Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Das war nun der dritte Frühling, den Steffen Tromholt in der Dresdener Verbannung durchlebte.
Als er zu Anfang Mai aus dem Süden heimkehrte, kam er gerade noch zur Zeit, um auszukosten, was an Holdheit und Fülle in deren Bereiche sich darbot.
In seiner hochgelegenen Wohnung gab es einen Eckbalkon, von dem schaute man nieder auf lauter weißwogendes Blütengewölk. Man saß dort wie der liebe Gott auf seinem Thron und freute sich an dem schwärzlichen Erdengewimmel, das, wo das Wolkenmeer eine Lücke ließ, tief unten höchst unerheblich daherkroch.
Aber schließlich war auch das bald langweilig geworden. Langweilig wie alles ringsum. Man konnte sich tausendmal sagen: ›Ach, wie schön! ach, wie schön!‹, die konfliktlose Biederkeit verschandelte alles.
Und ein Abglanz von ihr drang auch ins eigene Heim. Still und freundlich, mit immer gleicher Liebe und immer gleichem Eifer, waltete Brigitte darin. Susi und Kurt, die längst die Schulbänke zierten, befleißigten sich eines exemplarischen Bravseins, und Beate – im Familienkreise Atta genannt – die auch schon ein Menschlein wurde, eiferte ihnen so folgsam nach, als ob nicht der kleinste Tropfen des ungebärdigen Tromholtschen Blutes in ihr gesteckt hätte.
Eine süße, kleine Meerkatz übrigens. Behende kletternd über alles, was Stuhl, Tisch, Truhe oder Holzhaufen hieß, und mit Angst gehütet vor jedem offenstehenden Fenster oder jeder nicht fest verschlossenen Balkontür. Denn der Geist des kleinen Wulle-Wulle schwebte noch über jeglichem Schritte.
Die dunkelblonden Ringellöckchen, verstreut um eine kuglige Stirn – die stammten natürlich von ihm. Und die graublauen Augen, milde verschleiert und aufleuchtend im Überschusse des Gutseins – die stammten ebenso natürlich von ihr.
Aber der rundliche Flunschmund und das sichernde Knopfnäschen, die stammten von weiterher – darin stieg seine Mutter, die nun schon lange tief unten ruhte, verjüngt auf die Erde zurück.
Die kleine Seele war nichts als werbende Zärtlichkeit. Gar nicht ausdenken ließ sich's, daß soviel Liebesdrang in einem so winzigen Leben Platz haben konnte. Die Geschwister und Mammi und Papa und Mi und Dandy, der Terrier, und Lora und Mazzo – alles war nur dazu da, um von einer sehnsüchtig girrenden Stimme umkost, von zwei sich reckenden Pfötchen gestreichelt zu werden.
Und alles hielt still. Selbst Mazzo, der blauschillernde Märchenvogel, den sie dort unten den »passero solitario«, den »einsamen Spatz«, benennen und der im Käfig die Eltern von Sorrent her heimgeleitet hatte, selbst dieser scheue Felsenbewohner rührte sich nicht, wenn über ihm die wärmenden Händchen sich schlossen. Nur Lora wurde zuweilen tückisch und machte Miene zu hacken. Aber dann brauchte man nur den Finger zu heben und drohend zu sagen: »Lora, pfui«, und sie bereute bereits und bot, sich plusternd, die Stirne zum Krauen.
Daß insbesondere Papa von Atta geliebt wurde, versteht sich von selbst. Nur in die Luft geworfen zu werden, wie es der Älteren Wonne gewesen war, das schätzte sie wenig. Sie wehrte sich zwar nicht – ein jedes Sichwehren blieb ihr fremd, genau so wie ihrem Mammi –, aber sie kniff die Lippen schmerzlich zusammen, und als ihr Mut so weit gediehen war, daß sie ihre Wünsche zu äußern wagte, bat sie inständig: »Atta niß fliegen, Pappi.«
Viel Spürsinn entwickelte sie für seine düsteren Launen. Und fand sie ihn mit grellen Augen ins Leere stierend, dann kletterte sie fix an seinen Beinen empor, nestelte sich auf seinem Schoße zurecht und barg das Köpfchen schweigend an seiner Brust, als wolle sie teilhaben an dem, was er litt.
Und er litt maßlos zuzeiten. Verbannt aus dem Reich der Lebendigen, verstoßen aus der Gemeinschaft der Freien. Zwischen ihm und allem, was jenseits seines Hauses sich regte, stand eine Zuchthausmauer, und die eheliche Treue fraß an seinem Leibe wie ein böses Geschwür.
Noch hatte er niemals daran zu rühren gewagt. Aber nicht etwa aus Tugend, aus Reinheitsbedürfnis, sondern weil er das Recht nicht mehr zu besitzen glaubte, er selber zu sein. Unwürdig erschien er sich jedes Geschehens, das die Welt wohl Sünde betitelt, aber in Dichtung und Wunschtraum als höchstes Ziel aller Lebenserfüllung lobpreist.
Und es traten auch nirgends Versuchungen an ihn heran. Zu engmaschig war das Netz, das die Familie ihm über den Kopf geworfen hatte, als daß er ihm, und sei es nur zu einem phantasieaufrührenden Flirt, hätte entwischen können.
So ging in dumpfer Arbeit und schlaffem Ausruhen der Sommer dahin. An Bäder und Reisen wagte keiner von beiden zu denken. Tante Pauline war abgefahren. Man hatte ja auch da unten genug geschwelgt. Nun hieß es wohlweislich zu Hause bleiben.
Aber da oben im Osten lag ja das Paradies, das auch ein »Zuhause« war und das schon einmal Glück und Versöhnung gebracht hatte.
Brigitte bettelte nicht. O nein, sie bettelte nie. Dafür war sie zu stolz und zu bescheiden zugleich. Doch wenn der Name »Neuheide« fiel, dann verschleierte sich ihr Blick in flehender Zärtlichkeit, und rings um den Mund grub sich ein Lächeln verhaltener Inbrunst.
Er sah es wohl, aber er wollte nicht. Über ihr schweigendes Bitten ging er schweigend hinweg. Und wenn die beiden Älteren ihren Erinnerungen an jene Sonnentage die Zügel freigaben und einen Reigen von Kaninchenflucht und Elsterngeflatter und Eichkatzenjagd auftauchen ließen, dann sprang er wohl hoch und verließ dröhnenden Schrittes das Zimmer.
Über den Grund dieser hartherzigen Weigerung war er sich selber sehr klar. Neuheide galt ihm als sein letztes, sein eigenstes Eigentum. Wenn er auch dies der Familie preisgab, dann blieb ihm nichts mehr auf Erden, wohin er vor ihr sich noch flüchten konnte. Hatte sie endgültig davon Besitz ergriffen, dann war er ihr ausgeliefert für immer.
Und immer noch – als halb schon entschwundenes Gestade in dieser Sintflut der aufgedrungenen Pflichten – erschien vor ihm ab und zu der Gedanke: ›Einmal wirst du vielleicht noch frei.‹
Aber sofort schob sich der Gegengedanke dazwischen: ›Kannst du noch frei sein? Ja, willst du noch frei sein? Ist das Leben noch denkbar ohne die Fessel, die dich umschmiedet?‹
Und aus der Verzagtheit heraus, ja gleichsam als Rettung vor dieser Verzagtheit, ergab sich ein Drittes: ›Wie, wenn du Frieden machtest mit dir? Wenn du das Einst und das Jetzt zu einem Dasein vereintest?‹
Doch als Feigheit, als Flucht vor der selbstgewählten Bestimmung erstickte er ihn immer von neuem. – –
Da brachte der Zufall ihm eines Tages das Glück eines Begegnens, das richtunggebend in sein Leben einschneiden sollte.
Es war im Monat August, und das Nachmittagslicht fing schon an, sich spärlicher zu verschenken, da schritt er gegen sechs Uhr aus seinem Atelier der Wohnung zu, die wohl eine Viertelstunde davon entfernt lag.
Dort, wo die enggeschlossene Straßenzeile ein Ende hatte und die in Feldern verstreuten Villenvorstädte begannen, sah er, vom fleckigen Schatten der Ebereschen gesprenkelt, eine zarte, in Weiß gekleidete Frauengestalt sich entgegenkommen. Und als sie ihm nahe war, schaute er in ein Antlitz von so unerhörter, großstiliger Schönheit, daß ihm sein Herz sofort bis zum Halse emporschlug.
Und auch sie bemerkte ihn. Während ihr Blick ihn streifte – nicht länger, als es für eine Dame von Welt sich geziemt – erschien ein kleines Aufblitzen darin, wie es ein plötzliches Wiedererkennen oder ein flüchtiges Gefallen unwillkürlich hervorruft.
Im Weitergehen sagte er zu sich: ›Wenn du jetzt nicht wagst zu erfahren, wer diese Frau ist, bist du eine Memme und wirst es bereuen dein Leben lang!‹
Da, wie er sich umdrehte, gewahrte er, daß auch sie den Kopf zurückgewandt hatte und, erschrocken darüber, ertappt zu sein, sich umso schneller entfernte.
Nun gab es kein Zaudern mehr.
Mit zehn, zwölf langen Schritten war er neben ihr, zog seinen Hut und sagte: »Halten Sie es für ein Verbrechen, gnädige Frau, daß man nicht anders kann, als den Versuch machen, Sie kennenzulernen?«
Sie hob ganz unbefangen den Kopf nach ihm hin, und während ein Lächeln strafender Schelmerei um ihre Mundwinkel glitt, erwiderte sie: »Oh, oh, Herr Tromholt, so etwas tut man nicht!«
So hinausgehoben über alles Gewöhnliche fühlte er sich, daß er sogar die Betroffenheit darüber, gekannt zu sein, rasch überwand.
»Ich weiß das, gnädige Frau,« entgegnete er. »Aber da Sie wissen, wer und was ich bin, so werden Sie auch selbst die Rechtfertigung für mich finden.«
»Ich kann mir wohl vorstellen,« sagte sie, »daß Ihr Malerauge gern auf die Jagd geht, aber daß ich durch Ihre Handlungsweise in die Lage komme, mich nicht als Dame zu benehmen, das haben Sie übersehen.«
»Ein solcher Verdacht wäre nun wirklich ein Verbrechen,« erwiderte er.
Ihr nachsichtiges Lächeln verschwand und machte strengerem Nachdenken Platz.
»Ich muß nun sehen,« sagte sie, »wie ich dieser Situation die Peinlichkeit nehme. Es ist ein Glück, daß ich hier ziemlich fremd bin und mir eine gewisse Extravaganz allenfalls erlauben kann. Der Große Garten ist nicht weit. Eine Stunde lang bin ich frei. Die kann ich Ihnen schenken, vorausgesetzt allerdings, daß Sie nicht nach meinem Namen forschen.«
Beglückt lauschte er dieser Stimme, in der es wie das Schwirren einer Saite leise erklang. Dann versprach er alles. Und so schlugen sie den Weg nach dem mächtigen Gittertore ein, das den Herrlichkeiten des alten Rokokoparks einen würdigen Zugang schafft.
»Sollte ich zufällig gegrüßt werden,« sagte sie, »so grüßen Sie ruhig mit, als ob wir alte Bekannte wären. Aber dort ist ein Seitenweg. Dort wird uns kaum jemand begegnen.«
Und gleich darauf schritten sie, von den Schattenmassen der hohen Laubbäume eng umwölbt, in leidlicher Einsamkeit dahin.
Mehr noch als ihre Überlegenheit machte ihn das Wunder ihrer Schönheit beklommen und stumm.
Große goldbraune, dunkelumschattete Augen, eine schmale, zart geflügelte Nase und Wangen wie durchsonnter parischer Marmor. Er wurde nicht satt, die Blicke auf diesem Antlitz ruhen zu lassen.
»Nun?« fragte sie lächelnd. »Erst ergingen Sie sich in Heldentum, und jetzt fehlen Ihnen die gewöhnlichsten Worte.«
»Gnädige Frau,« stieß er hervor, »der Eindruck, den ich beim ersten Sehen von Ihnen empfing und der sich von einem Augenblick zum andern verstärkt, ist derart, daß ich – ich schäme mich nicht, es zu bekennen –, daß ich meine Fassung noch nicht recht wiederhabe. Sie werden das verzeihen, da es ja nur eine Huldigung für Sie ist.«
»Mag sein,« erwiderte sie. »Die Art dieser Huldigung aber setzt mich einigermaßen in Erstaunen, denn man erzählt sich in Berlin, daß Sie im Verkehr mit Frauen nicht unbewandert sind. Ja, man erzählt sich noch mehr.«
»Das mag auf vergangene Zeiten vielleicht zutreffen,« sagte er, »aber jetzt bin ich dieses Verkehrs schon lange entwöhnt.«
»Wie kommt das?« fragte sie.
»Erlassen Sie mir die Antwort,« stieß er hervor.
»Herr Tromholt,« sagte sie nach einem kurzen Sichbesinnen, »ich habe natürlich nicht das Recht zu einer Frage, aber gestatten Sie sie mir trotzdem: Was machen Sie eigentlich in dieser Stadt?«
»Ich lebe,« hohnlachte er.
»Es wäre ein wohlfeiler Spott, wollte ich hierauf erwidern: ›Das seh' ich.‹ Und ich lese aus Ihrer Antwort auch mehr heraus. Ich lese heraus, daß Sie hier unglücklich sind.«
»Das – muß – wohl – wahr sein!« Er hatte das Gefühl, als tropften die Worte wie dickes Blut aus seinem Munde.
Sie blieb mitten im Schritte stehen. »Hier ist eine Bank,« sagte sie. »Ich möchte mich ausruhen.«
Mit einer fast herrischen Rückneigung des Kopfes warf sie sich gegen die Lehne.
Er ließ beim Niedersetzen einen zwei Fuß breiten Raum zwischen sich und ihr; so wenig wagte er, ihr nahe zu kommen.
»Herr Tromholt,« begann sie mit einem Atemholen des Entschlusses, »wir haben unsere Bekanntschaft in einer wenig gesellschaftlichen Weise gemacht. Ich bin Ihnen gegenüber freilich im Vorteil. Ich kenne Sie, und Sie kennen mich nicht. Ich nehme an, Sie werden mich auch nie kennenlernen … Wir verkehren in verschiedenen Kreisen, und ich lebe auch zumeist auf dem Lande. Ich bin und bleibe eine Fremde für Sie … Nehmen Sie an, ich sei Ihnen als ein Stückchen Schicksal vom Himmel gefallen.«
»Das fühl' ich schon lange,« preßte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Nicht in dem Sinne, den Sie hineinzulegen wünschen. Nicht als Weib zum Manne. Sondern als Mensch zum Menschen … Ihre Bilder haben mich schon lange interessiert und damit natürlich auch deren Schöpfer. Nun erzählt man sich in Berlin – ich darf ganz offen sein, nicht wahr? – daß Sie eine verfehlte Ehe geschlossen haben – daß Sie ein Nest von Kindern erheiratet haben – und daß Sie Ihre Frau vor aller Welt verstecken … Warum tun Sie das? Ist diese Frau Ihrer nicht wert?«
»Meine Frau ist das Zarteste – das Sorglichste – das innerlich Vornehmste – was – was –«
»Oder ist sie so häßlich? – –«
»So schön wie Sie ist sie freilich nicht – aber – –«
»Haben Sie vielleicht ein Bild von ihr bei sich?«
Er zog den zusammenklappbaren Lederrahmen hervor, der in fünf Abteilungen die Photographien des ganzen Völkchens enthielt, dem er Schützer und Führer und Herrgott war. Selbst der kleine Wulle-Wulle fehlte nicht. Brigitte hatte ihm die Sammlung vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt, und um ihr ein Gutes zu tun, trug er sie stets in der Tasche.
»Dies hier ist mein Eigenes,« sagte er erklärend, »und der kleine Kerl dort fiel sich zu Tode.«
Die schöne Fremde sah lange schweigend auf die Bilder herab, und als sie den Kopf aufrichtete, gewahrte er, daß in ihren Augen Tränen standen.
»Herr Tromholt,« sagte sie, »mit dieser Frau ist man nicht unglücklich, und wenn man es doch ist, dann trägt man selber die Schuld.«
»Es gibt keinen Tag, an dem ich mir dies nicht sage,« rief er knirschend. »Aber was ist Schuld? Dann ist jede Lebensnotwendigkeit eine Schuld – und das Atmen eine Schuld – und daß ich hier neben Ihnen sitze, auch eine Schuld.«
»Dies letztere ist es gewiß,« erwiderte sie, »denn wir beide haben nichts miteinander zu schaffen. Jedes Wort des Vertrauens, das Sie zu mir, das ich zu Ihnen spreche, ist eine Schuld an dieser Frau. Und wenn ich nach meinem Herzen handeln dürfte, dann würde ich jetzt mit Ihnen nach Ihrem Hause fahren und würde sie in meine Arme schließen und in meinem Innern zu ihr sagen: Vergib!«
»Ja, kommen Sie mit mir,« rief er aufjauchzend. »Wenn es eine Möglichkeit gäbe, daß wir miteinander in Verbindung blieben, dann würde mein Leben wieder einen Sinn bekommen – dann – dann – –«
»Sie vergessen unsern Pakt, Herr Tromholt,« entgegnete sie. »Von einem Bekanntwerden darf keine Rede sein. Sonst brauchte ich mich ja nur von Ihnen malen zu lassen.«
Gierig griff er den Einfall auf. »Und warum wollen Sie es nicht? Man sagt von mir, daß ich als Porträtist hinter niemandem zurückstehe, und wenn Sie ein paar Stunden übrighaben – –«
Lächelnd winkte sie ab. Und diese Handbewegung war in ihrer Sanftheit so entschieden, daß er auf seine Bitte nicht mehr zurückzukommen wagte.
»Ich versuche mir Ihre Lage vorzustellen,« sagte sie, auf das eigentliche Thema zurückgreifend. »Und dabei ahne ich folgendes: Sie haben das Gefühl, nicht mehr Ihr eigenes Leben zu leben, das Leben, wozu Sie Ihr Wollen, Ihr Streben – sagen wir meinetwegen Ihr Schicksal bestimmt hat, sondern ein anderes, das Ihrem Wesen fremd ist, nämlich das Ihrer Frau. Und dagegen bäumen Sie sich auf. Ist es nicht so?«
Mit weitgewordenen Augen sah er sie an. Das war es. Das war der Urgrund alles Unglücks. Noch niemals hatte er sich das so klar gemacht.
Sie erkannte sein Bejahen wohl.
»Nun gut,« fuhr sie fort, »warum ergreifen Sie dann nicht das Ruder, das Ihren Händen entfallen ist, und lenken in Ihr altes Leben zurück? Aber mit Ihrer Frau! Lassen Sie sie Ihr Leben teilen, anstatt daß Sie – –«
»Und die Kinder?« stieß er hervor.
»Haben Sie sie nicht lieb?«
»Ich hab' sie lieb, aber – –«
»Aber?«
»Dies Gekribbel, dies Gequietsche! … Ich weiß nicht – ich kann nicht … ich bin nicht mehr, der ich war – –«
»Daß Ihr Fleisch und Blut zu Ihnen gehört, das, glaub' ich, versteht sich von selbst. Denn zu Monstrositäten neigen Sie wohl nicht. Und die beiden Älteren? – wie alt sind sie?«
»Sieben und acht, oder acht und neun … wie alt sie damals waren, weiß ich, aber wie lange ich dies Leben schon führe, das muß ich mir wahrhaftig erst ausrechnen. Ein Jahr bricht aus dem andern wie eine Wunde aus der andern.«
»Gleichviel. Gewiß wird es Freunde geben – oder Verwandte – oder vertrauenswürdige Leute irgendwelcher Art – denen Sie sie überlassen könnten, die sie statt Ihrer erzögen.«
Er fuhr auf. In diesem Gedanken lag Befreiung. Erlösung lag darin.
»Ich – werde mit meiner Frau reden,« stammelte er. »Sie fügt sich mir gerne. Ich bin überzeugt, sie wird auch dieses Opfer bringen.«
»Und einer solchen Frau wollen Sie gram sein?«
Er schlug die Hände vors Gesicht, ein Schluchzen zu ersticken.
»Mit dieser Stunde hat sich alles geändert,« knirschte er.
»Zum Guten hoff' ich.«
»Zum Guten, zum Schlimmen – was weiß ich? Nur eines weiß ich: Nun Sie in mein Leben getreten sind, Sie schöne, fremde Frau, die Sie als mein guter Genius hier sitzen, – nun werde ich keine ruhige Minute mehr haben ohne Sie … Mein ganzes Wesen wird aufgelöst sein in Sehnsucht nach Ihnen … Jeder Gedanke, jeder Traum, jeder Pinselstrich wird Ihnen gehören … Wenn ich mir sage: ›In einer Stunde wird sie nicht mehr auf der Welt sein, – ich werde hinter ihr herblicken und wissen, ich sehe sie nicht mehr‹ … um Gottes willen, Sie liebe, geliebte Frau. Tun Sie mir das nicht an! Seit Jahren, seit meinem Lebensbeginn hab' ich gehungert nach Ihnen, und jetzt – – haben Sie doch Erbarmen mit mir!«
Mit einem Augenaufschlag, der halb Erschrecken und halb Rührung war, schaute sie zu ihm hinüber.
»Das hab' ich nicht gewollt,« sagte sie leise. »Ich kenne euch Künstler nur wenig, aber man sagt, ihr seid beweglicheren Gemütes als wir andern. Auch diese Wallung wird vorübergehen.«
»Nein, nein, nein,« schrie er auf, »ich weiß, das frißt sich ein fürs Leben. Ich will tun, was Sie nur wollen – ich will – ich will – aber verschwinden dürfen Sie mir nicht! Alles, nur das nicht!«
»Lassen Sie mich nachdenken,« sagte sie. »Sie legen mir da Verpflichtungen auf, die ich selbst schon fast als Verpflichtung empfinde … Sie sind nicht erst wer, und Ihnen etwas sein zu können, wäre wohl eine Aufgabe, die – –. Nicht in Liebe selbstverständlich … mein Leben ist ausgefüllt, um nicht zu sagen: vollendet … ich bin eine alte Frau … jawohl, gegen Ende der Dreißig bin ich bereits … ich habe Kinder, fast schon erwachsen … Söhne, die aufs Gymnasium gehen, eine Tochter von fünfzehn … ja, wie macht man das?«
Unsicher tastend griff er nach ihrer Hand, aber hochauffahrend entzog sie sich ihm.
»Hören Sie mich an,« sagte sie. »Ich habe eine ehemalige Dienerin in Berlin, auf die ich mich unbedingt verlassen kann. Sie ist die Wärterin meiner Kinder gewesen und hat sich dann verheiratet. Ich werde ihr die nötigen Anweisungen geben, und wenn Sie einen Brief an sie schreiben, der – sagen wir – in der unteren linken Ecke ein Bleistiftkreuz hat, so fällt er nach einer gewissen Zeit uneröffnet in meine Hände. Ich schreibe Ihnen ihre Adresse auf, aber wenn Sie zu ihr gehen sollten, versuchen Sie nicht, meinen Namen zu erfahren. Sie ist für keine Summe käuflich … Was und ob ich überhaupt Ihnen antworten werde, weiß ich noch nicht … Dies, mein Freund, kann ich für Sie tun, mehr nicht.«
Damit zog sie ein Büchelchen aus ihrer Handtasche, schrieb einige Worte hinein und reichte ihm das ausgerissene Blatt. Dann erhob sie sich.
»Und ich kann schreiben, was ich will und soviel ich will?« fragte er, wieder neben ihr hergehend.
»Tun Sie, was Ihnen Ihr Herz eingibt,« erwiderte sie. »Es wird Ihnen vielleicht eine Erleichterung bringen, – und mich wird es freuen, denn ich bin – sehr – einsam.«
»Und doch sagten Sie vorhin – –«
Sein Einwurf stockte.
»Daß mein Leben vollgefüllt ist? Ja, das ist es, und hierin liegt kein Widerspruch … So, nun begleiten Sie mich noch bis zum Parktor. Und dann trennen sich unsere Wege. Daß Sie mir nicht heimlich nachfolgen werden, setze ich als selbstverständlich voraus.«
An diesem Abend sagte er Brigitte von dem Plane noch nichts. Er wollte mit dem Bilde der Fremden allein sein. Doch so sehr hatte er sich daran gewöhnt, mit der Frau, die die Freundin seines Lebens war, jedes von dessen Geschehnissen zu teilen, daß er sich mehr als einmal darüber ertappte, wie er ansetzen wollte, ihr in irgend einer umgebogenen Form von dem Begegnen zu erzählen.
Ihr aber fiel das Leuchten seines Wesens auf.
»Du hast etwas erlebt,« sagte sie, »etwas so Schönes wie lange nicht mehr. Und wenn du es mir auch verschweigst, ich freu' mich doch mit dir.«
Am nächsten Morgen – nachdem er alle Einzelheiten sorgfältig überlegt hatte – weihte er sie in den Gedanken ein, mit ihr und dem Haushalt nach Berlin überzusiedeln, um dort in dem ihm altgewohnten Kreise ein neues, naturgemäßeres Eheleben zu beginnen. Von ihrem Entschluß freilich würde alles abhängig sein. Denn Voraussetzung wäre, daß sie sich von den beiden älteren Kindern trenne, die in Pension gegeben werden müßten, um nur die Ferien im Heimathause zu verleben.
Zagend in Schreck und Zweifel stand sie dem winkenden Glücke gegenüber.
»Sie sind noch so klein,« klagte sie, »und sie brauchen mich so sehr. Eines ist schon zugrunde gegangen. Ich weiß nicht, ob ich darf.«
In zärtlicher Beredsamkeit sprach er auf sie ein und sah aufatmend, wie unter dem Feuer seiner Worte ihre Furcht dahinschmolz.
»Ein Haus wüßte ich wohl,« sagte sie zögernd, »wo sie es gut haben würden. Es sind die alten Fräuleins, bei denen Suschen zur Schule geht. Laß mich dort fragen. Laß mich dort bitten. Und verachte mich nicht, wenn ich eine schlechte Mutter bin. Ich kann nicht anders. Ich habe dich lieb.«
Schon an demselben Nachmittag war es entschieden. Ja, man würde die Kinder gern zu sich nehmen und sie halten, als wären's die eigenen.
Und an verhaltenen Tränen schluckend, fuhr sie fort: »Jetzt hab' ich noch eine große Bitte!«
»Und die wäre?«
»Sieh, Steffen, der kleine Wulle-Wulle hat sich für uns opfern müssen. Denn wenn er lebte, wäre es nie gegangen. Komm mit mir an sein Grab, wir wollen ihm danken.«
Und so geschah's.
Am nächsten Tage reisten sie nach Berlin, sich eine Wohnung auszusuchen.
Die lange Irrfahrt war zu Ende.