Walther von der Vogelweide
Gedichte
Walther von der Vogelweide

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Die Augen des Herzens

L. 99. Sumer unde winter beide sint

    Sommerlust und Winterfreuden sind
Gutem Manne, der nach Trost sucht, hold;
Doch an wahrer Freude bleibt ein Kind,
Wem sie niemals Frauenhuld gezollt!
   Darum wisse jedermann:
Alle Frauen soll man ehren,
Doch die beste steh voran!

    Ohne Freude taugt der Beste nicht,
Darum hab ich sie mir auserwählt,
Weil mein Herz, so oft es von ihr spricht,
Immer nur von ihrer Huld erzählt.
   Wenn mein Aug sich zu ihr schwang,
Bracht es stets so frohe Kunde,
Daß mein Herz vor Freude sprang.

    Daß ich sie so lange Zeit nicht sah,
Weiß der Himmel, wie es nur geschehn –
Sind des Herzens Augen ihr so nah,
Daß ich ohne Augen sie gesehn?
   Ist geschehn ein Wunder gar,
Daß mein Herz, das augenlose,
Sie gesehen immerdar?

    Fragt ihr mich, was es für Augen sind,
Die da schauen über Berg und Land?
Die Gedanken, die die Sehnsucht spinnt,
Sehn vom Herzen aus durch Dach und Wand.
   Hütet sie auch noch so gut –
Immer sehn sie scharfen Auges
Herz und Wille, Sinn und Mut.

    Werd ich jemals ein so selger Mann,
Daß sie mich auch ohne Augen säh?
Schaut mich ihr Gedanke jemals an,
Holdeste Vergeltung mir geschäh!
   Treue Neigung lohne sie,
Zeige mir auch guten Willen –
Mein Gedanke läßt sie nie!


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