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Krieg!
Also nun war es so weit! Seit Jahren gab es kein Haus, keine Tafelrunde, keine streitenden Zwei, die die Schrecknisse dieses unaufhaltsam nahenden Weltuntergangs nicht umständlich ausgemalt und abgehandelt hätten. Wie ein Albdruck, ohne den das Leben nicht mehr denkbar war, lastete er auf den Gemütern.
In Frage stand nur: Werden wir ihn durchleben oder werden erst unsere Kinder es müssen?
Und nun hatte das Schicksal die Antwort gegeben.
Rotsonne lag auf Rasen und Dickicht. Purpurne Nebel wiegten sich um die frühgilbenden Kronen. Ein Spätsommer senkte sich auf Neuheide, so voll von Segen und Fülle, wie es seit Jahren nicht mehr geschehen war. Der Roggen bis zur letzten Ähre trocken hereingebracht – der Weizen desgleichen, – um den Hafer brauchte man keine Sorge zu haben, – und die Kartoffeln gediehen von selber.
Da stoben plötzlich Depeschen daher: »Eilt euch, sonst kommt ihr nicht mehr nach Haus!«
Und Zeitungen folgten: Die Kriegserklärung eine Frage von Stunden.
Auf! Ein paar Koffer gepackt, den Leuten die hornigen Hände gedrückt und in die naßglänzenden Augen gesehen. Wievielen, ach wievielen zum letztenmal!
Und dann schleunigst zur Bahn.
Steffen, Brigitte, Atta und die zwei Mädchen, die in der Stadt den Haushalt versahen.
Leere Züge rasten vorüber. Warum, woher, wohin wußte man nicht. Einer endlich sog sie auf.
Ein Tag, eine Nacht – welch eine Nacht! – da waren sie gerädert am Ziele.
Die Straßen menschengefüllt – trotz der Frühmorgenstunde … Reservisten mit Pappkartons und irgendwelchen Kokarden – lange Reihen, willig für jegliche Schlachtbank, auch ohne daß man sie führte – Arbeiter, heute noch die Stunde wahrend des Werkbeginns, morgen vielleicht schon auf dem Wege zur Grenze – Frauen mit Kübeln, mit Taschen, mit Mappen, mit allerhand Kram, den schleunig zu bergen die Kriegsnot verlangte, – fahl und übernächtig fast alle – aber im Auge ein Leuchten, das nur der Himmel verleiht, wenn er als Opfertod zu uns Erdenkindern herabsteigt.
Packträger nirgends zu sehen. So schleppten sie selber, was sie im Abteil mit sich genommen, und Brigitte, die unter eines Handkoffers Wucht beinahe zusammenbrach, hatte noch Zeit, Steffen diesen zu weisen und jenen, der als Geweihter dahinschritt, mit Mosesflammen auf schweißfeuchter Stirn.
Im Hause die Zimmer dumpfig und finster. Läden auf, Fenster auf! Licht und Luft herein! Glücklich, wer sie noch lange genoß! Und zwiefach glücklich, wem das Vaterland sie abverlangte mit dem Leben zugleich.
»Papa, lieber Papa, darf ich nicht Schwester werden?«
Mit großen Bettelaugen stand sie da, die Hände gefaltet, und Brigitte, die sie umfaßt hielt, bettelte mit ihr.
»Du bist so wenig weltgewandt, Kind, und praktisch schon gar nicht. Wie wirst du den schweren Dienst aushalten können?«
Aber im Innern war die Bitte bereits gewährt. Ein anderes Opfer war ja nicht da, das er dem großen Altar anbieten konnte.
Doch! Eines war da! Das Höchste auf Erden. Der Sohn, der einzige Sohn! Und hatte er ihn bisher nicht als sein eigen betrachtet, jetzt wurde er's, wurde so sehr sein Fleisch und Blut, wie er das der Mutter war, die sich in Bangen um ihn verzehrte.
Nach Norwegen war er gefahren, wie er sich denn auch sonst, statt heimzukommen, in den Ferien meistens herumtrieb. Nur zu Weihnachten kehrte er ein, blieb bis über Neujahr und fuhr dann wieder von hinnen.
»Der Junge, der Junge! Wo mag der Junge sein?« so klagte Brigitte.
Und zwei Tage später war auch der Junge da. Hatte sich durchgeschwindelt nach Dänemark herüber, an englischen Spürhunden vorbei, und war glücklich, gleich weiterzufahren und sich in München melden zu dürfen.
Denn dort hatte er sein Jahr abgedient, dort gehörte er hin.
»Eine Nacht nur, mein Jungchen! Eine einzige Nacht!«
Wenn Mütter so bitten, dann gibt es kein Nein, – und weniger noch, wenn sie so strahlen im Stolze der Opferung.
Der Abend kam. Um den runden Tisch herum saßen sie, der nicht weit vom Kamin seinen Platz hatte. Ein roter Rosenbusch stand blutig unter der Lampe, und eine Flasche Schaumwein verströmte umsonst ihre Perlen, denn trinken mochte heut keiner.
Brigitte saß neben ihm, hielt mit der einen Hand die seine und strich ihm mit der andern bisweilen das Haar aus der Stirn, das Haar, das nicht da war, denn er hatte schon früh ein blinkendes Glätzchen. Während Atta leuchtend und schmachtend den Bruder umwarb, ihn, der heute der Herrlichste war von allen.
Steffen hatte sich gegen den Kamin zurückgezogen, in dem ein kleines Holzfeuer glühte, weniger der größeren Wärme wegen, als weil der Junge es liebte von Weihnachten her.
Er schaute und schaute und verwunderte sich. Der fremde junge Mann dort, stämmig und hochstirnig und mit weichblickenden, wegmüden Augen, der war sein Sohn. Der hatte einst auf seinem Schoße gesessen und ihm das Kinn gekraut, der war von ihm mißhandelt durch Abgeschobenwerden und Herumgestoßenwerden und heimatentbehrende Jugend. Wieviel Gutsein mußte in ihm sitzen als Erbteil der gütigen Mutter, wenn dieses möglich gewesen war, ohne daß ein heimlicher Haß sich in ihm hatte festfressen können?
Eine Woge nie gefühlter Zärtlichkeit stieg in ihm hoch.
›Du Narr du!‹ so nannte er sich wieder einmal. ›Einen Sohn hättest du haben können, hast ihn sogar gehabt und, statt ihn liebzugewinnen, als Fremden in der Fremde 'rumlaufen lassen.‹
Gesprochen wurde nicht viel. Die Größe der Stunde ertrug kein gewöhnliches Wort, und hohe Gefühle zu zeigen, mußte noch ängstlicher abgedämmt werden.
Von des Sohnes Gesicht glitt sein Auge zu dem der Mutter hinüber.
Die abwartende Bescheidenheit verließ sie selbst in diesem Augenblick nicht – und nicht gegenüber ihrem Mann gewordenen Kinde. Wenn sich ihre Hand nach dessen Stirn, nach dessen Wange emporhob, dann zauderte sie immer erst noch ein wenig, als wäre Gefahr da, ihm lästig zu fallen. Aber die Augen brauchten nicht zu geizen mit dem Verschenken all der unvernünftigen Liebe, die in dieser einen Abendstunde nachholen wollte, was einem andern zuliebe ein Leben lang versäumt worden war. Sie hingen an dem Scheidenden in einem schmerzhaften Glücke, das kaum noch etwas Irdisches hatte.
›Und ist sie auch ganz Matrone geworden,‹ dachte Steffen, ›so viel Süßes hat keine auf Erden.‹
Aber schließlich wurde es der Ekstasen für sie zu viel. Ihr Herz fing an zu rumoren, und sie mußte zur Ruhe gehen, ob sie sich noch so dagegen wehrte.
Morgen in aller Herrgottsfrühe sollte der Junge fort, doch trotz aller Müdigkeit dachte er nicht daran, ihrem Beispiel zu folgen.
»Komm mit mir 'rauf ins Atelier,« sagte Steffen. »Dort können wir schwatzen und stören sie nicht.«
Und nun saßen sie in der grünverhangenen Ecke – Vater und Sohn – tranken nach dem faden Zeug ein paar magenauffrischende Schnäpse und ließen die Kalkpfeifen kohlen.
Ihr Beieinandersein war eine noch nie gekostete Wohltat. So nahe wie dieses plötzlich hereingeschneite Menschenkind hatte Steffen noch keiner auf Erden gestanden.
Sie sprachen vom Handwerk, wie sich's von selber verstand.
»Warum hast du immer so ängstlich vor mir verborgen,« fragte Steffen, »was du in diesen drei Jahren gemacht hast? Selbst aus der Mappe, mit der du heute hereinkamst, hast du mir noch nicht ein einziges Blatt gezeigt.«
»Darüber ist schwer zu reden,« erwiderte Kurt. »Du bist der erste auf Erden, dem ich es sagen müßte, und bist zugleich auch der letzte.«
»Wie versteh' ich das, Junge?«
»Es war nicht gut, Papa, daß du mich damals so ganz aus deinen Händen gabst. Wär' ich zu dir in die Lehre gekommen, so hätten die Einflüsse, denen ich jetzt folgen muß, nicht so über mich Herr werden können und ich stünde nicht in so schwerem Zwiespalt dir gegenüber!«
Da war das alte Lied, das Lied der Revolte, mit dem die Söhne den Vätern die Heeresfolge verweigern.
Aber am heutigen Tage galt das nicht mehr. Heute hatte sich alles in Liebe zusammengefunden, was sonst in Widersacherschaft und in Hetze gegeneinander die Fäuste erhob.
»Sprich dich ruhig aus, Jungchen,« sagte Steffen. »Es wird dir das Herz erleichtern, ehe du in andere Schlachten hineingehst, als die sind, die wir uns zu liefern haben.«
»Ja, sieh mal, Vater! Das ist wie ein Schicksal, dem keiner entrinnt … Generation steht gegen Generation … Was wir einst anbeteten, das müssen wir jetzt verdammen … Das ist ein Befallensein. Da hilft kein Sichwehren … Und Formen und Farben, die einem vor kurzem als Blödsinn erschienen, die werden mit einmal ein Heiligtum … Warum ich dir nichts gezeigt habe? Weil ich dachte, du würdest es mir um die Ohren schlagen. Nicht wörtlich natürlich, aber als Sinnbild ist es noch schlimmer … Und wenn ich deins ansehe« – er schickte einen Blick in das Dunkel – »verzeih, ich habe dich noch nicht einmal gebeten, mir was zu zeigen! –, dann zieht sich mir das Herz zusammen vor Kummer, denn wie sehr ich dich liebhab', das weißt du.«
Steffen fühlte in der linken Seite einen stechenden Schmerz.
Da war es, das Gespenst, das schattenhafte, toddrohende, mit dem zu kämpfen eine Wollust gewesen wäre, wenn es sich jemals hätte greifen lassen, – das Gespenst des Veraltens, da war es! Der eigene Sohn hatte es heraufbeschworen und konnte es ebensowenig meistern, wie er selber es tat.
Aber eine andere Macht war da, die hob ihn in dieser Stunde hoch über sich hinaus, die meisterte auch dies Gespenst, wie sie alles meisterte, was sonst wohl Kampf und Not und Wirrsal hieß.
»Du bist noch nicht fertig, mein Sohn,« sagte er, ein Lächeln in sich spürend, das weicher war, als dieser Aufruhr verlangte. »Sprich nur immer weiter. Ich höre.«
»Du hast recht, Vater. Ich bin wirklich noch nicht fertig. Ich habe mir oft gesagt: Diesen Konflikt erträgst du nicht für die Dauer. Daran gehst du noch vor die Hunde … Auf der einen Seite ein Glaubensbekenntnis, das einen durchs Leben begleiten soll, auf der andern ein Mann, der einem der Herrgott selber war und von dem man am liebsten jetzt kein Stück Brot mehr annehmen möchte … Das, Vater, halte wer anders aus! Und darum mein' ich: Wenn ich heil aus dieser Affäre herauskomme und du willst mir die Mittel geben, dann sattle ich noch einmal um. Lieber Steinklopfer werden, als das mit sich 'rumschleppen!«
Steffen griff nach seines Stiefsohns Hand. »Um mich, mein Junge,« sagte er, »brauchst du dich nicht zu kümmern. Der Kreis meines Könnens und Tuns hat sich alsbald geschlossen. Vieles ist nicht so geworden, wie ich einst wollte. … Von den Gründen zu reden, ist hier nicht am Platze … Irgendwo im Leben irrt fast jeder einmal von dem ihm vorbestimmten Wege ab, aber auch andere führen nach Rom, – und nach dem Rom des Todes führen sie alle. Wir wollen mehr ins Allgemeine gehen … Du sagtest: Generation steht gegen Generation. Nein, Kerlchen, so einfach liegen die Dinge nicht. Warum wird der eine Meister von den Werdenden geduldet, ja oft sogar fêtiert und der andere verworfen? Obgleich der eine genau soviel kann wie der andere und sogar ihre Art dieselbe ist? … Hier ist ein Spiel von Einflüssen am Werke, viel zu widerspruchsvoll und geheimnisvoll, als daß wir's mit den schlichten Gesetzen der Altersfolge abtun könnten … Und wir verwechseln so oft veralten und schlecht sein … Als ich in deinen Jahren war, da verachtete ich die Knaus und die Defregger vielleicht genau so, wie heute du mich verachtest.«
»Papa!« schrie Kurt in schmerzvoller Abwehr auf.
»Laß, laß,« begütigte Steffen, »es war nicht böse gemeint. Und Piloty war mir ein Greuel, von dem älteren Kaulbach gar nicht zu reden, und Spitzweg nannte ich ›Süßling‹ und immer so weiter … Es scheint, daß das Verachten ein Stück Moral ist, ein Wegweiser mindestens, ohne den die Jugend nicht fortkommt … Ihr mag es darum gegönnt sein, aber wenn's die Alten machen wollen wie sie, dann soll man sie mit der Mistgabel totschlagen … Auch mit ›Routinier‹ und ›Handwerker‹ und ähnlichen Schimpfwörtern kommt man nicht weiter … Nur in dem Erdreich des Handwerks kann Kunst gedeihen, und der größte Könner ist oft zugleich der liederlichste Routinier gewesen. Der eine Name Rubens als Beispiel genügt … Nein, lieber Junge, Maßstäbe gibt es hier nicht, keine des Talents, keine der Technik und am wenigsten solche der Moral … Willkür ist alles, und alles ist Suggestion … Woher sie jedesmal stammt, ist schwer zu untersuchen … Manchmal kannst du sie bis in den Laden eines Kunsthändlers zurückverfolgen, der einen fingerfertigen Journalisten heimlich in Dienst nimmt, ein andermal auf das Katheder eines Gelehrten, der für seine ausgetiftelte Theorie nahliegende Belege braucht, – von den Stammtischen und den ›petites chapelles‹ gar nicht zu reden. Du bist ihr Opfer geworden, genau so wie gelegentlich auch ich … Nicht einmal vor der Selbstschätzung macht sie halt und ist imstande, die Freude am Eigenen glattweg zugrunde zu richten.«
»Das ist eine sehr trübe Weisheit,« erwiderte Kurt, »und noch trüber werden die Erfahrungen sein, durch die du zu ihr gekommen bist. Ich frage nur, wie ich sie nutzen kann.«
»Gar nicht sollst du sie nutzen, mein Junge. Sollst nur, wenn du vorm Feinde liegst, dir nicht die Gedanken beschweren mit dem, was später vielleicht einmal werden wird … Dein Vater wird sich schon trösten, auch wenn du nach seiner Meinung die Linien verkorkst und unmögliche Farben nebeneinandersetzt. Das wird sich schon alles einrenken. Auch das verrückteste Bild hat in sich die Tendenz nach einer Vernunft, und sei's nur die, einen Nagel zu finden, an dem es sich aufhängen kann. Drum sei guten Muts und komm erst einmal wieder, dann wollen wir weiter sehen.«
Damit schien die hauptsächliche Frage erledigt. Aber Kurt schaute unbefriedigt vor sich nieder und druckste und druckste.
»Also los, Kerlchen, was ist denn noch?«
»Ja, lieber Papa, das ist schwer zu sagen. Kurzum – es wird wohl – es wird wohl – eine Kriegstrauung nötig sein.«
Steffen schoß in die Höhe.
»Kreuzdonner, was ist das?« schrie er, den Stiefsohn bei beiden Schultern fassend.
Der starrte lippenkauend ins Leere.
»Also ins drei Teufels Namen rede!«
Da kam es allmählich zum Vorschein: Wirtstochter. Noch nicht siebzehnjährig. Ein Engel in Menschengestalt, Eltern fromme, strengdenkende Leute. Alles wie üblich.
Das Schweigen, das nun folgte, war Antwort genug.
Steffens Pfeife flog gegen die Wand, so daß ein Springquell von kleinen Kalkstücken weißleuchtend aufspritzte.
»Also, da haben wir die Bescherung!«
Er lief in dem weiten, halbdunkeln Raum umher wie ein Besessener. Pinsel fielen, Staffeleien stürzten um. Er merkte es gar nicht.
Dann zwang er sich langsam zur Ruhe zurück, und sich setzend forschte er weiter: »Hat sie irgendwelche Bildung?«
»Woher denn?«
Ein Kind aus dem Volke. Zum Dienengehen bestimmt. Und da habe sich nun dies Unglück dazwischengeschoben.
»Wenn der Krieg nicht gekommen wäre, was hättest du dann getan?«
»Dann hätt' ich sie doch unterstützen können. Aber jetzt, Vater! Die Eltern verstoßen das Mädel todsicher. Und ich kann sie doch nicht ins Elend gehen lassen. Ich wär' ja die Kugel nicht wert, die für mich bestimmt ist.«
»Red nicht so'n Blödsinn von Bestimmtsein und so! Aus der Kriegstrauung darf natürlich nichts werden.«
»Ich muß, Vater. Ich bin ein ehrlicher Mensch.«
Dabei blieb er.
Steffen sah ein, daß ihm auf diese Weise nicht näherzukommen war. Jetzt galt es, tiefer in seine Seele zu greifen und in die eigene auch. Vor ihm stand sein ganzes, verkümmertes, verknechtetes Leben – im Ehejoch zur Erde gebeugt – in Ehenöten verzettelt. Und hier einer, der noch zu retten war aus tausendmal schlimmerer Verirrung! Da durfte selbst ein Ungeheuerliches gewagt werden.
Und er fragte: »Deine Kunst ist dir doch einiges wert?«
»Ich wüßte nichts auf der Welt, das – –«
»Umso anerkennenswerter, daß du sie um meinetwillen hast hinopfern wollen. Und umso wichtiger für mich, dich ihr zu erhalten … Wenn ich jetzt zu dir sage: ›Gehst du mit einer solchen Bindung hinaus, so wäre dir besser, du kämest nie wieder,‹ glaubst du, daß mir ein solches Wort aus blutendem Herzen kommt?«
»Was ich da höre, ist so furchtbar, Vater – –«
»Und du wirst noch einiges mehr von mir hören in dieser Stunde. Wärest du Beamter oder Kaufmann oder sonst irgendwas Bürgerliches, so wär' meine Meinung: In Gottes Namen! Ob die oder eine andere, es kommt nicht darauf an. Unterkriechen mußt du ja doch einmal, und wenn sie gesund ist und ordentlich, das bißchen Bildung fliegt schon noch an … Da du aber ein Künstler werden willst, das heißt, einer der Menschen vom obersten Hundert, ein Aristokrat, der sich seinen Adelsbrief selbstherrlich schreibt und vor dessen Wappen man noch in einem Jahrhundert den Hut ziehen soll, so sage ich dir: Sich ein Weib an die Hand nehmen oder sich diese Hand abhacken lassen, das kommt auf dasselbe hinaus. Verstümmeln tust du dich so auch so, und was von dir dann noch übrigbleibt, das ist gut genug für die Hunde.«
Mit immer weiter werdenden Augen, den Mund in Entsetzen geöffnet, starrte Kurt nach ihm hin.
Doch ohne darauf zu achten, fuhr er fort: »Ich habe um mich gesehen ein ganzes Leben lang. Sie alle, mochten sie von noch so hoher Warte auf die Welt herabgeschaut haben, sobald sie beweibt waren, sanken sie rettungslos ins Mittelmäßige zurück … Dessen Niveau braucht nicht gerade niedrig zu sein, aber einen weiteren Aufstieg gibt es nicht mehr. Höchstens Skandäler – laute und leise – , heimliche Rumlumpereien, und was sonst wohl zum sogenannten Genietum gehört … Fragst du aber nach Glück – – ja was ist Glück? Glück ist ein Spiel für die, die in Niederungen leben; da oben, wo man sich mit ganz anderen Fragen herumschlägt, zuckt man darüber die Achseln … Zum Hochzeiten und Kinderwiegen und Rotznasenwischen hat ein Mann von Kaliber gar nicht die Zeit.«
Kurt wagte keinen Widerspruch mehr. Sein Mund stand vor Entsetzen immer noch offen. Er sah aus wie einer, der sein Todesurteil erwartet. Doch nein! Das eigene Schicksal war es nicht, was ihm am Herzen lag. Als er sich jetzt zu einem Einwand aufraffte, da war es nur die Mutter, um die ihn bangte.
»Und das sagst du, Vater, der du doch in Mammi – –«
Steffen unterbrach ihn. Der zerstörerische Drang, nun auch das Letzte preiszugeben, wurde übermächtig in ihm.
»Ja, mein Junge, wenn ich dir das sage, ich, der ich – der ich – –«
Er hielt inne. Denn jetzt erst las er aus den Mienen des ihn Anstarrenden, was er angerichtet hatte und noch anzurichten im Begriffe stand.
Ein Heiligtum zu stürzen, dem Sohne das Bild der Mutter zu besudeln, ihren Wert herabzuziehen zu der Nichtigkeit derer, deren Dasein unbrauchbar und lästig ist, das war sein Vorhaben, das war der Frevel, zu dem der Rausch der Stunde ihn hintrieb. Einmal im Leben – dem Jugendfreunde gegenüber – hatte er seinem Vertrauen die Schleusen geöffnet, und welche Flut von Unheil war dadurch über ihn und Brigitte gekommen! Ein zweites Mal durfte es nicht geschehen.
Das alles schoß blitzschnell durch sein Hirn, und ebenso schnell das Steuer umwerfend, fuhr er fort: »Ja, wenn ich dir das sage, auf den das alles nicht zutrifft, weil ich in deiner Mutter einen Schatz besitze, wie ihn nur wenige auf Erden ihr eigen nennen, dann mußt du mir trotzdem Glauben schenken, denn die Ausnahme bestätigt die Regel.«
Tief und laut hörbar atmete der Stiefsohn auf. Die Last des Fürchterlichen, die ihn zu erdrücken drohte, war von ihm genommen. Und Steffen fuhr fort: »Als ich daran ging, eine Familie zu gründen – von den Schwierigkeiten, die sich daraus ergaben und unter denen vor allem auch du zu leiden hattest, schweige ich – als ich so weit war, da fühlt' ich mich längst als ein fertiger Mann und durfte es allenfalls wagen, während du – – ja muß ich dir erst den Unterschied klarmachen? … Und nun höre mein letztes Wort: Sage dem Mädchen, daß es niemals verlassen sein wird. Wir, Mammi und ich, werden ihr Schicksal in unsere Hände nehmen, gleichviel, ob du wiederkommst oder nicht. Und ihr Kind wird das unsrige sein … Du kennst Mammis Mutterinstinkte. Du weißt, daß sie jeden jungen Vogel, der aus dem Neste gefallen ist, füttert und großzieht. Wirst du ihr vertrauen können oder nicht?«
Der Junge barg den Kopf in den Armen und weinte.
Steffen fühlte, daß er besiegt war, und dachte glückselig: ›Dem Himmel sei Dank, daß ich das Maul hielt!‹
Und dann reichten sie sich die Hände und gingen zur Ruhe. –
Am nächsten Morgen fuhr Kurt von dannen. Bepackt mit Butterbroten und Zigaretten und Schokoladen und allerhand Medizinen, die gegen Übermüdung und Wundlaufen gut sind, und mit Gott weiß was sonst noch für Kram, wie Mutterliebe und Mutterangst ihn wohl zusammenraffen.
Und vier Wochen später kam von der Somme die Nachricht, daß er gefallen war.