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Zwölftes Kapitel

Dies war zu Ende, aber anderes begann.

Ein Schadloshalten an allen denen, die nichts als den Genuß des Augenblicks begehrten, in deren Lebensäußerungen Menschentum kaum eine Rolle spielte.

Sie kamen und gingen, und die Porträtskizze, die sie allenfalls mit sich nahmen, bot Vorwand genug.

Aber: da gab es eine Tür, die nicht verschlossen werden durfte – weswegen auch, wenn harmloser Besuch die Außentreppe hochgestiegen war? – und hinter der zu allen Zeiten für eine Lauscherin Platz war.

Daß Brigitte mit Absicht nicht lauschte, das verstand sich von selbst. Doch dem Zufall mochte trauen, wer wollte!

Man hatte nur nötig, sich vom Schlafzimmer aus die Wendeltreppe emporzubemühen und auf der obersten Stufe ein wenig zu zögern, wenn man es nicht vorzog, unversehens einzutreten, um dem Gaste – es mochte auch nur ein Berufsmodell sein – freundlich die Hand zu bieten.

Das war geschehen – einmal, zweimal, häufiger sogar – in aller Unschuld und aus Gründen, die ein plötzliches Erscheinen gerade notwendig machten. Dann aber hatte es sich ereignet, daß heiße Backen verdächtig leuchteten und verschleierte Blicke scheu in die Ecke wichen, von aufgeknöpften Taillen und entblößten Schultern gar nicht zu reden, denn die hätten ja zu dem Bilde gehören können, das freilich über die Anfangsgründe nicht oft hinausgediehen war.

Nach diesen Wahrnehmungen blieb Brigitte dem Atelier fern, sobald sie Besuch darin vermutete und nicht ausdrücklich eingeladen war, aber in ihr wurmten Sorge und Skrupel. Nicht daß sie besonders eifersüchtig gewesen wäre – dazu gab sie sich gar nicht das Recht – doch war ihr zumute, als ob ein giftiges Insekt sie angesprungen habe, durch dessen bloße Berührung ihr Blut verschlechtert worden sei.

Und dann kam die dumme Geschichte mit Margot Marianescu, die sie bis ins innerste Mark hinein erschütterte.

Das blutjunge, süße Geschöpf war eines Tages, mit gewichtigen Empfehlungen ausgestattet, bei ihr erschienen. Ein rundes, braunes, knuspriges Wachtelchen mit brechenden Bettelaugen und einer Zwitscherstimme, die kosend schmeichelte.

Oh, sie sei ja so fremd in Berlin, und sie fühle sich so unendlich beglückt, daß die »Kenädike« sie huldvoll aufgenommen habe. Und wenn sie manchmal auf dem »Schemmel« zu ihren Füßen sitzen dürfe, so wäre das der Inbegriff aller »Sällikeit«.

Sie kam zweimal, sie kam dreimal, und als sie an einer Abendgesellschaft teilnahm, machte die gesamte Männlichkeit Stielaugen hinter ihr her.

Nur Steffen kümmerte sich wenig um sie, und als Brigitte ihn verwundert nach den Gründen fragte, meinte er obenhin, sie sei nicht sein Typ.

Doch dann geschah es in einer Abendstunde, daß man schlechterdings zu ihm hinaufgehen mußte, denn sie waren eingeladen, und für sein Umkleiden blieben kaum fünfzehn Minuten.

Als sie anklopfte, schlug ihr das Herz, sie wußte selbst nicht warum. Eine Antwort kam nicht, aber eintreten mußte sie ja.

Und da saß, vom Rotfeuer des Abends bestrahlt, die kleine Rumänin nackt auf dem Schoß ihres Mannes.

Jawohl, das war ein harter Schlag. Nicht eigentlich um seiner Untreue willen; er hatte sie ja darauf vorbereitet, daß eine Künstlerehe sich unter anderen Bedingungen abwickle als das Zusammengepferchtsein innerhalb biederer Bürgerlichkeit.

Das Bösartige und Garnichtzufassende war der Dunstkreis des Betruges, von dem sie sich plötzlich umgeben fand.

Wenn dies geschehen konnte, was war dann noch unmöglich in der Welt, in die man verschlagen war? – Falsch die demütige Zuneigung, mit der die verderbte Landfahrerin sich ihr genähert hatte! Falsch die Gleichgültigkeit, in der er sich gefiel! Falsch konnten sogar die Empfehlungsbriefe sein, die ihr überreicht worden waren. Ein abgekartetes Spiel vielleicht, bevor noch die Kleine den Fuß über ihre Schwelle gesetzt hatte.

Steffen selbst schien nicht gewillt, viel Aufhebens davon zu machen.

Als er an jenem Abend bei der Heimkehr – auf dem Hinweg war sie vorausgefahren – stumm neben ihr im Wagen saß und gewahrte, wie ihr die dicken Tränen über die Backen tropften, griff er nach ihrer Hand und sagte: »Kindchen, du mußt die Chose nicht schwer nehmen. So was macht sich ganz von selber, ob man will oder nicht. Das kleine Biestel mochte gerne gemalt sein – schönen Akt hat sie ja, das sahst du wohl selber – und wenn so was wirklich passiert, im nächsten Augenblick ist es vergessen … Verkehren wird sie natürlich nicht mehr bei uns, so was mut' ich dir gar nicht zu. Aber das Bild muß fertig werden. Dergleichen ist Ehrensache. Daß ich sie nicht mehr anrühren werde, darauf geb' ich dir hiermit mein Wort.«

Sie antwortete nichts und weinte nur still vor sich hin.

›Weltuntergang‹ dachte sie. Denn was blieb übrig, wenn er sie nicht mehr liebte?

Er – in gutmütigem Bedauern – tröstete sie immer noch weiter. Und sie ließ es sich gerne gefallen. Böse sein konnte sie ihm nicht; sie würde ihm niemals böse sein können, das fühlte sie in ihrem tiefsten Innern.

Dann, als er nach dem Schlafengehen im Finstern noch einmal dahergekrochen kam und sich schweigend an ihre Seite legte, nestelte sie sich beruhigt und beinahe schon mit ihrem Schicksal versöhnt in seinem Arme zurecht.

Fast war ihr zumute, als habe er ihr verziehen und nicht sie ihm. – –

Diese Abirrung war wohl der Grund, daß beider Eheleben in der Folgezeit heißer und inniger wurde, als es vielleicht jemals gewesen war.

Er seinerseits fühlte, wieviel er ihr abzubitten hatte und welch schmerzliche Selbstaufgabe in ihrem Benehmen sich offenbarte, sie aber maß sich selber die Schuld zu, daß er auf heimlichen Wegen ein Glück suchte, das sie ihm zu schenken nicht fähig gewesen war. Und darum meinte sie gutmachen zu müssen, was sie ganz sicherlich – sie wußte nur nicht, wodurch – bis dahin ihm gegenüber verfehlt hatte.

Fast zuviel war es, was diese zwei Menschenkinder, die nun doch schon eine Anzahl von Jahren zusammen hausten, an ehelicher Süße einander zu geben trachteten. Und daraus entstand eine Art bald wohliger, bald unbehaglicher Trägheit, die insbesondere die Nachmittagsstunden beherrschte und bei geringem Anlaß in Gereiztsein umzuschlagen geneigt war.

Oftmals sagte sich Steffen, daß er außerhalb der Ehe sich zu so lässiger Schwelgerei niemals das Recht gegeben hätte und daß dort krasse Unmoral gewesen wäre, was hier durch blöde Legitimität beschönigt oder gar geheiligt wurde.

Und ohne stark genug zu sein, dem unbedachten Verwirtschaften von Kraft Einhalt zu tun, gefiel er sich darin, den Ehestand als solchen dafür verantwortlich zu machen.

Auch Brigitte schien unter dieser Lebensführung zu leiden. Ja weit mehr noch als er. Häufig zeigte sie sich schweigsam und zerstreut. Sie starrte ins Leere ohne Grund, sie litt an Müdigkeit und Schwindel, sogar Ohnmachten und Herzkrämpfe brachen über sie herein. Und wenn er, von Sorgen gepackt, den Hausarzt herbeirief, leugnete sie alles oder schob es auf launische Nerven.

Und dann kam eine Zeit, in der sie zu ungewohnter Stunde das Haus verließ und bisweilen sogar die Mahlzeiten versäumte. Ängstlich und abgehetzt erschien sie dann endlich und verhaspelte sich in tausend Erklärungen, deren Fadenscheinigkeit auf der Hand lag.

Wie sehr er ihrer Treue auch sicher war, dies Treiben mußte ihm schließlich Grund zum Verdachte geben. Doch dann verschwanden die bedrohlichen Erscheinungen wieder. Für etliche Zeit ging alles den altgewohnten Weg, bis sie plötzlich wieder da waren.

Eines Tages hielt er sich nicht länger und beschloß, ihr heimlich zu folgen.

Als er gegen die Dämmerung hin, zur Ateliertür hinunterlauschend, ihre Schritte im Treppenflur vernahm, warf er Palette und Pinsel zur Seite und schlich hinter ihr drein.

Doch kam er gerade nur zur Zeit, um wahrzunehmen, wie sie sich am nächsten Halteplatz in eine geschlossene Droschke warf; und ehe er das gleiche tun konnte, war sie verschwunden.

Am nächsten Abend benahm er sich schlauer. Da er Anzeichen hatte, daß sie auch heute ausgehen würde, verließ er das Haus noch früher als sie, setzte sich in einen der dastehenden Wagen und wartete an der nächsten Ecke, bis sie wie gestern erschien.

Nun konnte er ihr auf den Fersen bleiben, ohne daß sein Kutscher das Gefährt aus den Augen verlor.

Der Weg kreuzte das Zentrum der Stadt und führte durch unzählige Straßen in Quartiere, wohin der Fuß eines westlichen Menschen sich kaum jemals verirrt.

Endlich machte vor einem schäbigen Armeleutshause ihr Wagen halt. In unverdächtiger Ruhe ließ Steffen den seinen weiterfahren, bis er annehmen konnte, daß sie im Flure verschwunden war.

Dann lohnte er seinen Kutscher ab und ging zurück, um neben ihrer Droschke Posto zu fassen.

Argwohn und Staunen, Hohn und Mitleid wühlten in ihm. Im tiefsten Innern hielt er sie keines Fehltritts für fähig. Er lachte über sich und über sie, wenn er nur daran dachte. Und doch sprach der Augenschein gegen sie und häufte Rätsel auf Rätsel, für die es nur eine Lösung gab.

Der Mann auf dem Bocke mußte ihn von dem Mieten des nachbarlichen Gefährtes her wohl in Erinnerung behalten haben, denn er warf unruhige Blicke zu ihm hernieder. Offenbar machte er sich auf die Liebeskatastrophe gefaßt, die bei der Wiederkehr seiner Dame unausbleiblich sein würde. Eine Stunde verging und eine halbe dazu.

Längst war es ganz finster geworden, da endlich stand sie in der Haustür.

Den Schleier tief herabgezogen, eilte sie, ohne sich umzuschauen, auf den Wagenschlag zu.

Rasch trat er neben sie.

»Was machst du hier?«

Ein Aufschrei. Ein Taumeln. Gerade daß er sie noch auffangen konnte.

Erst als sie neben ihm in der Ecke des Polstersitzes lag, kam sie wieder zu Sinnen.

»Nun also?«

Ja, da gab es nicht viel zu leugnen.

Eine Weise Frau wohne da oben, deren Namen sie aus der Zeitung erfahren habe und die ihr durch einen wohltätigen Eingriff schon mehrmals dienstlich gewesen sei. Und als er erschrocken aufschrie, »sag selbst, was hätt' ich tun sollen? Mehr Kinder darf ich dir doch nicht aufhalsen! Ich kenne ja deinen Abscheu vor dem ganzen Familienbetrieb. Deine Arbeit wäre sicherlich dadurch zu Schaden gekommen, und diesen Gedanken hätte ich gar nicht verschmerzen können.«

Als er dies hingeschluchzte Bekenntnis sich ergießen hörte, stieg eine Ahnung von Mitschuld – mehr noch: von Urschuld – heiß in ihm hoch.

»Und darum glaubtest du deine Gesundheit zu Markte tragen zu dürfen?«

Sie las aus seinen Worten nichts als neuen Vorwurf heraus.

»Vergib, vergib mir doch!« stammelte sie. »Was hätt' ich tun sollen, sag, was hätt' ich tun sollen?«

Und dabei blieb sie.

Die Antwort, die einzige, die von Rechts wegen da war, blieb ihm im Halse stecken.

Sie hatte recht. Bloß eine Art von Kindschaft durfte um ihn sein im Leben: diejenige, die seine Kunst ihm gab. Jede andere war als ein Überfluß, ein Hemmnis oder gar als ein Unfug zu bewerten. Und was Brigitte getan, war nur zu sehr der Ausdruck seiner innersten Wünsche gewesen.

Trotzdem hielt er es für notwendig, diesem selbstzerstörenden Treiben Halt zu gebieten – von den Gefahren, die das Strafgesetzbuch brachte, gar nicht zu reden.

»Vor allem mußt du einen Frauenarzt aufsuchen,« sagte er, »damit wir sicher sein können, daß dein Körper keinen Schaden genommen hat. Dann aber mußt du mir das Versprechen geben, daß du nie wieder zu einem dieser Weiber gehen wirst, denn die richten die meisten zugrunde, die sich ihnen blindlings anvertrauen … Und gibst du es mir, so geb' ich mir auch eins. So roh und so besessen bin ich nicht, daß ich dich dein Leben weiter aufs Spiel setzen ließe.«

Und erst als sie sein Verlangen erfüllt hatte, fand sie den Mut, ihm zu beichten, welch grausame Gewissensnöte sie in diesen Zeiten wieder und wieder hatte erdulden müssen.

»Ach, wenn's auf mich ankäme,« gestand sie, »ein Dutzend wär' mir gerade recht, aber, wie gesagt, du mußt von allen diesen Sorgen befreit sein. Unsere viere – den kleinen Wulle-Wulle rechne ich immer noch mit – sind dir mehr als genug. Und da leide ich schon lieber, soviel es eben zu leiden gibt.«

Wohl durchfuhr ihn für einen Augenblick der Gedanke, daß Opfer wie diese kein Mensch von einem andern annehmen dürfe, aber er ertrank in dem Bewußtsein, daß hier Lebensnotwendigkeiten starrten, denen sie sich ebenso zu beugen hatte wie er selber. – –

Von nun an war für eine Weile Ruhe im Lande.

Brigitte kehrte zu ihrer heiteren Sorglichkeit zurück, betreute ihn, betreute das Kind und war, ohne je zu ermüden, am Werke, sich den Pflichten der immer weitergreifenden Gastlichkeit gewachsen zu zeigen.

Er aber nahm Rücksicht nach Kräften, und zu Befürchtungen schien kein Grund mehr vorhanden.

Dazu wurde Neues, Großes geplant.

Das alte Neuheider Herrenhaus, das in seiner einst geschaffenen Eintagspracht noch immer verödet dalag, sollte in Wahrheit bewohnbar gemacht, und nicht bloß Glanz, – was mehr galt, Behagen sollte heimisch drin werden.

Seit jenem ersten Sommer war Steffen nur zu geschäftlichen Zwecken auf dem Gute gewesen, und wie sehnsüchtig Brigittens Blicke auch an ihm hingen, er hatte sie niemals mit sich genommen. Jetzt aber brauchte er sie. Und mit fröhlichem Eifer stürzte sie sich in die Arbeit, die die Voranstalten verlangten.

Was er sich ausgedacht und entworfen hatte, führte sie aus. Er zeichnete die Formen und tupfte die Farben. Sie rannte straßauf, straßab, die richtigen Stoffe zu finden. Er kaufte die alten Möbelgestelle, ihr blieb deren Herrichtung überlassen. Sie ließ aufbessern, weben, einfärben und, was nötig war, vom Auslande kommen. Und ob ihr Geschmack noch immer etwas ängstlich und bürgerlich blieb, sein Einfluß beflügelte ihren Mut und erfüllte sie mit neuen Ideen.

Doch plötzlich erschlaffte sie mitten im Werke. – Hielt inne – wollte nicht fort – lag stundenlang auf dem Sofa, und wenn er sie ausforschte, sah er in grelle, verstörte Augen.

Und endlich fand sich des Rätsels Lösung: Pietätlos sei sie, undankbar sei sie und habe im Glanze des Jetzt die Schlichtheit der einstigen Jugend vergessen. Nie mehr sei sie in die Stadt zurückgekehrt, aus der er sie herausgeholt hatte, und doch sei ihr erster Mann dort begraben, und die Gräber der Eltern lägen auch nahebei, und alle zusammen verfielen. Ebenso habe sie sich niemals mehr um ihre alten Freunde gekümmert und sei doch so gut bei ihnen geborgen gewesen.

Steffen wunderte sich wohl über diese plötzlich aufsteigende Selbstquälerei, die gar nicht ihrem Wesen entsprach, aber schließlich gab's dagegen für sie nur ein Mittel: sich auf die Bahn zu setzen und ein paar Tage in dem Nest zu verweilen, vor dem ihn das Grauen immer noch schüttelte.

Trotzdem bewog ihn eine unklare Sorge, ihr seine Begleitung anzubieten, aber mit selten erlebter Entschiedenheit wies sie den Vorschlag zurück.

An einem strahlenden Junimorgen fuhr sie von dannen.

Und als er sich einsam in der weiten Behausung sah, kam ihm zum Bewußtsein, wie sehr sie ein Stück seines Lebens geworden war. Mochte er noch so oft allein auf Reisen gegangen sein, in dem gemeinsamen Heimwesen hatte er noch niemals auch nur einen einzigen Tag ohne sie zugebracht.

In unbehaglichem Entbehren lief er von einem Raume zum andern, als müsse sie in irgend einem Winkel versteckt sein, bis er schließlich mürrisch zu seiner Arbeit zurückkehrte.

Aus dem Kinderzimmer aber, wo es unter Mademoiselles löblicher Aufsicht zu hausen pflegte, kam ein kleines Menschenwesen geschlichen, und da es nicht fand, wonach seine Seele verlangte, warf es die sonstige Schüchternheit von sich, tappte den verbotenen Weg über die Wendeltreppe empor und drang in das geheiligte Reich, das sein Fuß sonst nur ganz selten und bei feierlichem Anlaß betreten durfte.

So stand es mit einem Male ängstlich geduckt zwischen den Falten des Vorhangs und sah mit Mammis Augen hilfeflehend zu Steffen empor.

Ein Modell war glücklicherweise nicht da. So konnte er die unverhoffte Besucherin freundlich willkommen heißen. Sie durfte sogar auf seinem Schoße Platz nehmen und einen tiefen Griff in die Büchse tun, wo die schokoladenen Keks für die vom Sitzen Ermüdeten aufbewahrt wurden.

Dabei schoß ihm – eigentlich zum erstenmal im Leben – die Erkenntnis durch das Hirn: ›Dies ist mein Kind! Ich habe ein Kind!‹

Fünf Jahre war sie nun alt. Ein rundlich liebes Geschöpfchen mit dunkelblonden Korkzieherlocken, die den Hals in blankem Geschlängel umrahmten. Von seiner toten Mutter fanden sich immer noch Spuren in dem unausgebildeten Näschen und rings um den Flunschmund. Von den Brauen war noch wenig zu sehen. Schwach würden sie wohl immer bleiben – genau wie Brigitte sie hatte – aber die Wimpern bildeten langbogige Strahlen und legten verträumte Schleier vor die sanften, graublauen Augen, die sie gleichfalls von ihrem Mammi geerbt hatte.

»Bangen wir beide uns nach Mammi, mein Süßes?«

Da schlang sie die Ärmchen um seinen Hals und nestelte sich, Trost und Liebe suchend, dort fest.

Und er dachte von neuem: ›Wie seltsam! Das ist mein Kind! Ich habe ein Kind!‹

Dabei fiel ihm ein, daß er sie noch niemals gemalt hatte. Warum eigentlich nicht? Für jede Fremde hielt er Leinwand und Farben bereit, aber über dieses liebliche Geschöpf, das noch dazu sein Blut in den Adern trug, hatte er achtlos hinweggesehen. Und nie war ihm von Brigitte eine Bitte, eine Mahnung gekommen. Der Grund hierfür war klar: wie sie in ihrer Bescheidenheit für sich selber nie etwas erbat, so auch nicht für das Kind, mit dem sie sich eins fühlte. Ihr bei ihrer Rückkehr ein Glück zu bereiten, war das Gebot, das die Stunde ihm zurief. Oh, wie würde sie aufjauchzen, wenn sie ihr Zimmer betrat!

Also schnell an die Arbeit!

Mademoiselle, eine ältliche Schweizerin, die mit eifersüchtiger Leidenschaft an dem Kinde hing, wurde verständigt und lachend hinausgeschickt, als sie das weiße Blauschleifige, ohne das sie sich ein würdiges Porträt nicht vorstellen konnte, frisch gebügelt herzutrug. Sogar das Alltagskleidchen sank von den kindlichen Schultern – und dann konnte es losgehen.

Und während die Skizze voranschritt, oh, was er da nicht alles erfuhr! Ein ganzes buntes, strenges Jugendleben mit Spielzeug und Lernzeug, mit Gesetzen und Verboten vollgefüllt bis zum Rande, mit Ängsten und Freuden, so heiß, wie nur die Kindheit sie schenkt, mit Inbrunst, so schämig, wie sie sonst erst zehn Jahre später ins Herz zieht, tat seine Pforten jetzt auf.

Und Gegenstand aller Liebe war Mammi. » Das« Mammi, ihr Mammi, über dessen drohende Wegfahrt sie sich gestern schon in den Schlaf geweint hatte.

Aber dann noch wer! Jawohl, noch wer! Doch dessen Namen sprach man nicht aus, der schwebte immer nur wie der liebe Gott hoch über den Wassern.

Es ließ sich ohne Beschwerde erraten, zu wem diese scheue Ehrfurcht anbetend emporsah.

Und ein Glück, nie erträumt, war es, dies holde Gefäß holden Empfindens sein eigen zu nennen.

Er malte und lauschte und lauschte und malte, aber das Kind, zart wie es war, ermüdete bald. Die Augen blaßten aus, und um die Lippen fand sich ein kränkelnder Zug, der zur Vorsicht gemahnte.

Ein Tag verging, ein zweiter, ein dritter. Er wagte nicht mehr die Staffelei zu verlassen, auch wenn der Kleinen Ruhe gegönnt war, nur um rechtzeitig zu Ende zu kommen, denn in jedem Augenblick konnte die Ausreißerin dasein.

Aber wer sich nicht sehen ließ, war Brigitte.

Wohl schrieb sie täglich – wenige Zeilen nur, mit Bleistift hingekritzelt –, und immer wieder bat sie um Aufschub.

Irgend etwas stimmte da nicht. Von den Gräbern, den Freunden war gar nicht die Rede, auch was sie tagsüber trieb, blieb unbesprochen.

Am fünften Tage hing das Bild in glattem Ebenholzrahmen über dem Schreibtisch, wohin es gehörte. Und schon war er willens, durch ein Machtwort dem Herumschwärmen ein Ende zu bereiten, da wurde ihm eine Depesche gebracht, die folgenden Inhalt hatte:

»Ihre Gattin liegt im Parkhotel krank und verlangt nach Ihnen. Werde Sie heute zum Abendzug auf Bahnhof erwarten.

Dr. Genshagen.«

Ein jäher Schreck trieb ihm den Herzschlag zum Halse. Nur daß der treue Arzt, auf den er sich nach einstiger Erfahrung blindlings verlassen konnte, sorgend um sie bemüht war, gab ihm leidliche Ruhe.

Aber schlimm wurden die Stunden der Bahnfahrt trotzdem, und immer wieder mußte er einer anderen Fahrt gedenken, als deren Ziel ihm die Bahre des kleinen Wulle-Wulle vor Augen gestanden hatte.

In der Halle trat ihr alter Freund ihm entgegen.

»Um Gottes willen, was ist?«

»Nur keine überflüssige Sorge! Alles geht gut. Aber wir wollen ins Freie, wo weniger Ohren um uns herum sind.«

Und während sie an der Droschkenreihe entlangschritten, kam es endlich zutage: Verzweifelt sei sie bei ihm erschienen. Sie habe sich, als es noch Zeit war, keinen Rat gewußt, denn sie wäre durch ein Versprechen gebunden gewesen, zur Weisen Frau nicht mehr zu gehen. Und nun sei es wahrscheinlich zu spät. Wenn er nicht hülfe, sei es ganz sicher zu spät. Noch ein Kind aber – diesen Umsturz würde ihr Mann nicht ertragen. Darüber könnte die Ehe zuschanden gehen. Und dies würde der Tod für sie sein.

»Das wissen Sie ja, lieber Tromholt: Ihre Frau ist eine, der man nichts abschlagen kann. Kommt's 'raus, so muß ich auf meine alten Tage ins Zuchthaus. Darüber bin ich mir klar und hab' es doch getan. Aber eins, womit ich nicht rechnen konnte, war, wie sehr ihre Organe bereits geschwächt sind. Blutungen haben sich eingestellt, die leicht zur Lebensgefahr werden konnten. Auch das Herz begann zu versagen. Kurzum: ich habe rechte Sorgentage hinter mir. Und wie in Zukunft das Nervensystem sich verhalten wird, ist eine zweite Sorge … Mag sein, wie's will, ich mache Ihnen keinen Vorwurf, aber machen Sie mir auch keinen … Und jetzt kommen Sie zu ihr. Daß sie nach Ihnen verlangt, war eine Notlüge. Im Gegenteil: sie hat nur einen Gedanken, alles vor Ihnen geheimzuhalten. Aber ich brauche Sie. Ihr Hiersein wird ihre gesunkenen Lebensgeister am raschesten wieder in die Höhe bringen. Und darauf kommt es im Augenblick an.«

In knirschendem Schweigen nahm Steffen das furchtbare Bekenntnis in Empfang. Nicht einen Atemzug lang verhehlte er sich, daß er, er allein auch an diesem neuen Unheil die Schuld trug.

Aber was konnte er gegen sich tun? Zum Familienvater war er verdorben. Genug, daß er sich zur Not mit seiner jetzigen Lage abgefunden hatte, daß er die ihm aufgeschmiedeten Ketten geduldig an sich herumtrug … Ihre Ahnung hatte recht: Ein abermaliges Kindergeschrei hätte ihn unfehlbar für immer zum Hause hinausgetrieben.

Keiner der beiden Männer sprach noch ein Wort. Gemächlich zuckelte die Droschke ihrem Ziele entgegen. Erst als sie stillhielt, sagte der Arzt: »Warten Sie einen Augenblick. Sie ist zwar zu matt, um viel zu erschrecken, aber vorbereiten will ich sie doch.« –

Und da lag sie nun. So weiß wie die Bettücher, die sie umgaben. Kaum, daß von den Tuschkastenfarben ein bläßliches Netzwerk sich auf den Backenknochen noch vorfand.

Und selig, erlöst, Verzeihung erbittend und Verzeihung gewährend, lächelte sie nach seinen Augen empor.

In ihm aber schrie es: ›Mörder, der du bist!‹


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