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Gustave Hervé, der bekannte französische Sozialist, stellt in seinem letzten (von Hermann Fernau übersetzten) Buche » Elsaß-Lothringen und die deutsch-französische Verständigung« folgende Prognose: Sobald die Aufteilung der Türkei vollendet ist, kommt Österreich an die Reihe; auf den kranken Mann am Bosporus folgt der kranke Mann in Wien. – Man braucht sich diese Prognose nicht ganz zu eigen zu machen und wird doch zugeben müssen, daß ein westeuropäischer Beobachter sehr leicht zu einem so pessimistischen Schlusse über Österreichs Zukunft kommen kann; Auflösungssymptome hat das vergangene Jahr ganz besonders deutlich gezeigt. Gewiß ist es nicht leicht, Österreich zu regieren. Die Grenzen dieses zusammengeheirateten Staatengebildes umspannen ganz willkürlich so und so viele Völker verschiedenen Blutes, verschiedener Sinnesart und verschiedener Kultur. Völker, die sich als Nachbarn vielleicht vertrügen, in dieser unnatürlichen Zusammenkoppelung aber sich am liebsten die Augen auskratzten. Sie haben noch nach Jahrhunderten unter der leider so erfolgreichen Hausmachtpolitik der Habsburger zu leiden, die das Geschäft des Regierens wie Pferdehandel betrieben. Die Zeit ist dahin, da eine solche Politik bewundert und gepriesen werden konnte; aber ihr Geist spukt noch immer in den Regierungsgebäuden Cis- und Transleithaniens.
Vergeblich sucht man in Österreich-Ungarn nach einem Willen, die nationale Vielheit zu einer Einheit zusammenzuschweißen; die Bourgeoisie nährt eifrig nationalistische Vorurteile und – fährt dabei nicht schlecht. Deutsche Unternehmer jammern über brutale Majorisierung durch die Tschechen und schleppen trotzdem tausende von böhmischen Arbeitern als Lohndrücker und Streikbrecher in die deutschen Städte hinein, um nachher Zeter zu schreien, wenn diesen Leuten der Kamm schwillt. Die polnischen Provinzen sind einer niederträchtigen Junkerkamarilla ausgeliefert. Die galizischen Wahlen sind ja in der ganzen Welt berüchtigt. (Die ungarische Schandwirtschaft soll gar nicht in diese Betrachtungen gezogen werden.) In den deutschen Provinzen herrscht die Plutokratie, überall dieselbe, ob sie sich liberal oder christlichsozial nennt. Die wirkliche Großmacht aber ist die Klerisei. Die ganze Gesetzgebung ist klerikal durchsäuert. Mit aller Kraft stemmt sich der Klerus auch der bescheidensten Entwicklung entgegen. Die Wirkung ist dementsprechend. Antisemitische Rempeleien sind auf der Tagesordnung. Im heiligen Land Tirol ist es noch mit Lebensgefahr verbunden, evangelisch oder gar altkatholisch zu sein. Als Handlangerin des Klerus fungiert eine tölpelhafte Bureaukratie, die im trauten Bunde mit der Zensur dafür sorgt, daß die Erinnerung an die Ära Metternich lebendig bleibt. Kunst und Wissenschaft werden geknebelt und sollen völlig unter die Botmäßigkeit der Kirche gebracht werden. – Gibt es keinen Ausweg aus dieser Misere? Wo ist der Wille zu bessern? Wo sind die Hände, um all diesen Staub und Unrat mit rauhem Besen wegzufegen?
Dabei sind die Klerikalen noch lange nicht zufrieden. Ihre große Hoffnung heißt Franz Ferdinand. In ihm sehen sie den Mann, der auserkoren ist, dem »verfluchten« Königreich Italien den Fehdehandschuh hinzuwerfen, den »Gefangenen« aus dem Vatikan zu »erlösen« und den Kirchenstaat wieder herzustellen. Diese törichten Hoffnungen dürfte wohl auch Franz Ferdinand nicht erfüllen. Bedenklicher ist schon, daß weite Kreise in ihm den künftigen Mehrer des Reiches sehen, den siegreichen Cäsar, der die Balkanfrage mit dem Schwert in der Hand lösen wird. Aber auch das sind letzten Endes nur Vermutungen. Tatsache ist, daß er unter pfäffischem Einflusse steht und daß seine Gattin, die Herzogin Hohenberg, um für ihre Kinder das Thronfolgerecht zu erlangen, sich mit Leib und Seele den Jesuiten verschrieben hat. Der Einfluß dieser Frau ist nicht gering. Ihr frommer Eifer wird von den Dienern der Kirche geschürt. Gilt sie doch als Haupt der Opposition gegen den Generalstabschef, der – ein glänzender Offizier, ein bedeutender Organisator (eine in Österreich nur spärlich auftretende Gattung!) – sich mißliebig gemacht hat, weil er – nicht oft genug beten ging. Es war das diplomatische Meisterstück des verstorbenen Kardinals Nagl, den Ehrgeiz der Herzogin Hohenberg als Hebel zu benutzen. Der Erfolg für die Kirche war glänzend. Die Schule ist ihr ausgeliefert; das vorsintflutliche Eherecht besteht noch immer. Das Land Joseph II. ist trotz Spanien das Musterland des Klerikalismus.
Die Klerisei hat also keinen Grund zum klagen. Im Gegenteil, die nationale Zerklüftung kommt ihr sehr gelegen. Desto mehr Kopfzerbrechen macht diese aber den weltlichen Behörden. Im vergangenen Jahr kam es wirklich zu einer Katastrophe: Böhmen mußte den Bankrott erklären. Das war die Wirkung der Obstruktionsspielerei. Die Lösung war echt österreichisch. Man hob die Verfassung auf und setzte eine bureaukratische Generalvormundschaft ein. Vernünftige Menschen hätten in diesem Staatsbankrott eine derbe Warnung gesehen; eine neue Konsolidation wäre nötig gewesen, denn der Staat ist doch kein Tummelplatz für Willkür aller Art. Aber man suchte das Problem anders zu lösen. Irgendwer entdeckte plötzlich in dem invaliden Völkerbrei die Sehnsucht nach Machtpolitik, und eine aberwitzige Kriegshetze setzte ein. Die »tapfere, glorreiche Armee« wurde mit den widerlichsten Schmeicheleien bedacht. Dazu war die äußere Politik fabelhaft ungeschickt. Sie verschaffte den schwarzgelben Imperialisten faustdicke Blamagen. Aber das Kriegsgeheul fand im Lande selbst ein wahrhaft deprimierendes Echo: den Fall Redl. Und das war nur der Anfang; denn das Jahr 1913 brachte einen wahren Hagelschlag von Korruptionsaffären. Und als letzte und duftigste Blüte stellt sich der Fall Dlugosz dar. Herr Dlugosz, der polnische Landsmannminister, der Liebling der galizischen Schlachta, der Favorit des allmächtigen Polenklubs, wird plötzlich gemeiner Verbrechen überführt. Nun ist großes Wehklagen. Wo kommen sie her, diese Katilinarier von Redl bis Dlugosz? – Nicht so naiv, ihr lieben Leute! Wo so reichlich mit Nationalismus gedüngt wird, ist der Boden für Korruption bereitet. Wo Junker, Pfaffen und Bureaukratie wirtschaften, wo der Absolutismus herrscht, höchstens gemildert durch den Egoismus kapitalistischer Koterien, da ist das rechte Feld für Marodeure.
Diese Interna könnten uns gleichgültig bleiben, wenn nicht Österreich unsere – sozusagen kontraktlich – befreundete Macht wäre. Es ist anzunehmen, daß unsere Regierung von dort aus reaktionär beraten wird. Auch ist die katholische Junkerschaft in Schlesien und Westfalen mit dem österreichischen Hochadel geradezu verfilzt. Der katholische Adel Preußens z.B., auch Bayerns und Sachsens, schickt seine Söhne mit Vorliebe in das österreichische Jesuitenkollegium Feldkirch. Eine viel schlimmere Gefahr aber birgt Österreichs provozierende Balkanpolitik in sich. Es wäre Pflicht unserer Staatsmänner, den Herren am Ballhausplatz hin und wieder einen derben Dämpfer aufzusetzen.
Es gibt in Wien auch genug Politiker, die in einem großen Waffengange den letzten Ausweg aus dem österreichischen Elend sehen: die eiserne Notwendigkeit soll die vielen Völker zusammenschmieden. Diese Kalkulation mag bestechend sein; sie ist aber grundverkehrt. Der Krieg ist kein Jungbrunnen; die Regenerationsarbeit muß an den Wurzeln der Kultur beginnen. Deshalb sind wir auch der österreichischen Sozialdemokratie zu Dank verpflichtet, die seit Jahren die große Masse der Arbeiter und Kleinbürger über das Wesen der nationalistischen und christlichen Demagogie aufklärt. Die Sehnsucht nach menschenwürdiger Lebenshaltung und Bildung in die Massen zu tragen, ist wirkliche Kulturarbeit. In diesem Sinne muß auch die Tätigkeit des Deutschen Schulvereins gewürdigt werden, der seit längerer Zeit für die freie weltliche Schule kämpft. Auch die freidenkerische und monistische Bewegung gedeiht trotz aller reaktionären Knebelungsversuche. In den freigeistigen Organisationen sind neben den Sozialisten bürgerliche Demokraten tätig, die, von der Geschäftspolitik der herrschenden Cliquen angewidert, der politischen Arena den Rücken gekehrt haben, um in aller Stille für die kulturelle Wiedergeburt ihres Vaterlandes zu wirken.
Von den bürgerlichen Parlamentariern Österreichs ist ebenso wenig zu erwarten wie vom Börsenliberalismus der großen Wiener Presse. Gewiß darf sich Österreich rühmen, das »temperamentvollste« Parlament Europas zu besitzen. Nirgends stoßen die Meinungen und Interessen so geräuschvoll zusammen. Man lärmt; man tobt; es setzt einen »Haderlumpen« nach dem anderen; aber wenn die Sitzung zu Ende ist, geht es im trauten Verein ins nächste Café. Aller Streit ist begraben. Man spielt Tarock; man toastet; man lacht; man erzählt galante Geschichtchen und freut sich des Daseins, das so schön ist – trotz der Pfandjuden. Der Haderlump von eben wird zum angenehmen »Spezi«. Gelt, Bruderherz, es läßt sich noch immer vergnügt leben in Neu-Sybaris! Da draußen freilich rollt eine andere Welt. In den Vorstädten fängt sie schon an, die Welt der Arbeit, des Elends und des Schmutzes – – –
Was schiert das uns?
S' gibt nur a Kaiserstadt; s' gibt nur a Wean –
Das freie Volk, 24. Januar 1914