übersieht darüber die Situation. So hat man schließlich nach wochenlangen Diskussionen nichts eigentlich Positives vorzulegen, man geht schließlich hin mit nichts anderem – als den Konzepten sorgfältig memorierter Reden. Der Vertragspartner will verhandeln, will Sachlichkeit, will Anschaulichkeit. Aber man ist leider nur mit Redeblumen gerüstet. Man will sein Elend herausstöhnen, Supplikant sein zu müssen. Schrankenlos avancieren die Bataillone von Ressentiments. Drüben Enttäuschung, Ärger, Verwirrung. Der weltkundige deutsche Außenminister verfolgt mit feuchten Fingern den oratorischen Spagatregen, der auf die Häupter der Herren Lloyd George und Millerand herniedergeht.
Es ist das aus Volksversammlungen bekannte Bild. Nach einigen wohlversierten Rednern erscheint schließlich der kühn gewordene Bönhase auf der Rostra. Redet zu diesem und jenem, nur nicht zur Tagesordnung. Der Vorsitzende ersucht, zur Sache zu sprechen. Zwecklos. Das Publikum beginnt zu feixen und der Unglückliche steht oben, atemlos und wortlos, und blättert rot und konfus in seinen Notizen.
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Deutschland hat viele Gelegenheiten versäumt in den letzten Jahren: Spa ist die schlimmste. In San Remo war ein Element in den Verhandlungen der Alliierten, das neuen Kurs verhieß. Die wirtschaftliche Seite des Friedensvertrages ist unhaltbar, die territoriale fehlervoll, der Völkerbund nur ein Wechsel auf die Zukunft. Das alles schrie nach Korrekturen. Nur eines stand fest, unumstürzbar: – die Abrüstung. Da platzte in die mildere Witterung von San Remo jene alles zerstörende Gelbkreuz-Note hinein, die das Gesuch um Beibehaltung von 200 000 Mann enthielt. Darin wortwörtlich: »Die Erfahrungen haben gezeigt, daß auch im Bürgerkrieg schwere Artillerie nicht entbehrt werden kann. Jede der zwölf Infanterie-Divisionen muß je ein Bataillon schwerer Artillerie haben. Diese Kampfmittel müssen sofort zur Stelle sein, um gleich bei Beginn des Kampfes die Moral des Gegners zu brechen.«
Es steht außer Zweifel, daß man weder mit 100 000 noch mit 200 000 Mann den Vergeltungskrieg eröffnen kann. Auch die Frage der Entlassung und anderweitigen Unterbringung der Leute ist unendlich schwierig und kann die Gefahr neuer Baltikumer-Intermezzi heraufbeschwören. Vermittlungs-Vorschläge wären am Platze gewesen. Aber niemals ein Gesuch, die Waffen behalten zu dürfen. Das mußte neues Mißtrauen erwecken, der Pariser Boulevardpresse willkommenen Anlaß geben zu neuen Verdächtigungen. Zudem ist es mehr als bekannt, ein wie unsicheres Instrument in der Hand der republikanischen Regierung diese Reichswehr bildet. Der objektive Beobachter fühlt sich verleitet, den Regierenden zuzurufen: Seid doch heilfroh, wenn ihr davon die Hälfte loswerdet, und die Einwohnerwehren dazu, diesen Landsturm der monarchistischen Gegenrevolution! Und warum wollt ihr die paar Haubitzen retten und die Flieger? Habt ihr wirklich keine anderen Sorgen?
Wer in den letzten Wochen deutsche Zeitungen las, der mußte angesichts der verzweifelten Schreie nach Monturen und Kanonenläufen sich wirklich fragen, ob Deutschlands Wiederaufbau für diese Leute tatsächlich von der Quantität der Waffen abhängig sei. Die erste Zusammenkunft mit den Vertretern der alliierten Mächte, sie hätte reserviert bleiben müssen für das rein Wirtschaftliche. Es fehlt nicht an Problemen. Statt dessen verplempert man drei, vier kostbare Tage, nur um ein paar Fetzen graues Tuch als Siegeszeichen mit nach Hause bringen zu können. Anstatt daß die Presse, etwa von San Remo an, ihre Spalten den besten Wirtschaftskennern geöffnet hätte, um die ökonomische Restitution Europas zu erörtern, wird Tag für Tag mit kompromittierender Gewissenhaftigkeit alles verbucht, was einen Riß im Gebäude der Entente bedeuten könnte. Wird frohlockend mitgeteilt, der englische Premier hätte zu dem und dem Termin ärgerlich dreingeschaut, der französische Kollege mit sofortigem Abbruch der Verhandlungen gedroht. Herr Nitti aber dazu geschmunzelt.
Erste politische Tugend: auszusprechen, was ist! Aber nein doch, man sieht sich nach dem um. was man so gerne möchte. Man steht vor härtester Wirklichkeit. Aber man verkapselt sich in Fiktionen. Von trügerischer Hoffnung läßt man sich vergangen-zukünftige Größe vortäuschen. Das soll hinweghelfen über die Misere der Gegenwart. Um letzten Abglanz des Vergangenen, um ein paar Kanonen, ein paar Doppeldecker, turnt man hinweg über die Realitäten, spintisiert man in amtlichen Noten und wacht auf – im Verhandlungszimmer von Spa.
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Die Geschichte hat gerichtet über den machtgeschwollenen Deutschen der Bismarckzeit, über den kindlichen Patriotarden der Wilhelmszeit. Heute steht der Deutsche vor der Wahl, ob er mit der ruhmlos verblaßten Trikolore des letzten Kaisers der Narr Europas, oder in neuer Gesinnung das Ferment neuer internationaler Ordnung werden will.
Aber man kann nicht eine neue Welt verlangen, wenn man nicht einmal auf seinen alten Staat verzichten will. Erst die Revision einer unmöglichen Geistesart wird die Revision eines unmöglichen Friedensvertrages bedeuten.
Neue Schweizer Zeitung. 20. Juli 1920