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Heute vor 100 Jahren wurde in Rouen der größte französische Romancier seit Balzac geboren. Flaubert gehört ebenso wie Dostojewski zu den Gestalten, die für die gesamte moderne Literatur zum Schicksal geworden sind. In Deutschland sind Künstler wie z.B. Heinrich Mann und Max Brod, von vielen kleineren zu schweigen, ohne Flauberts Vorgang nicht denkbar. Es ist sein Verdienst, daß er den sozialen Realismus Balzacs von allem romanhaft überladenen Beiwerk befreite und mit dem kühnen Psychologismus eines Stendhal verband und in eine kristallklare durchsichtige Form brachte. Flaubert ist einer der größten Seelenkenner der Weltliteratur, zugleich einer der unermüdlichsten Kämpfer um den reinen Stil. Sein meistgelesenster und heute bereits klassisch gewordener Roman »Madame Bovary«, die Geschichte eines unglücklichen, an einem moralischen Defekt zugrunde gehenden Weibes, das zu einem Spielzeug lüsterner Männer wird, bedeutet einen Höhepunkt der Seelenmalerei, den keiner seiner Nachfolger erreicht hat und [der] sich durchaus auf der Linie der großen Russen hält. Flaubert, kränkelnd und menschenscheu, hielt sich von dem Getriebe der Welt fern; zu Lebzeiten war sein Ruhm nicht unbestritten und ein Pariser Brunner von 1857 erreichte es, daß die »Bovary« ein Verfahren wegen »Unzüchtigkeit« erdulden mußte. Unter Flauberts späteren Werken sind noch zu nennen die »Salambo«, der in einem kalten Glanze strahlende Karthagerroman, die »Drei Erzählungen« mit der »Herodias«, der Vorlage für Oskar Wildes »Salome«, und die »Education sentimentale«, in Deutschland gewöhnlich die »Geschichte eines jungen Mannes« benannt. In seinen Spätwerken wird Flauberts strenge Naturtreue und mitleidlose Objektivität oft von einem melancholischen Lyrismus überschattet. Er starb 1880 in Rouen. Seine Meisterschaft ist heute durchaus anerkannt, in Deutschland namentlich scheint er den viel gröberen Zola endgültig verdrängt zu haben.
Berliner Volks-Zeitung. 11. Dezember 1921