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An einem vernebelten Rauhreiftage des folgenden Winters geschah das große Unglück: der kleine Wulle-Wulle stürzte sich zu Tode.
Brigitte war wieder einmal bei Steffen zu Besuch, und er wollte gerade mit ihr in die Oper, da kam von Naschke ein dringender Botenbrief, er habe ihn in einer wichtigen Angelegenheit auf der Stelle zu sprechen.
Ärgerlich gab er sich drein. Von seinem Freunde erfuhr er das Fürchterliche: Fast noch unter Mis Händen war der kleine Kerl in die Gitterranken des Balkons emporgeklettert, hatte das Gleichgewicht verloren und war mit gespaltenem Schädel auf dem Steinpflaster des Hofes liegen geblieben. Mi, die Naschkes Adresse kannte, hatte ihn in kluger Voraussicht telegraphisch um Übermittlung der Nachricht gebeten, da der plötzliche Schreck ihrer Herrin den schwersten Schaden bringen konnte.
Und da auch Steffen längst wußte, daß Brigittens Herz mit Schonung behandelt sein wollte, so beschloß er, ihr erst einen kräftigenden Schlaf zu sichern, ehe er die Unglücksbotschaft über sie hinstürzen ließ.
Oh, das wurde eine böse Nacht! Er lag in dem himmelumwölbten Empirebett, dem sich Brigitte vor lauter Ehrfurcht noch niemals anvertraut hatte, sie auf der Chaiselongue, die mit ein paar Handgriffen in ein Schlaflager zu verwandeln war.
Mit angehaltenem Atem lauschte er nach ihr hinüber, und erst als ihre Atemzüge die einer Schlafenden waren, gönnte er sich, seiner Qual verstohlenen Ausdruck zu geben.
Aber gegen zwei Uhr morgens ertappte sie ihn doch. Plötzlich hörte er aus dem Dunkel ihre sorgende Stimme: »Was ist dir? Du seufzt ja so.«
Er redete sich heraus, so gut er vermochte, und sie, die kein Mißtrauen kannte, schlief bald wieder ein.
Am Morgen heuchelte er weiter, bis das Frühstück hinter ihr lag, und dann kam das Schwerste, das ihm das Leben bisher beschert hatte.
Und als das Wort gefallen war, das gnadenlose, für das es keinen Widerruf und keine Milderung gab, da schluchzte sie nicht los, da brach sie nicht in Jammer zusammen. Erstarrend sah sie ihn an mit jenem Hundeblick des widersinnig flehenden Vertrauens, den er in den Schauern von Beatens Geburt zum erstenmal an ihr bemerkt hatte, den Blick, der zu ihm sagte: ›Du, der du alles kannst, warum hilfst du mir nicht?‹
Doch hier gab es keine Hilfe. Hier mußte gelitten werden, was sieben Schwerter dem Mutterherzen an Leid nur zu bringen vermögen.
Nichts anderes blieb ihm, als sie in den Arm zu nehmen und ihre Tränen – endlich kamen sie, die barmherzigen Tränen – an seiner Brust sich verströmen zu lassen. Und wenn sie in höchster seelischer Not von neuem zu erstarren drohte, dann führte er sie durch zärtliches Schelten immer wieder ins Leben zurück.
So brachte er sie auf die Bahn und nach endlos langer Fahrzeit in das vom Unglück heimgesuchte Haus.
Da lag der kleine Kerl – bereits eingesargt, der blonde Dickkopf zu übergroßer Unform umgewandelt.
Ein Schrei, ein Kniefall, ein Wimmern in die Decke des Katafalks hinein, herzbrechend in der Qual zermalmender Selbstanklage.
Wäre sie nicht zu Steffen gefahren, hätte sie die Kleinen nicht allein gelassen, das Grauenvolle würde niemals gekommen sein.
Dieser Schuldspruch lag sehr nahe, und Steffen hatte ihn erwartet. Mit einem Arsenal von Gegengründen rückte er dagegen an, und die waren auch nicht erdichtet. Etwas Verläßlicheres als Mi gab es nicht auf der Welt; ebenso wie deren Fingern hätte der wilde Bursche auch ihren eigenen entschlüpfen können – ja eher noch, denn ihre Gedanken irrten nur zu oft in der Ferne herum. –
Das Begräbnis war vorüber. Im Schneckengang schlichen die Wochen dahin. An eine Heimfahrt war fürs erste nicht zu denken, sie wäre im Gram verkommen ohne ihn. Er fühlte wohl, daß hier und nirgends sonst auf der Welt der Platz war, auf den er gehörte, und nur ein einziges Mal in diesen dunklen Zeiten zuckte die Frage durch sein Hirn: ›Was wird aus dir und deinem Werk?‹ Aber er erstickte sie sofort.
Wenn das Schicksal selber Furchen durch das Leben zieht, dann darf der Ackersmann die Hände ruhen lassen.
Und allgemach gelang es ihm, den Giftstich ihrer Selbstvorwürfe abzumildern und ihr tropfenweise etwas Frieden einzuflößen. So groß war die Macht, die von ihm ausging, daß seine Nähe schon ausreichte, sie zu neuer Lebenshoffnung aufzurichten. Er brauchte sie bloß anzulächeln, und auch auf ihrem Gesicht fand sich – ob auch noch so scheu und schmerzlich – das Lächeln wieder.
Nur von seiner Wegfahrt wollte sie nichts wissen. Sie schrie auf in Angst und Flehen, wenn er bloß nach seinem Koffer sah.
Der Gedanke, ihn nach Berlin zu begleiten, war ihr erst recht unerträglich. Nie mehr wollte sie die Kinder den Fährlichkeiten eines Daseins preisgegeben sehen, das nicht minutenweise von ihr überschaut werden konnte.
Und eigentlich zog ihn auch nichts mehr an den Ort, der ihm inzwischen aus lebenswarmer Heimat zu feindlicher Fremde geworden war. Ihm graute vor dem eintönigen Alleingelassensein, zu dem die eigene Stimmung ihn inmitten bisheriger Freunde dort verurteilt hatte. Während ihm hier ein Amt gegeben war, das man auch ohne Pathos und Überschwang ein »heiliges« nennen konnte.
Und so reifte langsam in ihm die Absicht, in Berlin seine Zelte bis auf weiteres abzubrechen. Was schon einmal geschehen war, konnte gründlicher und nachhaltiger auch ein zweites Mal vonstatten gehen.
Hatte er geglaubt, daß Brigitte diesen Plan mit Freude begrüßen würde, so irrte er sich.
Als er ihr, erfüllt von wehem Heldentum, eines Tages mitteilte, was er beschlossen hatte, sah sie ihm blaß und angstvoll ins Gesicht und antwortete gar nichts.
»Dir ist es wohl nicht einmal recht, was ich da vorhabe?« sagte er verstimmt und verletzt.
»Tu es nicht, Liebling,« bat sie, »wenigstens nicht mir zuliebe. Das Opfer ist zu groß, das du mir bringen willst. Du würdest es mich hernach entgelten lassen. Und auch wenn das nicht geschähe, ich würde doch das Gefühl nie los werden, daß ich dein Leben zerstört habe.«
Er lachte sie aus, aber das war kein fröhliches und mutiges Lachen. Er wußte wohl, daß er an seiner Ehe krank war, doch diese Krankheit war längst unheilbar geworden, und darum galt es, sich darein zu schicken und herauszuretten, was noch zu retten möglich war.
Und nun fuhr er wirklich nach Berlin, um seine Wohnung aufzugeben. Verabschiedete mit einer Pension die alte Wirtschafterin und ließ den Hausrat auf einen Speicher stellen, wo er lagern konnte bis in die Ewigkeit.
Dies alles geschah in einer Art von Traumzustand. Nicht er selber war's, der da beschloß und handelte, das Schicksal tat's für ihn.
Nur seine Bilder, seine Mappen nahm er mit sich fort – als Zeugnis dessen, was er bisher gewesen war.
Ein Atelier war bald gemietet. Auch eine neue Wohnung wurde ausgewählt, in der die Gespenster des schrecklichen Geschehnisses allgemach entweichen mußten und die zudem für eine stattlichere Lebensführung den entsprechenden Hintergrund bot.
Wichtigkeiten niedriger Art erfüllten die kommenden Tage. Für Brigitte ein Segen, denn unter deren Herrschaft schmolz ihr Gram dahin. Für Steffen aber Last und Widersinn, denn seine Sehnsucht hing an anderen Gestaltungen, als diese Umwelt ihm versprach, in der er, das fühlte er wohl, allzeit geduckt und einsam bleiben würde.
Zwei Jahre gingen dahin. Zwecklose Stille lagerte als ewig gleicher Druck auf der in trübem Verzichten sich übenden Seele.
Er kümmerte sich um niemand, und niemand kümmerte sich um ihn.
Daß man ihm bei seinem Herzug Ehrenpforten bauen würde, hatte er selbst wohl kaum erwartet, aber eine eitle Hoffnung ließ ihn dennoch glauben, daß Presse und Kollegen ihn irgendwie begrüßen würden.
Und als nichts dergleichen geschah, vertrotzte er sich, machte keinerlei Besuche, strafte die Ausstellungen mit Nichtbeachtung und ging den Künstlerkreisen und deren geselligen Veranstaltungen mit Sorgfalt aus dem Wege.
Wäre nicht eines Tages ein bekannter Literat, der fataler Weibergeschichten wegen Berlin hatte verlassen müssen, ihm auf der Straße begegnet und froh, einen Genossen glücklicherer Tage vorzufinden, ihm in die Arme gefallen, er hätte wahrhaftig nicht einen einzigen Menschen gehabt, der seine Sprache sprach und mit dem er, Gedanken austauschend, die einschlafenden Lebensgeister hätte aufpeitschen können.
Aber der Nachgeschmack solcher Unterhaltungen war bitter. Denn sie riefen Erstorbenes wieder wach und zeigten ihm, was er verloren hatte.
Trotzdem wäre es Übertreibung gewesen, hätte er sich schlichtweg als einen Unglücklichen betrachtet.
Zuviel an Lieblichkeiten boten Stadt und Land, zuviel Kunstschätze lagen ringsum aufgehäuft, als daß ein empfängnisfähiges Gemüt sich nicht immer wieder Erleichterung und Erquickung aus ihnen hätte holen können.
Und er arbeitete ja auch, arbeitete unablässig.
Modelle freilich waren rar. Sie auf dem zünftigen Markte zu suchen, verschmähte er, denn er, der sich früher mit Stolz zu den Häuptern der Gilde gezählt hatte, mochte jetzt keinem Kollegen begegnen. Aber schließlich fand er noch immer, was er brauchte, und wenn nicht anders, holte er sich's von der Straße.
Zudem gab es Porträtaufträge in Menge. Die guten Dresdener zwar nahmen keine Notiz von ihm, aber von weither kam man, ihm zu sitzen, und selbst unter den Amerikanerinnen und Engländerinnen, die damals noch die Pensionate der schönen Stadt bevölkerten, gab es etliche, die nur von ihm gemalt sein wollten.
Und manchmal, wenn Kleinmut ihn in den Klauen hielt, bot als schüchterner Trost sich ihm der Gedanke: ›Du kommst ja vorwärts. Was also willst du mehr?‹
Doch nein, dies sagte die Selbstkritik ihm immer wieder, vorwärts kam er nicht.
Sein Kapital an Können blieb ungemehrt, er verzehrte nur dessen Zinsen. Und kein beschwingter Einfall trug ihn zu neuen Höhen empor.
Aber wo er stand, da hielt er sich nach bestem Wollen und Wissen.
Und Brigitte half ihm dabei.
Es war nicht auszudenken, mit welch glückseligem Eifer sie sein Schaffen betreute, wie wichtig sie jeden Pinselstrich nahm und wie sorgsam sie das heilige Feuer, wenn es verschwelen wollte, immer wieder anzufachen wußte.
Kein Lobspruch erschien ihr überschwenglich genug. Und keiner tat ihm Schaden. Er brauchte ihrer jeden, um seine Kraft vor dem Versagen zu schützen.
Derweilen ging sein Name in immer hellerem Glanze durch die Welt.
Aber er sah es nicht, und was davon in Briefen und Berichten der Zufall zu ihm trug, das wollte er nicht sehen.
Verdunkelt wie sein Leben war seine Freude an sich selbst, und die, die ihm Licht war und ihn am meisten liebte, breitete selber die Decke drüber hin.