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Niemals ist Dante, in dem Italien seinen größten Dichter und den Schöpfer seiner Sprache verehrt, in dem Maße deutsches Besitztum geworden, wie etwa Shakespeare. Vielleicht liegt es an seinem durch und durch romanischen Geblüt, vielleicht an der leuchtenden Pracht seiner Verssprache, deren Melodie noch kein Verdeutscher auch nur im schwächsten Abglanz erlauscht hat. Und dennoch beugen wir uns vor diesem Genius, drücken wir gern den immergrünen Lorbeer auf diese leidvolle Stirn. Denn Dante, das ist mehr als ein Name, das ist eine ganz bestimmte Vorstellung, eine Erinnerung an jene Bronzebüste von Neapel, deren Nachbildung ein jeder schon einmal gesehen hat und deren ungeheuerliche Schmerzerstarrtheit niemals wieder dem Gedächtnis entschwinden kann. Sein Leben trägt das Gepräge stolzen Leidens, und Stolz und Leid atmet sein Werk. Und wir, die uns vielleicht nur ein Hauch seines Wesen berührt, feiern ihn als einen der repräsentativen Genien der Menschheit.
Er war kein milder Mann. Er war hart wie seine Zeit. Sein Instrument war nicht die Hirtenflöte, sondern die Posaune des Gerichts. Die »Göttliche Komödie«, sein großes Gedicht, ist ein einziges Tribunal, vor das er sein ganzes Geschlecht gefordert hat, die Klugen und die Narren, die Helden und die Schelme, die Könige und die Priester, die Heiligen und die Huren. Dante Alighieri hat alle Höhen und Tiefen des Lebens durchwandern müssen. Er hat eine wollüstige Jugend gekannt und langes einsames Altern. Er hat jene kurze Liebe zu Beatrice Portinari erfahren und eine unselige Ehe. In die Parteikämpfe seiner Stadt Florenz gerissen, hat er als hoffnungsfroher Dreißiger seine Heimat als Verbannter verlassen müssen, um nie wieder dorthin zurückzukehren, um heimlos, gramverzehrt von Stadt zu Stadt zu wandern, vom »salzigen Brot« lebend, das ihm der Fürst von Verona und andere Machthaber gewährten.
In dieser Verlassenheit reifte sein Werk. Eine grandiose Traumphantasie. Ein langer, furchtbarer Gang in den Schoß der Erde, durch Hölle und Fegefeuer führend und schließlich im seligen Glanze des Paradieses endend. Wer niemals eine Zeile von Dante gelesen hat, der kennt doch diese entsetzliche Inschrift über dem Höllentor:
Ich führe dich zur Stadt der Qualerkorenen,
ich führe dich zum wandellosen Leid,
ich führe dich zum Volke der Verlorenen –
laßt, die ihr eingeht, alle Hoffnung schwinden!
Und dann in grauser Mitleidlosigkeit das Weltgericht, der ungeheure Totenreigen. Ein jeder in der Hölle, die er auf Erden sich geschaffen, weiterleidend in endloser Qual. Da gleiten sie vorüber, die Schatten, stöhnend unter der Vergeltung für ihre Missetaten. Tausendmal hat die bildende Kunst versucht, die Umrisse der Verdammten, die roten Dünste der Hölle festzuhalten. Und mitten zwischen den Sklaven der Macht, den Sklaven des Ehrgeizes, den Sklaven des Geldes, den Sklaven der Geschlechtlichkeit, dann, wie Tauben aneinandergeschmiegt, jene unsterblichen sündigen Liebenden, Paolo und Francesca, die der betrogene Gatte erschlug, und die Beichte der Francesca:
Wir lasen einst, weil's beiden Kurzweil machte,
von Lancelot, wie ihn die Lieb' umschlang.
Wir waren einsam, ferne vom Verdachte.
Das Buch regt' in uns auf des Herzens Drang,
trieb unsere Blick' und macht uns oft erblassen,
doch eine Stille war's, die uns bezwang.
Als wir von dem ersehnten Lächeln lasen,
auf das den Mund gedrückt der Buhle hehr,
da naht er, der mich nimmer wird verlassen,
da küßte zitternd meinen Mund auch er.
Ein Kuppler war das Buch, und der's verfaßte –
an jenem Tage lasen wir nicht mehr...
indes der eine Geist dies so beschrieb,
weinte der andere, daß vom Überwallen
des Mitleids ich betäubt und leblos blieb
und niederfiel, wie tote Körper fallen ...
Und heute trennt uns mehr als ein halbes Jahrtausend von Dante. Das Italien, dem sein Haß und seine Liebe galten, ist nicht mehr, die Menschen, denen er fluchte, sind längst zu Staub zerfallen. Aber über Jahrhunderte hinweg ahnen wir die unheimlichen Schauer dieser tragischen Seele, fühlen wir immer noch das heiße Herz pochen. Vieles, das meiste, ist uns fremd geworden, und dennoch senken wir unsere Blicke vor den erloschenen Augen und dem durchfurchten Antlitz jener Bronzemaske, das wie ein unerhört heroisches, irdisches Gehäuse einer verwirrenden, alle Formen sprengenden Fülle von Visionen erscheint. Diese Echtheit der visionären Kraft ist es, die die Zeit überbrückt und in dem katholischsten aller großen Dichter der Weltliteratur den ersten modernen individuellen Geist uns erkennen läßt.
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Die älteste Handschrift von Dantes »Göttlicher Komödie« (der berühmte »Codice Landiano« der Stadtbibliothek Piacenza, der im Jahre 1336, also 15 Jahre nach dem Tode des Dichters, auf 212 Pergamentseiten in Großfolio geschrieben wurde), erscheint zur Dante-Feier in einer Faksimiliwiedergabe bei Leo S. Olschki, eingeleitet von den Professoren A. Balsamo und G. Bertoni.
Berliner Volks-Zeitung. 28. Juni 1921