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Achtundzwanzigstes Kapitel

Zuerst wollte sie gar keine Trauer tragen.

Wer sie sah, der glaubte eine Verzückte vor sich zu haben. Die Hände über der Brust gefaltet, die Augen im Himmel verloren, ein halb irres Lachen um die Lippen, so lief sie in den Zimmern umher, selbst singen hörte man sie.

Das ging mehrere Tage so, und in den Nächten war es nicht anders.

Den Hausarzt, den Steffen heimlich gerufen hatte, wollte sie zuerst gar nicht hereinlassen.

»Was sucht er bei mir? Noch nie war ich so gesund und so froh.«

Aber schließlich mußte sie es dulden, daß er ihre Herztöne abhörte und ihren Puls sorgfältiger prüfte als sonst.

Und mitten unter seinen Händen brach sie im Weinkrampf zusammen. Ein paar ausgiebige Morphiumspritzen taten ihr Werk, und als sie erwachte, war die höchste Gefahr überwunden.

Schwere Wochen folgten. Selbstvorwürfe quälten sie sehr, und stundenlang konnte man sie herzählen hören: so hätte ich zu ihm sein müssen, dies hätte ich für ihn tun müssen und das.

Sein ganzes einsames und eigenwilliges Leben lag nun als Fehl auf ihrem Gewissen.

Aber nie fiel es ihr ein, Steffen dafür verantwortlich zu machen; nur sie hatte gesündigt. Nur auf sie sank zurück, was er verschuldet hatte.

Er war auch der einzige, der in dieser Zeit um sie sein durfte.

Wohl hätte sie auch Atta gern in ihrer Nähe gehabt, aber Atta, der gewichtige Empfehlungen den Weg zur Krankenpflege gebahnt hatten, war längst schon im Dienst. Alle acht Tage kam sie für einen Nachmittag heim. Bildhübsch sah sie aus in ihrer Hilfsschwesterntracht mit der weißgeränderten Haube und dem langwehenden Schleier, aber niemand freute sich daran; gerade nur, daß es Steffen einfiel, eine flüchtige Skizze auf die Leinwand zu werfen.

Und sie war auch meistens so müde, daß sie schon nach einer halben Stunde auf irgend ein Sofa fiel und nicht mehr zu wecken war. Drum ließ man sie über Nacht meistens daheim, aber um halb sechs in der Frühe mußte sie 'raus, denn um sieben hatte sie anzutreten, und bis zu ihrem Lazarett dauerte die Bahnfahrt fast eine Stunde.

Und Brigitte, so wenig sie auch geruht haben mochte, war immer zur Stelle, bereitete ihr selber den Tee und brachte sie bis an die Droschke.

Noch eine andere Tochter hatte sie jetzt – außer Susi natürlich, um die man, wie es schien, keine Sorge mehr zu haben brauchte –, das war das Mädchen, das in München verlassen dasaß.

Rein gar nichts wußte man von ihr, nicht einmal, wie sie hieß; nur in der Wohnung, die Kurt einst inne gehabt hatte, konnte man Nachricht von ihr erhalten.

Brigittens Gedanken kreisten dauernd um sie herum; schließlich erklärte sie, sofort nach ihr sehen zu müssen, und da Steffen sie nicht allein auf die Suche gehen lassen wollte, so fuhr er mit ihr.

Was sie fanden, war schlimm genug. Kurts Befürchtungen hatten sich vollauf erfüllt.

Durch die Verzweiflung, in der sie heimgekommen war, als sie den geliebten Namen in den Verlustlisten entdeckt hatte, war alles offenbar geworden.

Und die Eltern hatten sie richtig verstoßen. Auch das Zureden Brigittens vermochte nicht, die Biederen milder zu stimmen. Nicht einmal wo die Tochter jetzt steckte, wußten sie und wollten sie wissen. Erst mit Hilfe der Polizei gelang es, deren Aufenthalt auszukundschaften.

Loni hieß sie und war ein süßes, blasses, trauriges Kind, fast schon zusammengebrochen unter dem Scharwerk, in dem sie sich quälte, um sich und der keimenden Frucht das Leben zu fristen.

Kurt hatte recht gehabt, ein Engel war sie – schlichtweg ein Engelchen. Goldlocken hingen ihr um das schmalwangige Botticelligesicht, die Augen glänzten in treuherzigstem Himmelblau, und eine Unschuld lag über allem, die für sein Drängen nach Sühne volle Erklärung gab. So verschüchtert war sie am Anfang, daß es langer Bitten bedurfte, um sie aus dem Schlafkämmerchen hervorzulocken, in dem sie sich vor den Fremden verkrochen hatte.

Erst allmählich taute sie auf und zeigte ein wenig Vertrauen.

Die Leute, bei denen sie Zuflucht gefunden hatte, waren gut zu ihr. Bei denen konnte sie vorläufig bleiben, aber das Granatendrehen mußte ein Ende haben. Schneidern sollte sie lernen und Putzmachen, um später einmal in eigener Arbeit einen Rückhalt zu finden. Auf alle Fälle war für sie und das erwartete Kindchen gesorgt.

Sie wollte an ihr Glück fürs erste nicht glauben und starrte entgeistert von einem zum anderen. Dann brach sie heiß weinend zusammen und mußte erst von Brigitte in den Arm genommen und geküßt und gestreichelt werden, ehe sie endgültig zu dem neuen, besseren Leben erwachte.

Als beide wieder im Zuge saßen, sagte Brigitte: »Siehst du, habe ich nicht richtig geahnt, als es mir keine Ruhe mehr ließ?« Und sie dankte ihm innig, daß er um ihretwillen seine Werkstatt im Stich gelassen hatte. »Denn allein hätte ich's niemals geschafft.« – –

Der Winter brach herein, und der Reigen der täglichen Siegesnachrichten, mit dem wir Deutsche jahrelang unterhalten wurden, tanzte in kaum je getrübtem Glanze an den heilsbegierigen Seelen vorüber. Nur geflaggt wurde nicht mehr so viel, und unkende Stimmen fanden sich, die da sagten, das Spiel werde so bald nicht zu Ende sein. Aber daß es bereits verloren war, das argwöhnte niemand.

Die Zeit, deren Andenken heute als ein atempressender Alb auf den Gemütern derer liegt, die sie, von Begeisterung zu Angst, von Angst zu Begeisterung hintaumelnd, als scheinbar Handelnde durchgelebt haben, rollte wie ein Filmband sich ab.

Scheinbar handelnd, jawohl! Denn jeder glaubte wunder wie hilfreich zu sein, um den Sieg auf unsere Seite zu zwingen, schuf sich Tätigkeiten, die seine Kraft verzehrten, und ahnte nicht, daß alles nur Leerlauf war und daß er nichts Besseres vermochte, als für seinen Teil das Leiden der Welt ins Ungeheure zu steigern.

So arbeitete auch Steffen mit großem Eifer in allerhand wichtigtuenden Kriegsgesellschaften, die immer neue Töchter gebaren, ging mit dem Gefühle gehobenen Wertes in einem halben Dutzend der höchsten Ämter, die sonst dem Privatmann hochmütig verschlossen gewesen, geschäftig aus und ein und wunderte sich, daß er sich ehedem damit begnügt haben konnte, nichts als ein Maler zu sein.

Von seiner Kunst war nirgends die Rede. Höchstens, daß irgend ein großes Tier, bei dem er aus dringendem Anlaß vorgelassen wurde, wohlwollend sagte: »Ah so, Sie sind der berühmte – – So, so!«

Und diese Kunst noch auszuüben, hatte gar keinen Zweck. Denn wer kümmerte sich jetzt noch um Bilder?

Herr Naschke sagte: »Ick wer' mein' Laden demnächst als Suppenanstalt einrichten. Dann spritzt ab und zu wat jegen de Wand, und bei die Jelegenheit besieht man sich jefälligst, wat dranhängt.«

Wer sich nichts erspart hatte, der konnte betteln gehen. Und Steffen besaß nicht viel. Er hatte zu »large« gelebt, um sich auf sein Bankkonto verlassen zu können.

Freilich, Neuheide war da. Aber gerade Neuheide schuf immer größere Sorgen. Zwar standen die ländlichen Erzeugnisse herrlich im Preise, aber seit der langjährige Verwalter seiner Gebrechlichkeit wegen verabschiedet war und ein junger, großschnauziger Nachfolger Land und Leute regierte, lag kein Segen mehr auf der Wirtschaft. Mißwachs hier – Fehlverkauf dort – Malheure an allen Ecken und Enden! Den Herrn zu entlassen, nachdem er ihn mühsam vom Frontdienst freigekriegt hatte, ging auch nicht an. Woher Ersatz für ihn nehmen? Außerdem fehlten zur Arbeit die Kräfte, denn mehr als die Hälfte der Männer war »draußen«.

Steffen, schaff Rat! Jawohl, schaff Rat, wenn dir der Kopf brummt von Mangel und Geldnot. Und wenn die »Goldgrube«, um die alle Welt dich beneidet, ihren Namen nur dadurch verdient, daß sie das Gold verschlingt, das längst schon Papier ward.

Inzwischen stiegen die Güter im Preise; aufs Doppelte, aufs Dreifache stiegen sie, und Steffen konnte sich der Anerbietungen kaum noch erwehren, die täglich gegen ihn anstürmten.

Das Herz zog sich ihm im Leibe zusammen bei dem einen Gedanken, aber immer wieder war er zur Stelle. In den Schlaf der Nächte brach er ein, auf allen Wegen war er Begleiter, und ragte irgendwo eine weiße Wand, so stand unfehlbar darauf geschrieben: »Verkaufen! Verkaufen!«

Lange Zeit wagte er nicht, sich Brigitte anzuvertrauen. Als vor einer Reihe von Jahren ein Riesenangebot an ihn herangetreten war und er bei Tische davon gesprochen hatte, waren alle drei – Brigitte, Susi und Atta – wie auf Kommando in Tränen ausgebrochen und hatten ihn angefleht, etwas so Abscheuliches nicht in Erwägung zu ziehen.

Jetzt fürchtete er neue und schwerere Krisen, denn seit dem Tode des Jungen kränkelte Brigitte immer und immer. Sie schluckte unentwegt Convallaria, Strophanthus und Digitalis, und auch die Nervenanfälle begannen sich öfters zu melden.

Aber schließlich mußte es einmal geschehen. Und der Erfolg war minder schlimm, als er gefürchtet hatte.

Mit ruhig klagenden Augen sah sie ihn an und meinte: »Wir haben so viel geopfert, daß dieses auch nicht viel ausmacht.«

Von nun an ging er der Frage ernsthaft zu Leibe, und alsbald wimmelte es im Atelier von zweifelhaften Gestalten – alten, aristokratisch sein wollenden Gecken mit weißen Gamaschen und bis zu den Augen gezwirbeltem Schnurrbart oder Proleten mit schiefgetretenen Hacken und zerscheuerten Pelzen über bogigem Fettwanst.

Wer als Käufer hinter ihnen sich barg, ließen sie niemals erraten – um der Prozente willen natürlich, die ihnen bei direktem Verhandeln leicht verlorengehen konnten.

Ab und zu kam auch ein Briefchen zu Steffen geflogen, duftend nach dem über die Schweiz bezogenen neuesten Pariser Parfüm, doch umso anfechtbarer in Hinsicht des Stils und der Rechtschrift, worin die Gattin eines Bewerbers ihrer Ungeduld Ausdruck gab, sich alsbald als Schloßherrin der staunenden Mitwelt zeigen zu können. Selbst Hinweise fanden sich vor, daß man im Falle des Kaufs nicht abgeneigt sei, sich für ein fürstliches Honorar porträtieren zu lassen, und war man dazu auch jung und hübsch, so lagen Bilder anbei, die noch lockendere Verheißungen bargen.

Kurzum, es war eine Lage zum Kotzen. Aber die Millionen winkten wie siegreiche Fahnen, hinter denen man fröhlich selbst in den Tod zieht.

Was lag an den paar Monaten ländlicher Stille, wenn man der Sorgen ledig wurde für immer und manschen konnte im Gelde, während alles ringsum den Gürtel noch enger schnallte? Und war erst wieder Friede im Lande, dann ging man statt nach Neuheide nach St. Moritz oder Ostende und malte und erlebte die unerhörtesten Wunder.

Und eines Tages wurde der Vertrag unterschrieben. Ein Lederhändler war der Glückliche, irgend ein Herr Piefke – wie er in Wahrheit hieß, war egal –, der noch vor zwei Jahren in der Landsberger Allee einen kleinen Sattlerladen morgens selber geöffnet hatte und der jetzt die Kaufsumme glatt auf den Tisch warf, wie man wohl in der Bar einen Cobler bezahlt.

Als Steffen von dem Notar nach Hause kam, fielen Brigitte und er sich um den Hals und weinten wie zwei heimatlos gewordene Kinder.

Aber nun war es geschehen, und nichts mehr ließ sich dran ändern.

Am unglücklichsten von den dreien war Atta. Zuerst wollte sie das Fürchterliche nicht glauben, und als sie bei ihrem nächsten Besuche Gewißheit erhielt, drehte sie sich auf ihren Hacken kurz um und floh aus dem Hause. Hierauf kam sie drei Wochen lang gar nicht, und als Brigitte sie mahnte, schrieb sie zurück: »Bitte, laßt mich! Ich weine Euch doch bloß was vor.«

Es nahte der Tag der Übergabe. Im Frühherbst war's, und so rotgolden schien die Sonne vom Himmel, wie sie's eben nur in Neuheide konnte, wo alles tausendfach schöner war als sonst in der Welt.

Atta hatte sich Urlaub genommen, und alle drei waren hinausgefahren zum letzten Male in diesem Leben. Ein jeder wollte noch retten, was ihm persönlich am Herzen lag, sonst ging es verloren, denn die Einrichtung, für die ja in der Stadtwohnung nirgends ein Platz war, gehörte mit zum »Objekte«. Herr Piefke hielt darauf, das Schloß auch im Innern standesgemäß zu finden, das war er sich und seiner Vergangenheit schuldig, und die Herren Innenarchitekten, die er zu Rate gezogen, hatten einstimmig erklärt, etwas Stilgerechteres zu liefern seien auch sie nicht imstande.

Ja, das waren traurige Stunden!

Atta verzog sich alsbald in ihr Kinderzimmer, um sich von ihrem einstigen Spielzeug und ihren Schulbüchern einzupacken, was irgend das Mitnehmen lohnte. Und auch Susis Sachen durchwühlte sie, für den Fall, daß sie noch einmal nach Deutschland zurückkäme.

Brigitte ging wie eine Nachtwandlerin von Raum zu Raum. Sie streichelte die Möbelbezüge, die sie einstmals selber besorgt hatte, sie stand vor dem Schreibschrank, der von Briefschaften und angefangenen Geschichten voll war bis oben, aber ihn auszuräumen fand sie den Mut nicht; erst Steffen mußte dazu kommen, um all die Papiere in Kisten zu bergen.

Und dann hatte sie noch eine Bitte an ihn: »Komm mit mir vors Försterhaus! Ich möchte so gerne den Ort noch einmal sehen, an dem Atta geboren wurde und Wulle-Wulle und Susi und Kurt um mich 'rumspielten. Nun sind sie mir alle drei verloren, denn ob ich Susi noch einmal im Leben sehen werde, das wissen die Götter.«

So legte also Steffen den Arm in den ihren, und schweigend wanderten sie den geliebten Weg zu den Fichtenkuscheln – an der weißen Hofmauer immer entlang.

In dem Kieferndickicht schätterten noch immer die Elstern, und Eichkätzchen jagten einander in Schraubenlinien die Stämme empor, so vertraut mit ihren rostfarbenen Röcken, als wären es noch dieselben von damals.

Welch ein Friede in dieser Welt!

Und draußen zischten die Granaten und bellten die Maschinengewehre, und täglich sanken ihrer tausend dahin.

Was bedeutete in diesem Todeswirbel das arme Schicksal eines einzelnen?

Drum Zähne zusammengebissen und »lebewohl« gesagt! Denn morgen schon kam im Triumph die Familie Piefke.


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