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Achtunddreißigstes Kapitel

Und eines Morgens starb sie.

Steffen hatte beim Aufstehen nicht an ihre Türe gepocht, denn jede Stunde längeren Schlafes war ihr ein Segen; zudem wachte die Schwester bei ihr.

Die Maisonne trieb ihn zum Hause hinaus, noch bevor er den Pinsel angerührt hatte, und weil die ganze Welt im Aufblühen war und nirgends ein Schmutz und ein Mißton, zog es ihn weiter und weiter, so daß er am Haustor erst anlangte, als wohl anderthalb Stunden verflossen waren.

Oben empfing ihn Loni laut weinend, und in der Küche weinte Auguste, und auch die Schwester weinte.

Er fragte nichts und jagte an allen vorbei in ihr Zimmer.

Da lag sie – ganz rosig und warmgeschlafen, die Augen geschlossen, die Hände friedlich gefaltet.

›Ach Unsinn!‹ dachte er.

Aber als er sie anfaßte, da schaukelte der Körper erst heftig nach rechts und nach links, dann in immer leiser werdender Schwingung.

›Also so ist das,‹ dachte er, ›wenn man tot ist.‹

Und als setzte die Schwingung im Ohre sich fort, so klang es glockengleich: ›Tot, tot, tot.‹ Und immer so weiter.

Aber fassen konnte er's nicht. Und es tat auch kaum einmal weh.

Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Die Schwester war's.

Und sie erzählte: Die Nacht war ruhig verlaufen. Morgens hatte sie sich für eine kurze Weile entfernt, um sich zurechtzumachen, und als sie etwa um acht mit der Frühstücksmilch wiederkam und die Vorhänge aufzog, da blinzelte die Kranke ihr verschlafen entgegen, so daß sie still die Tasse wieder hinaustrug, um ihr noch etwas Ruhe zu gönnen. Dann aber – als sie nach einer halben Stunde wieder eintrat und keine Antwort erhielt – ja dann – –!

Oh, es sei gewiß alles geschehen! Der Arzt aus dem Nebenhause sei binnen fünf Minuten dagewesen und der Hausarzt nicht lange hernach. Sie hätten auch alles nur Denkbare versucht – –. »Embolie!« hatten sie beide gesagt. Der schnellste und sanfteste Tod, der menschlichen Wesen beschieden ist. Hier wahrscheinlich mitten im Schlafe gekommen.

»Na ja! Na also!«

Ob Loni oder die Schwester alle die Blumen neben sie auf den Nachttisch gestellt hatte, war schließlich egal, aber daß sie da standen, gab ihm ein Gefühl tiefer Beruhigung, als sei etwas sehr Wesentliches damit vollbracht.

Er machte sich auch keinen Vorwurf, daß er weggewesen war. Im Gegenteil, das allgemeine Geschrei und das Handwerken der Ärzte hätten ihm nur die Andacht geraubt.

Selbstvorwürfe kamen erst später, viel später.

Fürs erste hieß es: aktionsfähig sein.

Noch einen Blick auf das liebe, lebende Angesicht, in dem die Farben durchaus nicht bleichen wollten, noch einen Kuß auf die warmgebliebenen Lippen, – dann an die Arbeit!

Atta war schon vor vierzehn Tagen telegraphisch benachrichtigt worden: »Mammi geht es nicht gut. Wenn du kannst, komm bald.« Und ihre Antwort hatte gelautet: »Wir kommen beide.«

Bis sie da waren, mußte, wenn irgend möglich, das Begräbnis verzögert werden.

Susis Adresse dort drüben kannte er nicht. Ihr Botschaft zu senden, mußte der Schwester aufgespart bleiben. Zur Zeit noch hier sein konnte sie doch nicht.

›An die Arbeit, Freundchen! Keinen Kummer vorschützen!‹

Zur Stadt: Sarg, Aufbahrung, Lichter, Blumen, Kirchhof, Pastor und so dergleichen.

Immer fleißig! Sogar das Mittag schmeckte, das er in einem Gasthause zu sich nahm. Merkwürdig, daß an einem solchen Tage das Mittag schmecken kann!

An Astrids Wohnung fuhr er zweimal vorbei.

›Wär' ich hinaufgegangen,‹ dachte er, ›dann hätt' ich der Toten ein Unrecht getan!‹

Daß er jetzt Astrid ein Unrecht tat, fiel ihm nicht ein.

Als er um die Dämmerzeit zu Hause ankam, dachte er: ›Sie wird wohl immer noch tot sein!‹ Aber ganz tief im Untergrunde des Bewußtseins lag eine Hoffnung: ›Vielleicht ist sie doch wieder aufgewacht.‹

Ach nein, sie war immer noch tot – und toter als morgens.

Schneeweiß war sie geworden, und hart und starr fühlten die Glieder sich an.

Die Frauen hatten sie inzwischen für die lange Ewigkeit angekleidet, und vorne warteten die Leute des Sarggeschäfts. Sie wollten wissen, wo der Katafalk aufgestellt werden sollte.

Er führte sie ins Atelier hinauf. Die Außentreppe war breit genug, um später ein bequemes Herunterschaffen des Sarges möglich zu machen.

So konnte sie dort ruhen, wo sie immer am liebsten geweilt hatte, von seinen Bildern wie von einer treudienenden Heerschar umgeben, hatte sie doch als Hüterin über allen gewaltet. – Und wenn man die Staffeleien in die Kabusen steckte, blieb Platz für eine würdige letzte Feier, so daß man den fremden Kapellenraum ausschalten konnte.

Und als sie da oben gebettet war, ging's an ein fleißiges Depeschieren. Denn den Freunden am Telephon mit ruhiger Stimme Nachricht zu geben, dazu fühlte er sich nicht kaltschnäuzig genug. Wie leicht hätte er in Weinerlichkeit umschlagen können, und bis jetzt – welch ein Stolz! – war ihm noch keine Träne gekommen.

Auch Astrid erhielt ihre Depesche, als wäre sie nichts anderes als alle die anderen, und war doch jetzt sein einziges auf der Welt.

Bis Atta kam!

Aber wie bald ging Atta von neuem ins Weite, und dann blieb er wieder allein. – –

Tief und traumlos war der Schlaf dieser Nacht. Und ins Wachen zurückkehrend, dachte er: ›Mir ist doch was Unangenehmes passiert! Was kann das wohl sein?‹

Und dann von Schrecken emporgejagt: ›Es kann nicht sein! Blödsinn ist alles!‹

Hinaus, hinauf – im Hemde, so wie er war. Man mußte sich doch überzeugen!

Jawohl, da lag sie. Genau so wie er sie gestern verlassen hatte. Nur daß ein schräger Frühmorgenstrahl auf ihren Backen herumspielte.

›Malen mußt du sie,‹ dachte er. ›Das einzige, was du noch für sie tun kannst – und für dich auch.‹

Dabei kam ihm zu Sinn, daß sie ihm seit undenklichen Zeiten nicht mehr gesessen hatte. Alles nur mögliche fremde Volk trug aus Dank für irgend eine freundliche Stunde Bild oder Skizze mit sich nach Hause, nur sie, der er Unendliches dankte, war ihm immer zu alt und zu reizlos erschienen, um ihr ein paar Pinselstriche zu gönnen. Sie aber in ihrer Bescheidenheit hatte niemals gewagt, ihm mit einer Bitte lästig zu fallen. Und diese Mißachtung war schon immer in ihm gewesen und hatte sich bis auf Atta erstreckt, die in ihrer Kinderlieblichkeit Luft für ihn gewesen war, bis eines gewissen Tags, als Brigitte – – o nicht daran denken. Nicht daran denken!

Nach einer Weile stand das Werkzeug gerüstet.

Da, wie er den ersten Kohlenstrich tun wollte, kam prompt der erste Schwächeanfall.

›Blech,‹ sagte er, sich hochreißend. ›Wozu Tizian die Charakterkraft hatte und mit ihm manch anderer, dazu werd' ich wohl auch noch imstande sein.‹

Und nun ging es wirklich.

Da, wie er malte und malte, gewahrte er, daß sie ihm unter den Händen immer jünger und schöner wurde.

Zuerst glaubte er, eine Selbsttäuschung narre ihn, – doch nein, das war gewiß die berühmte Verklärung, von der diejenigen, die sich beim Tode einschmeicheln wollen, so viel zu fabeln wissen.

O nein, keine Verklärung war's. Ganz irdisch lag sie da, nur hatte sie wieder das Antlitz ihrer dreißiger Jahre und machte das liebliche Schnäuzchen von damals.

Plötzlich stand Astrid hinter ihm.

Zwar war die Tür jedem Besucher verschlossen, aber für sie galt das natürlich nicht.

Und so tief verstrickt war er in seine Arbeit, daß er sich selbst dadurch nicht stören ließ.

»Sieh hin,« sagte er, den Pinsel schwenkend. »Sieh hin, wie schön sie ist.«

Astrid blickte ihn an, als spräche er irre, dann sank sie neben dem Sarge zusammen und schluchzte, das Bahrtuch mit den Händen zerknäulend.

›Famos die Linien dieser Gruppe,‹ dachte er. ›Schade, daß ich sie ungemalt lassen muß.‹

Und dann fing Astrid, die wieder aufgestanden war, in ihrem Schmerze an, Unsinn zu reden: »Ich hätte sie niemals belügen dürfen! Ich hätte ihr alles bekennen müssen! Das war ich ihr schuldig.«

»Du warst ihr zuerst schuldig, ihren Frieden nicht zu stören,« sagte er, indem er die Blicke in Hast zwischen Bild und Modell hin und her wandern ließ. »Aber, bitte, tritt zur Seite! Du wirfst einen häßlichen Schatten.«

»Ja, bist du ein Mensch,« schrie sie auf, »daß du so herzlos reden kannst?«

»Zum Moralisieren hab' ich jetzt keine Zeit,« erwiderte er. »Sie verändert sich von Stunde zu Stunde. Ich muß das festhalten, denn – es – kommt nie – mehr.«

Wie er das sagte, hörte er in seinen Ohren ein Singen und Klingen und fand sich – wie lange später, wußte er nicht – auf der Erde wieder, mit dem Kopf in Astrids Schoße liegend.

Aber als ihm auf ihr Geheiß Loni den Morgentee brachte, den er in seiner Rage ganz vergessen hatte – ihn zu mahnen, das wagten sie nicht –, da kam er wieder zu Kräften, nahm Abschied von Astrid und arbeitete weiter.

Und arbeitete so den ganzen Tag.

Bis um die sechste Abendstunde Loni hellschluchzend heraufgelaufen kam und meldete, die Frau Konsul stehe unten im Hausflur.

»Hast du es ihr gesagt?«

Nein, sie habe bei ihrem Anblick losgeweint, und um das nicht zu zeigen, sei sie gleich weggerannt.

Mit Palette und Pinseln, so wie er war, lief er hinab.

Ja, da stand sie! Hochaufgerichtet, mit den strengen, strengen Augen, die das arme Hascherl machen konnte, starrte sie ihm und dem Schicksal entgegen.

Und wie sie ihn nur ansah, wußte sie alles. An seinem Halse festgeweint lag sie, genau so wie einst im nächtlichen Park von Neuheide, aber ihr damaliger Sehnsuchtsschrei: »Mammi soll kommen!«, der galt nun nichts mehr.

Und dann führte er sie – trug er sie – zu ihrem Mammi empor. – –

Eine Viertelstunde später kam auch ihr Mann. Während er das Gepäck verzollen ließ, war sie ihm schleunig voraufgefahren. Die Angst hatte ihr das Warten unmöglich gemacht.

»Vergebt mir, Kinder,« sagte Steffen, als sie alle wieder unten saßen, »ich kann euch nicht aufnehmen. Platz wäre ja allenfalls da, aber – kurz, ich kann nicht. Geht, bitte, als meine Gäste in ein Hotel.«

Atta wuchs empor und wurde wieder zur Priesterin. »Das ist unmöglich, Papa,« sagte sie mit einer Entschiedenheit, die er kaum an ihr kannte. »Leo wird dir gerne gehorchen, aber ich muß bei meinem Mammi bleiben.«

Da sah er ein, daß er Unmenschliches von seinem Kinde verlangt hatte. So ganz war er des Glaubens gewesen, mit der Toten auf Erden allein zu sein, daß er sich erst klarmachen mußte, wie sehr noch ein dritter Mensch zu ihr gehörte.

Zu ihm auch, doch daran dachte er nicht.

Und nun konnte auch rasch das Begräbnis festgesetzt werden. – –

Die letzte Nacht, in der Brigittens Leichnam auf Erden verweilte, war gekommen.

Steffen besann sich, daß er einst seine Mutter an dem Morgen des Tags, an dem der Vater beerdigt wurde, vor dem offenen Sarge sitzend gefunden hatte und daß sie selbst dann nicht den Blick von dem Toten wandte, als er mahnend an sie herantrat. So hatte sie die ganze Nacht über gesessen.

Und er beschloß, es auch so zu machen.

Aber er ahnte wohl, daß die Beharrlichkeit ihm fehlen würde, und um eine Parforcetrauer war es ihm nicht zu tun.

Darum ließ er sich auf dem Diwan ein Lager bereiten, damit er, wenn die Müdigkeit ihn überfiel, sich ausstrecken konnte.

Und alles ging schlafen.

Das Licht des großen Scheinwerfers lag wie ein Mittelding zwischen Sonnen- und Mondenschein auf ihrem wächsernen Angesicht.

Ein Bild möcht' ich noch machen,‹ dachte er. Nötig war es nicht, denn ihrer zwei standen schon da samt mehreren Skizzen, und gelungen schienen sie alle. Aber in ihm drängte es, nachzuholen, was er in den vielen Jahren versäumt hatte.

Er stellte die Leinwand zurecht und suchte nach einem Blickpunkt.

Da hörte er plötzlich ein Heulen, so wüst, so tierisch, daß er bis ins Innerste erschrocken emporfuhr. So hatte er einmal einen Jagdhund heulen gehört, der sich bei einem zu kurzen Sprunge auf einer Stakete aufgespießt hatte.

Und dann erst wurde er sich dessen bewußt, daß dieser Ton aus seiner eigenen Kehle gedrungen war.

Als er sich anschickte, die Hand auf der weißen Fläche spazierenzuführen, rief eine Stimme in ihm: ›Entweihe die letzte Nacht nicht durch dein fades Gepinsel. Sonst geht sie vorüber und du hast sie gar nicht durchlebt.‹

Denn von diesen heiligen Stunden so viel als möglich festzuhalten, nur darauf kam's an.

Da warf er das Handwerkszeug fort und machte sich auf die Wanderung. Um die Lorbeerbäume herum – und immer wieder herum – bald nach rechts – bald nach links, um noch aus jeglicher Richtung einen Blick auf sie zu ergattern.

Denn von morgen ab sah man sie ja eine ganze Ewigkeit nicht mehr. Auch wenn man neben ihr schlief, was hatte man viel davon? Die sogenannte »Gemeinschaft des Staubes« war ein Selbstbetrug und sonst nichts.

Und beim Wandern wurde er wirklich müde.

Drum warf er sich auf das Ruhebett, nur – um ein bißchen nach Kopenhagen zu fahren. Zum ersten Male allein. Oder doch nicht allein. Denn dort lag sie ja. Man brauchte sich nur aufzurichten, und dann hatte man sie.

In das Licht des Reflektors warf eine Schlacke manchmal huschende Dunkelheiten, oder es gab ein Zischen und Knurren wie von gespenstischen Katzen.

Man konnte einschlafen darüber, und wahrhaftig: er schlief ein! Die kostbarsten Stunden verschlief er, träumend von heulenden Hunden und zischenden Katzen.

Als er emporfuhr, drang Morgenhelle durch die klaffende Fensterwand.

Der letzte Tag brach an. Die aufsteigende Sonne, die ihn gegen die Mittsommerzeit frühmorgens in seiner Werkstatt besuchte, sah sie zum letztenmal. Sah sie mit seinen eigenen gierig trinkenden Augen.

Und wie jetzt wieder einmal jenes Hundsgeheul seine Ohren durchgellte, stieg zugleich derselbe Gedanke in ihm hoch, dem er einige Wochen vor dem Tode der Lieben angesichts ihres Gramlächelns Worte gegeben hatte.

Damals war er kein Selbstbetrug – weiß Gott nicht! – aber doch nur Ausfluß einer Augenblicksstimmung gewesen. Heute kam er als Zwang und als Schwur und als ein unentrinnbares Schicksal.

Der Gedanke: ›Wir beide gehen zusammen.‹

Ja, warum gehen wir nicht? Der Revolver lag unten. In der Schublade des Nachttisches lag er. Immer bereit.

Aber da war die »Sintflut«. Und die vier Panneaus waren da. Und noch so manche andere Pflicht – Pflicht gegen sich, Pflicht gegen sie. Denn teil hatte sie ja an allem.

›Doch bin ich fertig, dann komm' ich dir nach!‹

Mit diesem Entschlusse bewaffnet stieg er in den letzten und schwersten Tag seiner Ehe.


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