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Vierzigstes Kapitel

Nun war der Herbst gekommen. Der erste Herbst ohne Brigitte.

Einer, der im Begraben seiner Lieben erfahren war, hatte zu ihm gesagt: »Erst müssen die Zeiger der Jahresuhr einmal ringsum gegangen sein, dann fängt das Gefühl des Verlustes an, sich zu mildern.«

Und darauf hoffte er.

Vorläufig aber wühlte der Schmerz noch mit alter Gewalt.

In Neuheide hatte er gerade drei Tage ausgehalten. Keine Tür konnte sich öffnen, ohne daß er dachte: ›Jetzt kommt sie.‹ Und zum Försterhause wagte er sich gar nicht erst hin.

Glücklicherweise blieben die Leinwände in sachverständiger Hand. Ob die Farben mehr oder weniger in den Raum hineinstimmten, hatte nicht viel zu sagen, zumal die nächsten Jahrhunderte – was kam es für Tote auf ein paar Jahrhunderte an! – ihr dunkelndes Handwerk treulich besorgen würden. –

Von Astrid hatte er wenig gehört. Daß von einem Besuche in ihrer Heimat nicht mehr die Rede sein konnte, war mittlerweile auch ihr klar geworden. In zwei Briefen, die er von dorther erhielt, kam sie mit keinem Worte darauf zurück.

Und jetzt war sie wieder im Lande. Hatte die Pforten ihres Hauses weit aufgetan und sah von neuem viel buntes Volk sich drin tummeln.

Wohl war Steffen vor Freude hoch aufgefahren, als plötzlich am Telephon die vertraute Stimme erklang, die den Bann der Einsamkeit zu brechen verhieß, aber noch in demselben Augenblick hatte er sich abwehrend gefragt, was werden würde, wenn der Verkehr ins alte Geleise zurückglitt.

Eine Aussprache war notwendig geworden. Ihr auszuweichen, wäre Feigheit gewesen. Und darum schrieb er ihr alles, was in ihm vorging, nahm jegliche Schuld auf sich und sparte nicht mit Schmähungen seines Handelns. »Ich weiß, daß ich ein Treuloser bin. Ich weiß, daß ich unerhörte Glücksmöglichkeiten verscherze, aber ich fühle mich nur noch imstande, meiner Toten zu leben; für alles übrige bin ich verdorben.«

Astrids Antwort war voll von schmerzlicher Hoheit, wie ihr Wesen es von ihr verlangte. Nicht der leiseste Vorwurf, nur stolzes Verzichten und Hoffen auf künftiges Nahesein in neuer, geläuterter Form.

»Komm zu mir, wie und wann Du magst. Kein Wort, kein Blick wird Dich an das erinnern, was zwischen uns gewesen ist. Ob allein mit mir, ob in Gemeinschaft mit andern, immer wirst Du eine Freundin in mir finden, die Deinen Kummer teilt und sich sorgt, ihn zu mildern.«

›So hätte Brigitte schreiben können,‹ dachte er.

Als er ihr zum ersten Male gegenübertrat, fand er klare Augen und lächelnde Rede. Wieviel es sie kostete, mochte auf einem anderen Brette stehen.

Ein paarmal nahm er auch an ihren Gesellschaftsabenden teil, spielte den hofmachenden Weltmann und ging mit einem Hohngelächter von dannen.

Aus seinem äußeren und inneren Alleinsein heraus erwachte zugleich in ihm ein wildes Begehren nach dem Weibe, das, wie er meinte, zu seinen Jahren in krassem Widerspruch stand.

Astrid durfte es nicht sein, denn sie wieder besitzen hieß in die geheiligten Bezirke einbrechen, die Brigitte gehörten. Die Frauen ihrer Umgebung ebensowenig; dadurch hätte er ihr gegenüber die nötigste Würde verabsäumt.

Aber Berlin war ja groß. Im Norden und Osten gab es ganze Welten, in die niemals ein Mann seiner Kreise hineinsah. Und wenn er im Kino mit seiner jungen Nachbarin ins Gespräch kam und sie hernach in ein Gasthaus führte, wenn er im Tanzlokal einer kavalierlosen Schönen sich zugesellte und ihr Vertrauen gewann, so nahm niemand auf Erden Anstoß daran.

Immer wieder war er erstaunt, daß die Weiblichkeit ihn, den hohen Fünfziger, für ein rasches Geplänkel durchaus nicht zu alt fand. Im Gegenteil. Sein silbriger Lockenkopf erregte Gefallen, wo er sich sehen ließ, und manche Eroberung hätte er buchen können, wäre es ihm hierum zu tun gewesen.

Doch bald kam er dahinter, daß nicht das Weib als solches es war, das er begehrte. Eine Gefährtin suchte er, eine Schwester im Leide suchte er, eine, die ihm Brigitte ersetzte.

Oder nein doch! Mehr noch als das. Rundheraus gesagt: Brigitte suchte er.

Sie selbst. Ja, sie selber.

Irgendwo mußte sie doch zu finden sein. Und moderte sie auch da unten im Grabe, irgendwas, das ihr innig verwandt war, worin ihr Wesen, kaum unterscheidbar, sich auftat, lebte sicherlich auf dieser Erde.

Nur suchen mußte man. Finderglück mußte man haben.

Und bis dieses beglückende Etwas vor einem saß und mit auferstandenem Lachen bewies, daß die »Wiederkehr des Gleichen« kein leerer Wortschall war, mußte man eben vorliebnehmen mit dem, was sich allerorten herumtrieb.

Bald war es ein Nähmädchen, das seinen Schatz im Kriege verloren hatte und, während es sich im Rauchzimmer einer Winkelkonditorei mit Schmalzkuchen vollaß, dem Entschwundenen ein Tränlein nachweinte; bald eine anschlußbedürftige Witib, deren seliger Gatte sie in Sorgen zurückgelassen hatte und die schon beinahe getröstet war, wenn man ihr nach kurzem Spaziergang einen diskreten Zehnmarkschein in die Hand gleiten ließ.

Schicksale segelten so in buntem Zuge an ihm vorüber, und manches bot mit dem seinen, wenn auch nicht Ähnlichkeit, so doch einen Zusammenklang, der sehr wohl tat, besonders, wenn im Halbdunkel eine suchende Hand ihn streichelte, wie einst Brigitte gestreichelt hatte.

Auch von dem eigenen Erleben brauchte hier nichts verborgen zu bleiben, denn man kannte sich nicht und sah sich niemals mehr wieder. Was ihm unaussprechbar schien, das behielt er für sich, und im übrigen durfte er reden, reden, reden, so daß mit den Worten zugleich das Herzblut sich freudig verströmte.

Keine war zu niedrig, keine zu banal, um nicht ein Behältnis zu sein, die aufgestaute Inbrunst in sich aufzunehmen. Zuhören taten sie gerne, und, gleichviel ob sie verstanden oder nicht, Mitgefühl hatten sie alle, so daß er sich ihnen näher fühlte als denen, die ihm vom Schicksal an die Seite gestellt waren.

Doch wenn er sich von ihnen verabschiedet hatte, dann fiel die Einsamkeit doppelt grausam über ihn her. Und kam er spätabends heim und fand die schwarz gähnenden Räume, dann sank er nicht selten im Weinkrampf zusammen.

Einmal, als er halb besinnungslos vor Brigittens Schreibtisch kniete, geschah es, daß er eine leise Hand auf seiner Schulter fühlte und daß ein wehleidiges Stimmchen ihm in das Ohr rief: »Gnä' Herr! Lieber gnä'er Herr!«

Beschämt sprang er auf, denn die Hausleute zu Zeugen seiner Gramausbrüche zu machen, hatte er bisher immer zu vermeiden gewußt.

Auf bloßen Füßen, in weißem Nachtjäckchen, das goldblonde Strudelhaar in zwei Hängezöpfe gebunden, stand Loni hinter ihm.

Drucksend und mit ihren Tränen kämpfend gab sie Bescheid. Sie habe in ihrer Kammer ein Stöhnen und Schluchzen gehört, und da sei sie aufgestanden, um zu sehen, was es wäre, – und sie bitte vielmals um Entschuldigung, aber sie habe sich nicht anders bemerkbar machen können – und ob der gnä' Herr nicht lieber zu Bette gehen wolle, – dann komme der Schlaf oft von selber.

Überrascht ließ er den Blick auf ihr ruhen.

Immer noch hatte sie das Unschuldsgesicht und die Kleinmädchenfigur, doch ihr Sohn ging längst aufs Gymnasium.

»Ich danke dir, Loni,« sagte er in milderem Tone. »Ich weiß, du meinst es gut, aber du wirst besser tun, nicht nach mir hinzuhören. Wir alle müssen unseren Kummer tragen. Da hilft keiner dem anderen. Gute Nacht.«

Sie machte einen Knicks. Weiß Gott, sie machte einen artigen Kinderknicks, obwohl ihr Sohn aufs Gymnasium ging. Und dann verschwand sie im Dunkel des Flurs.

Nachdenklich schaute er hinter ihr drein.

›Da treib' ich mich an allen Weltenden herum,‹ sagte er zu sich, ›um ein mitfühlendes Herz zu finden, und zu Hause sitzt, was ich brauche.‹

Doch es war nicht viel mit ihr anzufangen. Ihr Seelchen wohnte fernab der seinen. Sie zu sich heranzuziehen, hieß ihr Gewalt antun. Für ein häusliches Liebesspiel aber war er zu müde, wie sie zu schade war, – auch stand Brigittens Schatten dazwischen.

Drum war es besser, es bliebe alles beim alten.

Und weiter ging sein Umherschweifen Abend für Abend, bis er erschöpft und verzagt in die Kissen sank.

Lustlos und ziellos machte er sich nächsten Tags an die Arbeit.

Gewiß, er arbeitete immer noch. Aus Pflichtgefühl, aus Gewohnheit und weil er Brigitte was zeigen mußte, wenn sie schließlich doch wiederkam.

Nein, nein, sie würde nicht kommen. Sie war ja tot. › As dead as a doornail‹, wie es bei Dickens heißt, der einst sein Abgott gewesen war.

Aber nicht umsonst hatte ihr Auge so viele Jahre hindurch auf seinem Schaffen geruht. Wenn nicht für sie, für wen lohnte sich's noch?

Doch da war auch eine andere Gedankenreihe, die schien ihn geradeswegs in die Hölle zu treiben. Immer von neuem trat sie dazwischen und drohte zunichte zu machen, was liebevolles Gedenken in ihm aufgebaut hatte: Wenn sie nicht gewesen wäre, die ein krauser Zufall ihm zugesellt hatte, alles hätte ein anderes Gesicht gekriegt.

In geradlinigem Aufstieg, ohne das entnervende Hin und Her eines mit sich zu schleppenden Haushalts, ohne die Lasten und Kümmernisse, die der Familienbetrieb ihm auferlegt hatte, wäre sein Leben vorwärts geschritten. Nirgends ein Knick, nirgends ein Nachlassen, nirgends ein Zweifel. Der hinterher kletternde Nachwuchs hätte ihn niemals unter seine Füße getreten. Lehrer und Führer wär' er geblieben generationenlang.

Statt dessen: vermottet, verwittert, beiseite geschoben, aus dem Bewußtsein der weiterstrebenden Zeit beinahe gelöscht! Hinübergegangen zu denen, die einen gleichgültigen Scheinruhm als Alterspension mit sich herumschleppen, bis sie der Tod von ihm wie von allem erlöst.

Was hatte es geholfen, daß sie allzeit um ihn besorgt gewesen war, wenn sie selbst der schwersten Sorge bedurfte! Wieviel Lähmendes war nicht von ihr ausgegangen und hatte ihm die Flügel zur Erde gedrückt, so daß er sich verurteilt gesehen, im Staube zu kriechen sein Leben lang!

Doch nun die Gegenrechnung, die in ihrem Namen aufzustellen er seiner Toten schuldig war: Lachend, voll harmloser Lebensfreude, begabt mit rastlos spielender Phantasie, eine Dichterseele von Gottes Gnaden und zu höchstem Künstlertume bestimmt, so war sie einst in seine Kreise getreten, geschaffen und willig, ihm höchste Glückserfüllung zu sein.

Was aber hatte er aus ihr gemacht?

Ein kränkelndes, kümmerliches, im Winkel verkrochenes Schattengeschöpf, dessen Bildnerkraft zertrümmert, dessen Selbstgefühl vor die Hunde gegangen war, das sich mit dem Bewußtsein, gerade noch geduldet zu sein, an seiner Seite dahinschleppte, und das nur dadurch, daß es für ihn tätig sein durfte, eine Art von Daseinsrecht erhielt.

Zwei Leben, aneinander zerschellt, gemeinsam zu Asche verflackert, nur um dem Moloch der guten Sitte ein Opfer zu bringen!

Das war das Fazit, der letzte Sinn einer sogenannten »glücklichen« Ehe!

Glücklich? Wie anders! Jedem Unglück hätte er die Faust zu zeigen gewußt, und die nicht in Wahrheit zu ihm gehörte, hätte das Feld räumen müssen, noch ehe sie sich dessen versah.

Wie all dies Verworrene und Widersinnige in eine Formel bringen, um das Geschehene zu werten und es in die Reihe der Typen hineinzufügen?

Wahr erschien alles. Aber das Gegenteil auch.

Heiter, zufrieden mit ihrem Lose war sie geblieben ihr Leben lang. Und er selbst? Hatte er nicht in heißer Arbeit und nicht minder heißem Genießen alle die Möglichkeiten auszuschöpfen verstanden, die in seinem Gesichtskreis erschienen?

Warum also von Verkümmern reden und von Zerbrochensein?

Und dennoch! Man hatte nur nötig, die Vergangenheit nach den Stimmungen zu durchmustern, die darinnen geherrscht hatten, und man wußte Bescheid.

Zum Verrücktwerden das alles! Immer tiefer sank man in dieses infernalische Grübeln, immer wüster wurde das Hirn, immer enger wurde der Atem.

Ein Ende machen, ein Ende, ein Ende machen, sonst erstickte man drin.

Gott sei gelobt, daß die Arbeit noch da war!

Mit ihrem anspruchsvollen Flächeninhalt und ihren verzwickten Rätseln stand die »Sintflut« da und wollte tagtäglich mit neuer Andacht betreut sein.

›Also dalli, mein Freund! Hier hast du ein Probestück, aus dem sich von selber ergibt, was noch an dir dran ist!‹

Von dem einstigen Vorwurf ließ sich nicht viel mehr erkennen. Die Orgelpfeifen waren verschwunden, die ineinander geknäulten Glieder nicht minder, nur das Weib im Vordergrunde, das, vom Wasserschwall zurückgerissen, verzweifelt nach seinem Kinde greift, hatte er sorglich gehütet. Mit ihr wäre ja jeder Grund gefallen, dem alten Gebilde eine neue Formung zu geben.

Aber sie allein brachte noch keine »Sintflut« zustande. Von neuem mußte in Menschenfleisch gewütet werden, damit das hohe Pathos des ursprünglichen Gedankens nicht etwa in einer Rührszene unterging.

Sie alle hatten es gekonnt, die Großen der Vorzeit, von Lionardo, von Orcagna an, warum nicht auch er? Warum erschien ihm im tiefsten Innern die Orgie der Leiber als eine Lächerlichkeit?

Wahrte er den Gleichlauf der Linien, wie Michelangelo es auf der rechten Seite des »Jüngsten Gerichts« getan, so geriet er in akademische Geziertheit hinein, – denn was jener Heros aus dem Nichts gestampft hatte, war längst Schablone geworden, – ließ er jedoch das Gliederchaos bunt durcheinanderwirbeln, so ekelte ihn die Kraftmeierei, die sich höchstens für Rotznasen ziemte.

Ein Entwurf folgte dem andern. Unbarmherzig wischte über jeden der breite Pinsel hinweg.

Er brauchte sich nur zu sagen: ›Wie würde Brigitte sich dazu stellen?‹, und schon war das Neugeschaffene dem Untergang verfallen.

Die Kartons, auf denen er zur Nachtzeit seine Pläne niederlegte, häuften sich bereits zu Dutzenden, doch nicht einer schien wert, für künftige Gestaltung brauchbar zu werden.

Und seine Verzagtheit wuchs.

Durch nichts im Leben war er so ganz an sich irre geworden, noch nie hatte er das durchbohrende Gefühl vollkommenen Stümpertums an sich kennengelernt.

Wunder auch! Brigitte war ja da gewesen, hatte mit lächelndem Munde auftauchende Zweifel gebannt und ihm immer von neuem das Rückgrat gefestigt.

»Mein Stephenson kann alles,« so pflegte sie zu sagen, und diese vier Worte hatten genügt, um ihm über die schwierigsten Dinge hinwegzuhelfen.

»Brigitte! Wo bist du, Brigitte?«

So ging jetzt oft genug sein lautloser Schrei durch die Öde der Werkstatt. – –

Ein Morgen kam heran nach wenigen Stunden quälenden Halbschlafs, da stand er mit Stichen im Hirn und zittrigen Knieen vor der grausamen Staffelei, bemüht, den jüngsten Entwurf, den die vergangene Nacht ihm gebracht hatte, auf die Leinwand zu übertragen.

Der Pinsel entsank fast seiner Hand, so müde war er schon vor dem Beginn.

Und als er die ersten Sepiastriche über den noch feuchten Untergrund führte und ein neuer Wirrwarr von ineinandergeflochtenen Körpern sich anzukündigen begann, wie er deren schon bis zum Ekel ausgebaucht hatte, da packte ihn die Verzweiflung.

›Du alter Esel,‹ rief er sich zu, ›den feurigen Jüngling willst du mimen, willst Rausch und Sturm vortäuschen und bist doch ein armseliger Mummelgreis, der froh sein kann, wenn ihn das eigene Asthma nicht umbläst.‹

Das Schabemesser lag zur Hand.

Ritsch, ratsch! Im Zickzack quer durch die Leinwand, deren Stücke wie riesenhafte Blumenblätter sich ihm entgegenwölbten.

Steffen Tromholts genialisches Jugendwerk, das in seiner reiferen Form noch späte Geschlechter zur Bewunderung hinreißen sollte, die einst hochgepriesene »Sintflut«, war gewesen. –


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