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Einundzwanzigstes Kapitel

An einem silberhellen Apriltage geschah's, daß Brigitte von hinnen fuhr. Atta mit ihr, um auf dem Wege ihrer Pension übergeben zu werden.

Und so gutwillig und seelenklar war sie, daß sie selbst dieser traurigen Reise in lange Verbannung heitere Vorstellungen abgewann. Sie freute sich auf das Mattengrün der nahenden Berglandschaft und den Schneeschaum der erblühenden Bäume. Und ihre sonnige Blondheit lachte noch immer aus dem Abteil heraus, als der Zug schon jenseits der Halle war und Steffen, mit der einen Hand winkend, die andere krampfhaft in Susis Oberarm grub.

»Wie werden wir sie wiederbekommen?« murmelte er, und als Susi schwieg, fuhr er fort: »Wir beide aber wollen dafür sorgen, daß sie alles so findet, wie sie's verlassen hat.«

»Ja, Papa,« erwiderte sie und sah mit aufglänzenden Blicken so feierlich zu ihm empor, als läge ein Schwur in diesen schlichten zwei Worten.

Auf dem Vorplatz trennten sie sich, denn er hatte Modell bestellt, und sie ging in ihre Lehrstunden.

›Wie seltsam!‹ dachte er, hinter dem rundlichen Jungmädelchen dreinschauend, das hüpfenden Schrittes in dem Gewühle verschwand. ›Dies Kind wird nun ein Jahr lang meine Welt sein.‹

Und als sie am Mittagstische ihm gegenübersaß und wirklich achtgab, daß er nicht, wie's oft der Fall war, halb satt wieder aufstand, da schien es fast, als wäre die Mutter da, nur um ein Menschenalter verjüngt, so jung, wie er sie niemals gekannt hatte.

Und er dehnte sich in ungewohnter wohliger Ruhe, denn um Brigitte hatte man ja immer ein wenig in Sorge zu sein.

Nach dem Gesegnete-Mahlzeit-Sagen holte sie ihm rasch noch die kurze Buchsbaumpfeife und stopfte sie mit kundiger Hand, doch als der Tabak brannte, war sie plötzlich verschwunden.

Enttäuscht sah er hinter ihr her, denn diese halbe Stunde gleich nach dem Essen hatte immer Brigitte gehört. Und dabei wurde ihm klar: Wie zutraulich sich Susi auch zu ihm gestellt hatte, wie innig das Schicksal sie mit ihm verband, recht innerlich war sie ihm immer noch fremd geblieben; das Bewußtsein der Blutsgemeinschaft fehlte, und eine andere Brücke zu schlagen, hatte seine Selbstsucht versäumt.

Nun, das ließ sich allenfalls nachholen. Nur mußte das Leben erst seine neue Form erhalten haben.

Doch damit haperte es. Die ihnen aufgedrungene Zweisamkeit wollte beiden nicht recht natürlich erscheinen.

Die Tage gingen dahin, ohne daß sie einander sich näherten.

Auch nach dem Abendessen zog Susi sich meistens zurück, und er wehrte ihr nicht. Ihm schien, als wüßte er nichts Rechtes mit ihr zu reden, und doch war er einst Stunden und Stunden lang mit ihr zusammen schwatzend durch die Felder gezogen.

In seinem Alleinsein sah er mit doppelter Schärfe, wie ganz und gar sein Leben auf Brigitte aufgebaut war. – Freunde, Kollegen, Weiber, alle führten ein Schattendasein in kaum beachteten Hintergründen, aus denen sie nur gelegentlich auftauchten, um die hergebrachte Rolle weiterzuspielen. Selbst die Sitzungen des Vorstands, denen er als Vorsitzender des Künstlervereins präsidierte, waren nur dazu da, den Geist regsam und die Zunge geläufig zu halten; in sein eigentliches Leben drangen sie nicht, und schon auf dem Heimweg hatte er sie mitsamt ihren gebieterischen Wesentlichkeiten vergessen.

Er, der Junggeselle aus Leidenschaft und Überzeugung, war allgemach ein Mensch der Ehe geworden, weit einseitiger als alle diejenigen, die eigene Neigung dazu gestempelt hat, denn diese wissen zwischen Haus und Welt einen Ausgleich zu finden und die Forderungen, die der Persönlichkeitsdrang an sie stellt, mit der Familienhaftigkeit der neuen Daseinsform in Einklang zu bringen. Er aber hatte sich von vornherein so eingeengt und so an Händen und Füßen gefesselt gefunden, daß ihm keine Hoffnung mehr blieb, von seinem Ich-Leben noch etwas anderes zu retten, als was das gewohnheitsmäßige Schaffen ihm allenfalls eingab.

Und so hatte er sich schließlich allen entfremdet, die ihm die Wohltat hätten erweisen können, ihm die Welt tagtäglich von neuem erbauen zu helfen.

Nicht ein einziges Haus kannte er, das er aus freien Stücken betreten, nicht einen einzigen Wirtshaustisch, unter dem er mit ein paar Kumpanen zusammen die Füße hätte ausstrecken können. Er, der früher einmal beim Zechen der Seßhafteste von allen gewesen war!

Und da er seit Brigittens Wegfahrt nicht wußte, was nach dem Tagewerk mit sich beginnen, so zog er noch spätabends auf die Straßen hinaus und strolchte zwecklos umher, immer nach dem Bleistift hinzuckend, sobald diese oder jene Nachtgestalt nach Festgelegtwerden verlangte.

Wenn er heimkam, schimmerte durch Susis Glastür meistens noch Licht, aber bei ihr einzutreten wagte er nicht. Was ihn zurückhielt, blieb ihm unklar, denn früher hatte er, solange sie wach war, immer noch bei ihr angepocht, und niemals war es geschehen, daß sie nicht »Herein« gerufen und ihn gern an ihrem Bette hätte sitzen lassen.

Trotzdem bewahrte die Nähe des lieben Kindes ihn davor, sich vereinsamt zu fühlen. Diese Nähe gab ihm im Gegenteil eine gewisse prickelnde Spannung, die die Stunden der Arbeit verkürzte und auch dann nicht schwieg, wenn er in scheinbarer Ruhe an ihrer Seite saß.

Daß sie sich nach den Mahlzeiten schlichtweg entfernte, das hatte er nicht lange geduldet. Bei Tage mochte es hingehen, aber abends, wenn man sich nicht gerade herumtreiben konnte, war es kein Spaß, voll gegenstandsloser Sehnsucht in die Lampenflamme zu starren.

Gegenstandslos – jawohl. Denn daß er im tiefsten Innern nach Brigitte verlangte, das gab er sich bald nicht mehr zu.

Statt ihrer war ja das Kind da. Ihr Kind, das mit ihren Farben leuchtete und aus dessen Seele ein Hauch von ihrer Güte ihm entgegenschlug.

Und was es hinzutrug – über das Erbe der Mutter hinaus – die unbewußte Zielsicherheit der alles vermögenden Jugend, deren In-sich-Beruhen und In-sich-geschlossen-Sein, das fiel in tausend kleinen Anstößen über ihn her und gab ihm täglich neue Rätsel zu raten.

Nie hätte er es für möglich gehalten, daß das Vertrauen eines achtzehnjährigen Mädelchens zu gewinnen eine so schwierige und eine so lebensnotwendige Sache war.

Sie kam, sie ging, sie plauderte, sie scherzte, sie schmiegte sich an ihn, sie ließ sich die Haare aus der Stirne streichen und einen Kuß auf die Wange drücken, sie erwiderte ihn wohl auch, und wenn sie die Arme um seinen Nacken legte, dann war es beinahe, als sei sie ein Stück seiner selbst. Hatte sie aber die Tür hinter sich geschlossen, dann durfte er sich ruhig eingestehen, daß er ihr auch jetzt nicht um Haaresbreite nähergekommen war und daß sie fremder neben ihm herging als die Fremdeste dort auf der Straße.

Und er beneidete ihre Gefährten, Männlein wie Fräulein, die in ihrem Zimmerchen mit ihr schwatzten und rauchten und unbekümmert zum besten gaben, was sie ihre »Weltanschauung« nannten und was von nahe besehen nichts anderes war als ein angelesenes und unverdautes Phrasengemisch. In diesem Kreise mußte wohl auch sie ihre Ideen auskramen und die Pforte auftun, an deren Riegeln er vergeblich herumriß.

Regelrecht eifersüchtig war er auf das Menschenhäuflein, das zu gewissen Nachmittagsstunden sich bei ihr zusammenfand. Und wenn er durch den Korridor ging und fremde Stimmen hörte und fremde Akkorde, von Manneshänden aus den Tasten geholt, dann gab es ihm stets einen Stich durch die Brust.

Einmal war er unter rasch ersonnenem Vorwand eingetreten und hatte, auf Bett und Sesseln malerisch hingelagert, die Adepten des Geheimbundes vorgefunden, ihrer fünf oder sechs an der Zahl. Wie sie aufsprangen! Wie sie erröteten und erbleichten in Erschütterung und Bestürzung ob seiner ehrfurchtgebietenden Nähe! Er aber hatte den leutseligen Hausherrn gespielt, den verständnisvollen Kunstbeflissenen, der im Grunde genau so zigeunerhaft war wie sie selber. Hatte von den eigenen Zigaretten etliche Päckchen herbestellt und eine Flasche von seinem magenanheizenden Südwein, – hatte von seiner Akademiezeit erzählt und Vertrauen herauszulocken gestrebt, aber mit dem allem nicht mehr erreicht als ein paar einsilbige und hinterhältige Sätze, die ihm bewiesen, wie sehr er als Störenfried galt. Und als er nach überherzlichem Abschied die Tür hinter sich schloß, da glaubte er den Seufzer der Herzenserleichterung zu hören, den dieser und jener höflich im Kragen erstickte.

Einer war ihm aufgefallen – oder von ihm eigentlich nur ein Paar dunkle, fackelgleich brennende Augen, die in einem unreinen, hageren, großnasigen Gesichte saßen … Solche Augen hatte Maxel gehabt, als sie beide himmelstürmend herumgestreift waren, er hatte sie wohl auch noch, aber wer war jetzt Maxel? Zum Schatten geworden, wie alle die andern.

Ein ganz armer Bursch mußte dieser hier sein. Jägerwäsche trug er und ausgefranste, verschrumpelte Hosen. Und nun gar die Pusteln auf Stirne und Backen! Nein, an so was hängt eine frischgewaschene Mädchenphantasie sich nicht.

Wenn nur die Augen nicht gewesen wären, in denen von leuchtenden Höhen ein Frohlocken festsaß! Wer solche Augen hat, in dem schweigt die Sehnsucht nie still nach jenen Höhen, von denen sie stammen. Maxel freilich hatte sich schließlich mit seinem Krittlerposten begnügt, von dem aus er alles verriß, was aus irgend einem Grunde in seinen Kram nicht hineinpaßte, aber wer konnte wissen, wieweit die kleine Canaille schuld daran war, die er nun mit sich durchs Leben schleppte!

Nein, diese Augen wollten Steffen nicht aus dem Sinn.

Und als er am Abend mit Susi allein war, begann er alsbald vorsichtig nach ihnen zu forschen – oder vielmehr nach dem, der sie im Kopfe trug.

»Sehr interessante junge Leute hast du da um dich herum. Es freut mich recht, sie kennengelernt zu haben. Mammi hat mir wohl dies und jenes gesagt, aber, bitte, erzähle mir mehr von ihnen.«

Sie wollte zuerst nicht mit der Sprache heraus.

»Ach Gott, Papa, was ist da viel zu erzählen! Begabt sind sie alle, und Geld haben sie auch nicht. Wovon sie leben, weiß keiner, wahrscheinlich sie selber nicht.«

»Und der mit den dunkeln, feurigen Augen, wie ist's mit dem?«

Sie wurde nicht rot, keine Spur des Ertapptseins barg sich unter den nachdenklich verkniffenen Lidern.

»Ich weiß nicht recht, wen du meinst. Solche Augen haben sie eigentlich alle.«

Erleichtert atmete er auf. Wenn sie dieses Glaubens war, dann hatte sein Bild in ihr noch nicht Wurzel geschlagen. Aber wie konnte das möglich sein? Sie war doch nicht blind! Und ihr Menschentum suchte nach Menschen.

Aber da hatte sie sich schon zurechtgefunden.

»Wahrscheinlich meinst du den Sokolow – den Boris Iwanowitsch, wie die andern ihn nennen. Ja, das ist ein lieber Bursch. Aber im Innersten sehr stolz und sehr herrisch. Sein Vater ist wohlhabend, reich sogar, glaub' ich, und da er nicht in sein Studium willigte, lief er ihm einfach weg und nimmt nun nichts von ihm an.«

»Wird er was erreichen?«

Sie zuckte die Achseln. »Wer kann wissen? Angeboten ist ihm schon allerhand, aber er findet, daß er noch nicht genug kann. Für mich sind das ja alles böhmische Wälder. Ich staune zu ihnen empor wie zu Wesen aus anderen Welten.«

›Ihnen, hat sie gesagt,‹ stellte er fest, ›und nicht ihm.‹

Und nach den Mädchen fragte er dann, um doch noch etwas zu fragen.

»Mehr als ich können sie natürlich auch,« erwiderte sie, »und ein Ehrgeiz sitzt in ihnen, der frißt sie fast auf. Aber ich fürchte, ihre Kraft reicht nicht aus. Wenn Fanatismus die ersetzen könnte, dann kämen sie wohl ans Ziel, aber so – –«

»Welches Ziel?« warf er ein.

Da wurde sie verlegen. »Ja, wenn man das wüßte! Aber ist es dir nicht ebenso ergangen, als du noch mitten im Ringen warst? Bloß vorwärts, vorwärts! Immer noch mehr können, immer noch mehr! Was schließlich daraus wird, das hängt in den Wolken.«

Dabei sah sie ihm mit Augen ins Gesicht, die geradeso in Fanatismus entbrannten wie die der Freundinnen, von denen sie sprach.

Er dachte bei sich: ›Ich muß besser auf sie achtgeben, sonst frißt der Ehrgeiz auch sie auf.‹

Und laut sagte er: »Warum quälst du dich so ab, liebes Kind? Du weißt doch, daß hier einer ist, der für dich Sorge tragen wird, solange er lebt – und noch drüber hinaus. Denn daß du mir bist wie mein eigen Fleisch und Blut, das weißt du hoffentlich auch.«

Während er diese letzten Worte sprach, bäumte ein dumpfes Gefühl sich in ihm auf, das ihn der Lüge zeihen wollte. Sie aber bohrte die grellgewordenen Augen in ihn hinein und erwiderte, die Lippen aufwerfend: »Ich will selbständig werden.«

Da drang er nicht weiter in sie. Wohl fühlte er sich zurückgewiesen, aber darin lag eine kleine Genugtuung, als habe sie das kundgetan, wozu er selber den Mut nicht aufgebracht hatte.

Von nun an paßte er auf, daß sie beim Üben sich nicht übernahm. Er sah nach der Uhr, wenn er die ersten Töne zu sich empordringen hörte, und regelte die eigenen Arbeitsstunden nach der Zeit, die er als zuträglich ihr allenfalls zubilligen konnte.

Dann ging er hinunter, hob sie, wenn's nötig war, mit Gewalt von ihrem Klavierstuhl und ließ sogar die väterliche Strenge mit hineinspielen, um sie zum Ausgehen zu zwingen.

Und wie damals, als sie noch Halbkind und frisch aus der Pension gekommen war, zogen sie mitsammen auf die Felder hinaus, dorthin, wo am Wegrande täglich sich auftürmender neuer Schutt künftige Straßenzüge erahnen ließ und wo die Polypenarme der Weltstadt nach Busch und Baum sich todbringend reckten.

Dort – im dürftigen Graspolster – machten sie Rast und träumten hingelagert zu den Wolken empor.

Aus einem der beiden Münder kam dann sicher die Frage: »Was mag Mammi jetzt machen?«

Ja, was mochte Mammi jetzt machen? Ihre Briefe boten der Anhaltspunkte genug. Sie schrieb regelmäßig – heut an Steffen – morgen an Susi – und immer fand sich ein Hinweis, daß das Gesagte auch für den andern bestimmt war. Das, was nur für einen Geltung hatte, pflegte sie einem besonderen Bogen anzuvertrauen, aber oft wechselten sie auch den miteinander aus und freuten sich, wie sehr Mammi in aller Heimlichkeit für jeden von ihnen Sorge trug.

Alles war in die gleiche milde Heiterkeit getaucht, die sie ausströmte, wo immer ihr Wesen sich auswirken konnte. Sie beschrieb ihre Wanderungen, ihre Turnübungen – sie mußte vor allem schlanker werden – und die Tischgenossen beschrieb sie, die Ärzte, die Schwestern und die bedienenden Mägde. Ein immerwährender Reigen von Bildern, lieblicher und lächelnder Menschlichkeiten voll, zog an den beiden vorüber.

»Unser Mammi!« sagte er, in Sehnsucht aufatmend.

Und: »Unser Mammi,« wiederholte sie leise.

Dann schlang er wohl im Liegen den Arm um ihre Schulter, sie nestelte den Kopf an seinem Halse zurecht, und so lagen sie still und träumten von »Mammi«.

Auch Atta schrieb regelmäßig an jedem Sonntag. Und Montags lagen die Briefe schon auf dem Frühstückstisch. Aber die wechselten sie nicht. Zwar Papa durfte den seinen wohl hergeben, denn nichts stand darin, als was eine gehorsame Tochter dem Vater anvertraut, aber die an Susi glühten von leidenschaftlichem Bangen nach dem verlorenen Zuhause, der verlorenen Schwester und dem verlorenen Mammi.

Was sie gar an Mademoiselle schrieb, die jetzt ohne Pflegling als Aufseherin und Dueña im Hause waltete, mußte vollends Geheimnis bleiben. Die strenge Schweigerin kniff die Lippen zusammen und versteckte sogar den Umschlag.

Noch einer war da, dessen man, wenn auch nicht häufig, so doch mit selbstverständlicher Liebe gedachte. Das war Kurt, der gerade mit Eifer und Kraft aufs Abitur lossteuerte und dann die schwer errungene Freiheit zu einer Wanderung nach den südlichen Ländern ausnutzen wollte. Dessen Briefe hatten freilich mit der Mutter Wegfahrt ganz aufgehört, ein Zeichen, daß nur sie es war, die ihn mit der Heimat zusammenhielt.

Aber all das sank allmählich zurück hinter die Zweisamkeit, die Vater und Tochter – Stiefvater und Stieftochter – miteinander vereinte.

Die Sommersonne fing an herniederzubrennen, die Glaswand des Ateliers dunstete Gluten aus, und die Aktmodelle konnten die Zeit nicht erwarten, bis die letzte Hülle von ihnen gefallen war.

Steffen fühlte die Hand ermatten, und Neuheides kühlhaltende Mauern lockten stärker denn je.

Aber Susi erklärte, sie dürfe vor Semesterschluß die Stunden nicht aufgeben, sonst wäre die bisherige Arbeit verloren, und er, der bis dahin nie einen Willen neben dem seinen anerkannt hatte, fügte sich ihr in Gehorsam.

Und so hielten sie beide geduldig aus, solange die Tretmühle des Stundennehmens im Gange war.

In den Dunkelstunden hockten sie eng aneinandergeschmiegt auf dem efeuumrankten Balkon, und nur des Dekorums halber wichen sie auseinander, wenn hinter der Glastür Mademoiselles gleitende Schritte vernehmbar wurden, die gute Nacht sagen wollte und mit halb flehendem, halb drohendem Blicke Susi zum Mitkommen einlud.

Aber schließlich kam doch der Tag, an dem sie dem überheizten Berlin den Rücken drehen durften, um in den Seligkeiten Neuheides unterzutauchen.

Die Leute des Hofes machten lange Gesichter, als sie gewahrten, daß die von allen vergötterte »gnädige Frau« nicht dabei war, aber als man ihnen erzählte, daß ihre Genesung dies Fernsein verlange, gaben sie sich leidlich zufrieden.

Susi hatte wohl den Wunsch, die Fehlende zu ersetzen, aber über eine gelegentliche Neckerei mit den kleinen Rotznasen der Insthäuser gedieh ihre Wirksamkeit nicht hinaus. Meistens saß sie auch hier vor den Tasten und hämmerte pflichtgemäß darauflos.

Spätabends aber, wenn die Monddämmerung ihre weißen Laken über den Rasen spreitete und die umbuschten Gänge in umso schwärzeres Dunkel versanken, dann nahm Steffen sie unter den Arm und wanderte mit ihr in ruhelosem Schweigen durch das Dickicht dahin, oder sie saßen beisammen auf einer Lehnenbank und starrten ins Abendrot.

Dabei geschah's wohl, daß sie an seiner Schulter einschlief und, wenn sie weiß Gott wie lange so gelegen hatte, sich halb getragen nach Hause ziehen ließ, wo sie taumlig und fröstelnd ins Bett kroch.

Lange währte dieses Alleinsein nicht, denn nach acht Tagen war Atta im Lande.

Wie sie dem Wagen entstieg, schien sie noch weiter gewachsen – ein Jungfräulein fast – mit ihren Dreizehneinviertel – das langwellige Braunhaar zu sittsamen Zöpfen gebunden.

Papa erhielt seine ehrfurchtsvollen zwei Küsse, dann nuckelte sie sich umso inbrünstiger an Susis Halse fest, und im Hintergrunde stand Mademoiselle süßsäuerlich lächelnd und wartete, bis auch sie an die Reihe kam.

Mit Attas Wiedererscheinen war in dem weitläufigen Hause, das Susis Töne bisher nur dürftig erfüllt hatten, ein neues Leben erwacht. – Allerhand Getier – Hunde und Ziegen und Tauben – war allzeit um sie herum. Sogar zwei Rehe, die der Förster mit der Flasche für sie genährt hatte, fanden bei ihr Obhut und Heimat.

Und dann kamen auch bald Freundinnen hinter ihr her. Halbwüchsiges Mädchenvolk mit Hängezöpfen gleich ihr und jenem Schuß frühzeitiger Koketterie, die Eva all ihren Töchtern schon in die Wiege gelegt hat.

»Papa, bitte baden!«

»Ach ja, bitte, lieber Herr Professor, baden, baden!«

Er wollte erst nicht. Allein durfte er sie nicht zum See hinausziehen lassen, und mitzukommen, davor warnte ihn eine nicht ganz erklärbare Scheu.

Sein Blick suchte den Susis, aber die lächelte nur ein mütterlich nachsichtiges Lächeln, und darum nickte er endlich Gewährung.

Vier, sechs, acht Jungmädchenarme flogen ihm um den Hals. Und selbigen Abends, vor Sonnenuntergang, fuhr der Jagdwagen, mit lachender Last schwerbeladen, dem Schilfufer zu.

Die Frauenkabine erwies sich als viel zu klein für das süße Gesindel, drum räumte Steffen ihm auch die Männerseite ein und verzichtete auf das eigene Bad, um lieber den farbigen Kreiden ihr Recht zu vergönnen.

Am Westhimmel stand die Feuersbrunst der untertauchenden Sonne. Blaugolden, wie von Flammen bestrichen, lag der Seespiegel da, und die Schilfinseln umrandeten ihn gleich Mauern aus glühendem Erz.

Eines der Mädelchen nach dem andern erschien im Badetrikot, rot übertüncht von dem purpurnen Abendschein, umklammerte das Geländer der Stufen und steckte quietschend die Zehenspitzen in das naßmachende Wasser.

Die einen – und Atta gehörte zu ihnen – lang, dünnbeinig und platt, die andern in der prallen Rundlichkeit der ersten widersinnigen Fülle.

Und auch Susi kam. Mit scheuem Blick nach ihm hin, das Badetuch eng um Schultern und Hüften gezogen.

Das Herz begann ihm härter zu schlagen, und als sie das Tuch abtat, da sank ihm der Griffel fast aus der zitternden Hand.

Noch im vorigen Jahre hatte er sie oft so gesehen und im Wasser ohne Befangenheit mit ihr gespielt und gerungen. Dennoch schien's ihm, als erblickte er sie zum erstenmal. Diese weich gewölbten Schultern, dieser zarte, ganz knochenlose Busenansatz, diese Nackenlinie, die sich in leiser Wellenhebung zur Wirbelsäule verlor! Nie war ihm die verborgene Schönheit ihres Jungfrauentums so zu Gemüte gegangen.

Und in ihm rief es: ›Malen, malen! Rasch wegstehlen, was sich dem trinkenden Auge sonst immer verhüllte.‹

Derweilen begehrten die Backfische vom Wasser her dringend mit ihm zu tollen, umtanzten im Ringelreihen seinen erhabenen Platz und spritzten kristallene Funken zu ihm empor.

Er lachte und drohte zu den Nymphchen hinunter, aber sein Auge wollte nur wissen, was sie tat.

In langen, unbekümmerten Stößen schwamm sie der Seemitte zu und war bald nur noch ein schwarzer Punkt in all dem fließenden Feuer.

Da sprang eine plötzliche Angst in ihm hoch, und durch die hohlen Hände schrie er zu ihr hinüber: »Um-keh-ren!«

Gehorsam folgte sie ihm, und als sie wieder nahe der Brüstung war, rief sie zu ihm empor: »Warum sollt' ich? Wir sind doch sonst immer viel weiter geschwommen!«

»Da war ich dabei,« erwiderte er mit scheinbarer Strenge, aber in ihm bebte die Sorge vor dem Unwillen, den er aus ihrer Stimme herauslas.

›Mein Gott, was wird aus mir?‹ fragte er sich. Und zum erstenmal ahnte er, daß etwas Ungeheuerliches in ihm geschah und daß eine Gefahr auf der Lauer lag, deren er schleunig Herr werden mußte. – –

An demselben Abend tobte die wilde Jagd mit Singsang und Kichern und Johlen durch Büsche und Lichtungen.

Susi hatte gebeten, oben bleiben zu dürfen. Während er die dunkeln Alleen entlangschritt, quollen aus ihrem unerhellten Zimmer, durch die Entfernung verdünnt, die Klänge der Mondscheinsonate zu ihm herab.

Eine Gruppe glitt trällernd an ihm vorüber. Atta war nicht dabei.

Eine andere machte dicht vor ihm halt. Mädchenarme hakten sich ein und suchten ihn spielend zur Umkehr zu zwingen.

»Wo ist Atta?«

»Futsch!« – »Dünnegemacht!« – »Hat oft solche Nücken!«

So ging es bunt durcheinander.

»Dann laßt mich los, ich hab' ihr was zu sagen.«

Sie muckten ein wenig und gaben ihn frei.

Wo mochte Atta nur stecken? Aus dem Gedanken an Susi heraus hatte die Unruhe um sie ihn plötzlich befallen.

Sorgsam durchstöberte er Busch nach Busch. Wo irgend eine Bank stand, spähte er herum. Nirgends ließ eine Spur sich entdecken.

Da endlich, wie er an der Ruine vorbeiging, war's ihm, als höre er aus dem Rosendickicht heraus ein leises, krampfhaftes Schluchzen.

Dort auf dem Steingerümpel – die Schattengestalt – zum Häufchen Unglück zusammengekrochen – das war sie – sein Kind – sein einziges.

Mitten aus allem Jubel hatte sie verschwiegenes Leid in die Einsamkeit getragen.

»Atta – Mausi – Liebling – was ist dir?«

Und während er sie in seine Arme nahm, stieg der Vorwurf in ihm hoch: ›Du hast ein Kind und weißt nichts von ihm!‹

Ohne Trotz und Widerstreben nestelte sie sich an seiner Backe zurecht. Warm flossen ihm die Tränen am Halse hinunter.

»Also sag, Liebes, was hast du?«

Lang mußte er bitten. Da endlich offenbarte sich der tiefinnerste Gram der heimatlos gewordenen Seele.

»Mammi soll kommen! Mammi soll kommen!«

»Um Gottes willen, Mausi, du weißt doch, daß Mammi nicht kommen darf! Wir bangen uns alle nach ihr, aber ein Jahr müssen wir uns gedulden, die Ärzte verlangen es so.«

»Ich halt's aber nicht aus – ein Jahr. Ich muß sonst sterben in diesem Jahr.«

Und dann immer wieder: »Bitte, bitte, Mammi soll kommen! Mammi soll kommen!«

Da sah er ein, daß hier eine Not wühlte, die an Verzweiflung grenzte. Oft hatte er gehört, wie gefährlich in diesem Übergangsalter die Krisen werden konnten, die die erwachenden Seelen durchrasten, wenn man ihnen nicht rechtzeitig eine helfende Lösung gab.

Und plötzlich kam ihm der Gedanke: ›Kann sie nicht zu uns, vielleicht können wir zu ihr.‹

Mit dieser Hoffnung tröstete er das verzagende Kind, und während er leise und zärtlich auf sie einsprach, sagte er zu sich: ›So entfliehst du vielleicht auch dir selber!‹ – –

Am nächsten Morgen telegraphierte er dem großen Nervenarzte, der von Berlin aus die Kur überwachte, ob gegen eine Besuchsreise zu seiner kranken Frau etwas einzuwenden wäre.

Und die Antwort lautete: »Im Gegenteil. Nur erwünscht.«

Da schalt er sich, daß er, lieblos genug, hieran nicht schon früher gedacht hatte, und begann sofort die nötigen Vorbereitungen ins Werk zu setzen.

Die Backfische loszuwerden, fiel nicht leicht. Denn sie und die Eltern hatten auf eine Weide von vielen Wochen gerechnet. Briefe gingen hin und her. Schließlich – nach Abschiedskuchen und Abschiedsküssen ohne Zahl – waren sie glücklich verstaut und dampften anderen Paradiesen entgegen.

Atta schämte sich dauernd ob ihrer Seligkeit. Wo jemand ihr in die Nähe kam, hing sie ihm schon am Halse, um die immer bereiten Tränen daselbst zu bergen, und Susi ging schweigend, mit starren, grellglänzenden Augen umher, als ob sie Visionen sähe.

Überrascht durfte Brigitte nicht werden. Das hätte ihr neue Gefahr gebracht.

In der Heilanstalt war sie nicht mehr. Damit deren allzu geschützte Luft sie nicht verweichlichte, hatte man sie, wie die Ärzte vorausbedacht, auf Reisen geschickt, mit der Order, sofort wieder umzukehren, wenn sie einsah, daß das Alleinsein ihr schadete.

Im Augenblick saß sie in Glarus, und in ihren Briefen spiegelten sich die Eishöhen des Glärnisch.

Dort mußte sie aufgesucht werden, und dorthin flog die Depesche, die von der Station her die Abreise meldete.

Die beiden Schwestern saßen eng umschlungen in den Polstern des Abteils und lächelten einander an.

Steffen schielte in stummer Frage nach Susi hinüber: ›Bist du wirklich so harmlos? Drang bis zu dir kein Widerschein von der Lohe, die du entzündet hast?‹

Und zugleich bäumte in ihm die Begier nach Erlöstsein sich auf und schrie und schrie nach Brigitte.


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