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Steffen Tromholt war wirklich sehr berühmt. – So berühmt, daß selbst die kunstfremden Insassen des weltentlegenen Ostseebades wußten, was sie sich unter dem Namen vorzustellen hatten. Und keine zwei Tage vergingen, da hingen Ansichtspostkarten mit seinem Bilde, fix aus Berlin bezogen, in den Gemischtwarenhandlungen, die neben Badehosen, Muschelnetzen, Drops und Zigarren auch Artikel des künstlerischen und literarischen Bedarfs für Seelen, die es nach dem Höheren gelüstete, vorsorgend feilhielten.
Und wenn seine massige Gestalt, mit der ihm eigenen Unbekümmertheit, dröhnend auf den Bohlen des Steges dahinschritt, dann machte sich stets ein Gefolge von kichernden und zwitschernden Backfischen ehrfürchtig hinter ihm her.
Familienbäder gab es damals noch nicht. – Im Gegenteil, die Kabinen der beiden Geschlechter waren durch strenge Entfernungen und noch strengere Sittsamkeitsregeln voneinander getrennt. – Sonst würde er sich wahrscheinlich auch bei seiner morgendlichen Schwimmtour von einem Rudel rettungsbegieriger Nixen ins Meer hinaus verfolgt gesehen haben.
Im Kurhause – einer Holzbaracke mit papierdünnen Wänden und segeltuchbedeckten Veranden – hatte er Wohnung genommen. Die hochbusigen Thusnelden, die das Kellnerinnenamt versahen, bedienten ihn mit verschämtem Anlehnungsbedürfnis und wunderten sich, daß ihr hingebender Augenaufschlag keinem Verständnis begegnete. Der Wirt erkundigte sich nach seinen Lieblingsspeisen und schob ab und zu ein Autographenalbum samt eingetunkter Feder vor ihn hin.
Ja, so berühmt war er, daß selbst sein inniger Verkehr mit der Frau Landgerichtsrätin Senius keinerlei Anstoß erregte.
Was der heiteren, blonden Witwe niemals verziehen worden wäre, hätte der plötzlich dahergeschneite Freund dem schlichten Bürgertume angehört, gestaltete sich vielmehr zu einem Triumph, nicht bloß für sie, sondern auch für den ganzen Badeort, der ihr – und ihr allein – verdankte, daß ein so hervorragender Zeitgenosse sich herabließ, in ihm zu verweilen.
Und wenn sie morgens um neun mit noch feuchten Hängehaaren vom Damenbade her nach ihrer Wohnung ging – Mi samt dem kleinen Gekribbel hinter ihr her – dann sah sie sich stets von Gruppen teilnehmender Freundinnen angehalten, die ein unstillbares Verlangen beseelte, von dem Wesen und Gebaren des großen Künstlers unterrichtet zu sein.
Eine Stunde später – die kleine Brennschere hatte inzwischen gezeigt, welcher Künste sie fähig war – begann am Strande die Sitzung.
Ein halbwüchsiger Barfüßer trug Staffelei und Farbenkasten hinter ihm her. Die in den Blendrahmen gekeilte Leinwand hielt er vorsichtshalber selbst in der Hand.
Ein freudiges Begrüßen zwischen ihm und der kleinen Schar – ein paar Pralinees jedem der Gnomen ins Fäustchen gedrückt – und dann konnte es losgehen.
Sie wühlten, sie schaufelten, sie bauten Dämme und höhlten Kanäle, ohne sich noch viel um den Onkel zu kümmern, und nur sehr selten geschah es, daß Mama auf seine Bitte hin von diesem oder jenem ein kurzes Stillhalten verlangte.
Mit Buch und Häkelzeug saß sie auf einem Feldstühlchen dicht neben ihm, aber aus dem Lesen und Häkeln wurde nicht viel. Bald ein Schwatz und bald ein Schweigen – so rannen die Stunden dahin.
Alsbald hing der Mittagsglast als eine lichtgewobene Decke über der sonnentrunkenen Welt. In wohliger Schläfrigkeit nahm man Abschied. Auch er war müde geworden, und die Thusnelden warteten mit der Suppe.
Aber von vier ab war man wieder beisammen.
Auf dem Balkon stand eine goldgeränderte Kaffeetasse für ihn bereit, und die Nachbarn, denen er beim Begegnen vorgestellt worden war, empfingen durch zwei Glaswände hindurch seine lächelnden Grüße, die sie mit linkischer Beflissenheit erwiderten.
Ehe die Gnomen unter Mis verläßlicher Obhut zum Strande abzogen, kamen sie, artig Knicks und Bückling zu machen, wurden auf den Knien geschaukelt oder gar zu angstvollem Jubel hoch in die Lüfte geworfen, worauf zwei kraftvolle Malerhände, um die kleinen Hüften gespreizt, sie unversehrt zur Erde zurücktrugen.
Und die Nachbarn schauten in betulichem Wohlwollen zu und dachten sich romantisch erschauernd ihr ehestiftendes Teil.
Dann aber, wenn die Sonne im Sinken war, kam erst der Tage Gnadengeschenk. Das war der Spaziergang zu zweien, weit in die Wälder hinaus, wohin keines Fremden Fuß sich jemals verirrte, wo, wenn es hoch kam, ab und zu ein Holzfäller oder ein Forstadjunkt sich erblicken ließ, um nach flüchtigem Gruß zu verschwinden.
Da strömten in segnender Einsamkeit die Seelen unaufhaltsam zusammen, da wuchs aus Vertrauen Vertrauen, da einte sich Freimut mit Einfalt. Und diese Einfalt wurde ein Ahnen, furchtsam oft und erschrocken, wenn irgend ein Erlebnis allzu grell, allzu verwegen in die heilige Stille der wohlgehüteten Seele hineinschlug, aber dann auch sogleich zu kühnem Verstehen vorwärts drängend und sich verschenkend in gläubigem Hingegebensein.
Was er getan, war wohlgetan, weil er es getan; was er gelitten, mußte so sein, weil es ihn hochgerissen hatte.
Oh, er glaube nicht etwa, daß sie erst um ihn wisse, seit er berühmt geworden war! Früher schon, viel früher, waren er und sein Können ihr aufgefallen. Wenn sie und ihr Mann die illustrierten Zeitschriften durchblättert hatten, die der Journalzirkel ihnen lieferte, dann waren sie in Bewunderung den Skizzen gefolgt, die seine Marke aufwiesen.
Und ihr Rudo hatte oftmals gesagt: »Paß auf, der wird was!« Sie aber war dann ganz still gewesen. Warum? Das wußte sie selbst nicht. Aber sie hatte immer das Gefühl gehabt: darüber darf man nicht reden. Da muß man den Atem anhalten und warten, bis es sich ganz offenbart.
Und dann war seine »Winterschlacht« gekommen, von der das »Daheim« eine Nachbildung gebracht hatte. Wie die Verwundeten, Freund und Feind, zusammengekrochen waren, um einander zu wärmen, wie sie gemeinsam versuchten, ein Feuerchen anzumachen, das der Sturm wieder auswehte, und wie ein zerschossener Preuße einen sterbenden Österreicher auf seinem Schoße hielt und, da er nichts weiter für ihn tun konnte, ihm seinen warmen Atem gegen die erstarrenden Hände blies. Darüber hatte sie bittere Tränen geweint. Und in ihr war die Hoffnung auf eine bessere Zeit erwacht, in der die Menschen einander nicht abschlachteten, in der auf Erden endlich die Brüderlichkeit regieren würde, die das Christentum uns verheißen, aber niemals gebracht hatte.
»Sehen Sie, das alles verdanke ich Ihnen, noch bevor Ihr Ruhm die Welt zu erfüllen begann.«
Von Rührung durchzittert, hörte er ihr zu.
»Denken Sie,« sagte er, »das Jahr, in dem ich jene ›Winterschlacht‹ malte, war vielleicht meine schlimmste Zeit … Hungern kann man allenfalls beim Malen – ein robuster Kerl wie ich zehrt dann wie der Bär von seinen Pfoten –, aber frieren, das kann man nicht. Denn dann verklammen einem die Finger, geradeso wie jenem armen Österreicher, und man kann den Pinsel nicht halten … Und dabei nach außen den jungen Gentleman spielen! Anpumpen um Gottes willen nicht! … Denn dann ist's mit dem Nimbus vorbei … Und wenn man abends eingeladen ist, Sorge tragen, daß man nicht zu gierig futtert, damit niemand ahnt, daß man von früh an noch nüchtern ist.«
»Sie Armer!« seufzte sie, »und ich lebte immer im Überfluß!«
»Aber das war bei weitem noch nicht das schlimmste,« fuhr er fort. »Das schlimmste war, daß es keinen gab, der an einen glaubte … Daß man Mittelware ist, ja, das dulden sie, denn dann ist man ihresgleichen. Aber über sie hinaus wollen, dasselbe wollen, was die großen Meister gewollt und gekonnt haben, das scheint ihnen Vermessenheit und Aberwitz … Da muß man geduckt werden, klein gemacht werden, bis man zum Aasgeier des Erfolges wird – wie sie … Und wenn selbst auch der ausbleibt – au, dann weh uns! Wissen Sie, daß meine ›Winterschlacht‹, für die Naschke hernach manche Stange Goldes gekriegt hat, von der Jury zurückgewiesen wurde? … Technik schülerhaft, und dergleichen … Ah, das war ein Schlag, der nur dadurch gemildert wurde, daß jenes Blatt, dem ich das Haus eingerannt hatte, sich entschloß, die Reproduktion zu bringen! Zweihundert Mark gab's! Sache!«
»Und wann kam der Wandel?« fragte sie, unter naß gewordenen Lidern zu ihm emporschauend.
»Mein ganzes Glück ist netto drei Jahre alt,« lachte er auf. »Die ›Bergpredigt‹ zurückzuweisen, hatten sie doch nicht den Mut gehabt.«
»Wie hätten sie auch sollen!« schwärmte sie. »Wer dem Heiland jemals in die Augen sah, kommt nie mehr von ihm los.«
»Wo haben Sie das Bild kennengelernt?« fragte er, erschüttert durch ihre Erschütterung.
»Herr Naschke hat es mir gezeigt,« erwiderte sie, »gerade ehe es nach Amerika ging. Es war ein großes Glück für mich. Zwei Tage darauf wäre ich zu spät gekommen.«
Er nahm dankbar ihre Hand und streichelte sie leise. Dann legte er sie in seinen Arm, und so gingen sie weiter.
»Tja, man kann sagen,« fuhr er fort, »am Morgen nach der Eröffnung war meine Zukunft entschieden. Presse, Publikum, Kollegen – ein großer Chorus! Denn selbst die Neider brauchten einige Zeit, sich von dem Schreck zu erholen … Diesmal gab's nur die kleine Goldene, als dann aber im nächsten Jahr das ›Frühlingswunder‹ kam, da folgte gegen alle Gepflogenheit die große ihr schon auf dem Fuße. Und die Welt wunderte sich nicht einmal.«
»War das nicht alles wie ein Rausch, wie ein Traum?« fragte sie bescheiden und glücklich zu ihm empor.
»Im Gegenteil,« erwiderte er, »ich nahm's wie etwas, das kommen mußte. Wie etwas, das sich von selbst versteht. Ein Aufseufzen der Erleichterung, der Befriedigung – dann glitt ich in die sogenannte Berühmtheit hinein, wie der Strom in das Bett, aus dem er hinweggestaut war.«
»Aber es war doch alles etwas Neues, etwas Unerhörtes für Sie?«
»Eben, das war es nicht! Seit Jahren hatte ich mich in meinen Gedanken damit vertraut gemacht. Seit Jahren war ich darin zu Hause gewesen. Das, was man so ›Gesellschaft‹ nennt in Berlin, hatte schon immer was für mich übrig gehabt … Die Ungekämmtheit und den fettigen Rockkragen habe ich niemals sehr geschätzt, und meinen Frack – wenn er nicht gerade auf dem Leihamt war – verstand ich zu tragen. Neu war mir höchstens der Mumpitz, der nun mit mir getrieben wurde – die Rolle des Tafelaufsatzes, das Rumgereichtwerden und so … Und was sich nicht alles einfand, das schon seit Ewigkeiten mit mir intim gewesen sein wollte! … Und die edlen Verwandten, die meine große Zukunft schon immer vorhergesehen hatten! Dabei war ich ihnen wie ein Auswurf gewesen, wie ein räudiger Hund! Der Onkel, auf dessen Gut ich jetzt sitze als Herr, hatte mir einst um hundert Mark die Türe gewiesen … Und nur, wenn ich an mein altes Mütterchen dachte, das in ihrem Hinterwaldwinkel für mich gedarbt und gebibbert hatte, dann stieg das Glück manchmal wie eine Art Besoffenheit in mir hoch. Lang hat sie sich nicht mehr an mir freuen können, da nahm der Tod sie mir weg.«
»Und was machten Sie damals mit ihr?« fragte sie. »Ließen Sie sie wenigstens so lange Ihr Leben teilen?«
»Nein, das tat ich nicht,« erwiderte er, »das hätte ihr Unglück gebracht und mich zu einem Undankbaren gestempelt.«
Erschrocken sah sie ihn an. »Wenn Sie sie liebhatten,« fragte sie, »wie hätte das wohl geschehen können?«
»Hätte ich nicht einen Heidenrespekt vor Ihnen,« erwiderte er, »dann würde ich jetzt sagen: ›Liebes Kind, das verstehen Sie nicht!‹ Aber ich kenne Sie schon zu gut, um nicht zu wissen: Sie verstehen alles. Man braucht Ihnen nur ein paar Saatkörner hinzuwerfen, und schon reifen in Ihnen die Ähren … Sehen Sie, meine Mutter hatte ihr Lebtag in kleinbürgerlichen Kreisen gelebt, und deren Moral war festgewachsen an ihr. Ich aber hasse nichts so sehr wie die Bürgerlichkeit – was man so Gartenlaubenkitsch nennt … Ehe, Familie, Kinderkriegen, Pantoffeln und häusliche Lampe – das sind alles Greuel für mich.«
»O Gott!« rief sie in neuem Erschrecken, »der Urtyp von solch einem Kitsch bin ja ich!«
»Ach was, Sie!« rief er und drückte den Arm an sich, der matt in dem seinen hing. »Sie sind ein Wunder auf dieser Erde, Sie sind heruntergefallen von einem schöneren Stern. Und wer Sie auffing, dem wurden Sie Glück. Weil Sie nichts anderes sein können als Glück. Hier aber lagen die Dinge anders. Wir waren Kinder der Not – Mutter, wie ich. Und Not macht hart, bei allem Gutsein. Ich würde sie als Fessel empfunden haben, zumal jetzt, da ich gerade zu leben anfangen wollte.«
»Ich weiß zwar nicht recht, was Sie unter ›leben‹ verstehen,« sagte sie, »aber hoffentlich tun sie es nun!«
»Im Gegenteil!« lachte er. »Schuften tue ich, sonst nichts. Als der sogenannte Ruhm über mich herfiel, da sagte ich zu mir: ›Jetzt zeig, was du kannst. Zeig, daß du keine Seifenblase bist, kein Meteor,‹ und wie die schönen Worte sonst heißen. Darum habe ich auch diese letzten Jahre hindurch nur Bild auf Bild in die Welt geschickt. Nicht des Erwerbs wegen, nicht, um das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist. So jämmerlich werden Sie mich nicht taxieren. Nur, weil ich das Glück ganz auskosten wollte, zu schaffen ohne Angst und ohne Müssen – bloß aus dem inneren Müssen heraus … Jetzt aber will ich zur Abwechslung leben. Nicht zehn, tausend Leben will ich leben. Vielleicht verstehe ich es gar nicht. Vielleicht bin ich schon viel zu sehr an die Staffelei gebannt, um je davon loskommen zu können. Aber probieren will ich es wenigstens. Will die fremden Hauptstädte sehen und mich in fremden Gesellschaften 'rumtreiben. Jetzt, wo mein Name mir alle Türen auftut, nicht wahr? … Will auf den Meeren 'rumschwimmen und mir die Tropenwunder begucken … Was da alles zu malen sein wird! Gar nicht auszudenken, die Wonne! … Und komm' ich zurück, dann will ich ein großes Haus machen – Feste geben mit bedeutenden Männern und schönen Weibern – und kleine verschwiegene Soupers zu zweien oder zu vieren. Doch davon schweige ich lieber. Das könnte Ihr keusches Gemüt am Ende verwunden.«
Sie lachte ein beklommenes Lachen und sagte: »So zimperlich brauchen Sie uns brave Frauen der Provinz nicht zu taxieren. Und besonders ich – ein wenig weiß ich doch auch schon Bescheid.«
»Sie kleiner fanfaron de vice!« höhnte er und beklopfte ihre Hand. »Wenn Sie 'ne Ahnung hätten! Aber jedenfalls sehen Sie ein, daß ich bei einer Lebensgestaltung, wie sie mir vorschwebt und schon damals vorschwebte, nichts Weibliches um mich 'rum brauchen kann, dem ich so etwas wie Rechenschaft schulde. Nicht Mutter, nicht Geliebte, nicht Frau. Frau am allerwenigsten, denn die kann man nicht wegschicken, wenn sie einem unbequem wird. In den Salons von Berlin W machen die Mütter schon heftig Jagd auf mich, und die Töchter bieten sich an bis zur Grenze des Kniefalls. Sogar auf die Bude rücken sie einem: ›Da bin ich! Mach mit mir, was du willst!‹ … Jawoll! Wär' ich schön dumm! Denn dahinter steht schon gezückt der elterliche Segen.«
Sie ließ den Arm leise aus dem seinen gleiten und schritt gesenkten Hauptes neben ihm her.
»Nun sind Sie wohl mächtig empört über mich?« fragte er mit herausfordernder Stirn.
»Das nicht,« erwiderte sie. »Nur ein wenig traurig. Traurig für Sie, und traurig auch für die anderen. Denn bei diesem Spiel geht manche echte Empfindung verloren. Auch in Ihnen. Und um Sie herum sehe ich nichts wie Leid.«
»So schlimm ist es nicht,« beruhigte er. »Da müßten Sie diese Treibhausgewächschen erst kennen. Heute ich, morgen ein Tenor, übermorgen der Millionärssohn, der schließlich das Rennen macht … Und was mich selber belangt, ich will ja nichts als mein bißchen Selbsterhaltung. Das ist doch bescheiden genug. Oder nicht?«
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie, »es ist das alles fremd für mich. Ich muß mich täglich aufs neue in Ihnen zurechtfinden. Und das ist kein kleines Stück Arbeit.«
»Mir scheint ohnehin, ich bin in Ihr Leben eingebrochen wie der Ochse in den Porzellanladen. Es wird Zeit, daß ich die Stätte dieser Verheerungen wieder verlasse.«
Ein angstvoller Blick glitt verstohlen an ihm entlang.
»Das Bild werden Sie doch noch fertigmachen,« bat sie.
»Das Bild ist fertig,« erwiderte er. »Was noch allenfalls fehlt, stimm' ich hinzu, wenn der Rahmen drumliegt. Und dann schicke ich's Ihnen als Muster ohne Wert, und Sie hängen's in Ihre gute Stube und denken beim Angucken manchmal an den Übeltäter, der den Frieden Ihrer Weltanschauung sehr pietätlos durcheinanderwarf.«
»Ich habe viel in diesen Tagen gelernt,« erwiderte sie, gleichsam in sich hineinredend. »Und dafür muß man immer dankbar sein. Ich habe bisher geglaubt, Künstlertum, das sei etwas Stilles und Harmonisches. Ein tieferes Atemholen gleichsam in der Enge des Alltags. Oder ein heimliches Lauschen nach dem Urquell der Dinge. Ich weiß nicht, ob ich mich richtig ausdrücke.«
»Erstaunlich richtig!« sprach er leise in sich hinein. – Und dann lauter, zu ihr gewandt: »Woher aber wissen Sie das alles?«
Wieder einmal jagte eine Blutwelle auf ihrem Gesichte herauf und herunter.
»Man liest ja dies und das,« stammelte sie, »und dann – und dann –«
»Ja, was dann?«
»Ein wenig erfährt man's ja auch an sich selber.«
»Verstehe ich Sie recht?« fragte er und machte große, runde Augen. »Etwas wie Künstlerin sind Sie auch?«
»Ach, Künstlerin!« Sie zuckte seufzend die Achseln. »Dilettantin, wenn Sie wollen, eine ganz kleine, kleine Dilettantin, die ab und zu ein Geschichtchen oder ein Verschen in die Welt schickt und sich dann diebisch freut, wenn sie es abgedruckt findet.«
»Unter welchem Namen schreiben Sie denn?«
Nun wollte sie vollends nicht mehr mit der Sprache heraus, und die Feuersbrunst auf ihren Backen flammte noch dunkler.
»Wozu die Geheimnisse, Kindchen?« mahnte er freundschaftlich. »Was die ganze Welt weiß, könnten Sie schließlich auch mir anvertrauen.«
»Gewiß doch! Gerne! Wenn nur –«
»Was: nur?«
»Wenn Sie nur dann nicht glauben möchten, daß ich Ihr Lob herausfordern will, daß ich –. Es ist wirklich nicht viel dran, was ich da von mir gebe.«
»Sagen Sie mir bloß, warum entschuldigen Sie sich dauernd?«
»Weil ich ja der Fritz Engelhardt bin, von dem Sie damals soviel Aufhebens machten!«
Jählings blieb er stehen und packte sie bei beiden Schultern.
»Ja, dann!« sagte er. Weiter nichts. Aber die Feierlichkeit, die leuchtend von ihm ausging, sprach mehr, als Worte vermocht hätten.
»Und darum habe ich mir auch«, fuhr sie in plötzlichem Eifer fort, wie um den Eindruck ihres Bekenntnisses nach Kräften zu verwischen, »allerhand Gedanken vom Künstlertum zurechtgemacht, so gut, wie ich's eben verstand. Und jetzt erst, seit ich Sie kenne, weiß ich, daß es kein Idyll, daß es vielmehr Kampf und Qual und Selbstentzweiung und ein Hadern mit der Weltform ist. Und daß eigentlich der Friede nie kommen darf, weil er gleichbedeutend mit einschlafen ist.«
»Beides ist wahr,« erwiderte er. »Nur, das eine gilt für Sie, und das andere gilt für mich. Und wenn beides sich einte, dann würde das Höchste erreicht.«
»Wie kann sich das einen?« fragte sie. »Sind das nicht Widersprüche, die einander ausschließen, ganz und gar?«
»Wie sich das einen kann?« fragte er. Und indem er sie enger an sich heranzog, gab er die Antwort leise in ihren blonden Haarbusch hinein: »Indem man sich liebhat!«
Sie ließ den Kopf willig an seinem breiten Brustkasten ruhen. So standen sie lange. Aber küssen taten sie sich nicht. Das kam erst am folgenden Abend.
Viel gemalt hatte er an dem Vormittag nicht. Und geredet wurde noch weniger. Einer schaute stumm aufs Meer hinaus und der andere auch. Spannung lag in der Luft und herzklopfendes Warten.
Das Meer warf Brandungswellen an den Strand, die sich in Schaumblasen verloren. Die Kinder suchten sich von ihnen die größten aus und steckten die Finger hinein, so daß sie zerplatzten.
»Sehen Sie,« sagte er, »das ist alles, was übrigbleibt, auch von dem, was wir erleben.«
»In mir nicht,« sagte sie.
Das war keine Beteuerung, kein Sichaufdrängen war's. Ganz still und einfach kam's über die Lippen wie das unwillkürliche Bewußtwerden eines Künftigen, das Schicksalskraft annehmen wollte.
Um die Vesperstunde kam er heute nicht zu ihr.
Von den Spionenaugen ringsum werde ihm übel, hatte er gesagt, man treffe sich besser dann und dann, und da und da.
Und so traf man sich. Pünktlich waren sie beide. Reichten sich schweigend die Hände und strebten dem Waldinnern zu.
»Strebten,« so darf man wohl sagen. Denn beider Blicke bohrten sich sehnsüchtig in die dunkelnde Ferne, die Zuflucht und Freistatt versprach.
Und als sie versonnen zwischen den Buchenstämmen dahergingen, da fühlten sie plötzlich eine Müdigkeit, die ihnen zuvor noch niemals gekommen war.
Sie mußten sich einen Platz aussuchen, der ihren Rücken ein Anlehnen bot. Aber diese Lehne brauchte nur einer, nur er, denn ihr Kopf ruhte alsbald an demselben Fleck, wo er gestern gelegen hatte, nur enger umschlungen von den zwei Armen, deren Druck sie gespürt hatte auf ihrem Leibe die ganze Nacht, den ganzen Tag hindurch.
Und so fanden sich auch die Lippen zu selbstverständlichem Kusse. Überreif war er geworden in den Gluten des Zueinanderwollens und Zueinandergehörens.
Aber ihr schien er ein Unerhörtes, Nichtzuertragendes. Ganz blaß geworden und jeder Willensregung beraubt, hing sie an seinem Halse.
›Wo ist der schöne Tuschkasten geblieben?‹ dachte er, die schneeweißen Wangen streichelnd.
Er rüttelte sie, er rief ihren Namen. Sie atmete wohl, aber sie rührte sich nicht.
Da kam ihm langsam das Gefühl der schweren Verantwortung, die er in dieser Stunde auf sich geladen hatte.
Die einen hatten geküßt und gelacht, die anderen hatten geküßt und geweint; manche waren gekränkt, manche waren beseligt gewesen, aber schließlich hatte sich alles zum gleichen Leichtsinn gewandt.
Hier war es anders, nur zu anders. Hier hatte sich ein ganzes Leben hineingetaucht in einen einzigen Kuß.
Er fühlte ihr Herz klopfen. Aber nein doch, sein Herz war es, das in raschem Hämmern gegen den Brustkasten schlug.
Und wenn ihm das geschah, stand Großes auf dem Spiele.
Jetzt hieß es, sich zusammenreißen, damit schließlich nicht ein Verbrechen an ihm hängen blieb.
»Wach auf, Liebes!« flüsterte er zu ihr hernieder.
Wohl schlug sie die Augen auf, leere, fremde Augen, die durch ihn hindurch in die Ferne starrten, aber zum Bewußtsein gekommen schien sie noch nicht.
Er löste sich von ihr, er lehnte ihren schlaffen Körper gegen den Buchenstamm – er kniete vor ihr – er küßte, er streichelte, er rieb ihr die Hände.
Da hob sich langsam eine von ihnen, legte sich auf seinen Scheitel und blieb dort liegen, wie zum Segnen fast.
Gleichzeitig kamen ihre Augen aus der Ferne zurückgewandert, irrten noch ein wenig umher, von seinem Hals zu seiner Stirne, und blieben dann in süßer – immer noch ein wenig fremder – Starrheit in seinen Augen ruhen.
»Gott sei Dank!« sagte er. »Endlich bist du wieder lebendig geworden.«
Sie antwortete nichts, aber ihre Hand auf seinem Haar begann sich zu bewegen. Ja, jetzt streichelte sie ihn.
›Das ist, wie mich einst Mutter streichelte,‹ dachte er, von lösendem Wohlsein überflutet.
Und weiter dachte er: ›Wen die Hand streichelt, dem kann kein Leid was anhaben.‹
Und endlich fing sie zu sprechen an.
»Mein Gott!« sagte sie. »Das ist ja nun wohl der Abschied!«
Wie ein Schlag fiel das Wort auf ihn nieder. Sie hatte das Richtige getroffen, das einzig Richtige, das es für sie beide gab.
»Es wird wohl so sein müssen,« sagte er.
»Ja,« sagte sie, »es wird sehr weh tun, aber es wird sein müssen.«