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Fünfundzwanzigstes Kapitel

Nun ging alles wieder seinen Weg.

Briefe von Susi kamen selten, und immer waren sie nur an Mammi gerichtet. Kaum daß vor dem Ende ein Gruß ihn streifte. Sie wußten von den Wundern der Neuen Welt wortreich zu berichten, einsilbig wurden sie nur, wenn es das eigene Leben galt. »Wir haben es schwer, aber es geht uns gut.« So lautete die häufig wiederkehrende Formel.

Und schließlich gewöhnte man sich daran. Nur daß Brigitte stiller und stiller wurde und den Kopf immer länger auf die Stickerei herniederneigte, mit der sie die Stunden ausfüllte, die von Rechts wegen künstlerischer Arbeit gehörten.

Aber dazu war sie schon lange zu müde geworden, und wenn Steffen sie mahnte, dann erwiderte sie: »Laß nur, mein Steffichen! Es ist genug, daß im Hause einer sich abquält, um zur Unsterblichkeit zu gelangen. Müssen's ihrer gleich zweie sein?«

Und dann wieder behauptete sie, unmenschlich viel zu tun zu haben und ewig von Dienstboten und Handwerkern gestört zu sein. Eine richtige Sammlung könne dabei unmöglich gedeihen.

Aber die geknebelte und zu Boden getretene Phantasie fand dennoch Mittel und Wege, sich zu befreien. Und ließ der Tag es nicht zu, in der Nacht durfte sie geistern gehen, soviel sie nur wollte.

Da Brigittens schwaches Herz nach stetem Ausruhen verlangte, durfte sie länger schlafen als er, und wenn er des Morgens an ihr Bett trat, dann empfing sie ihn oft mit den Worten: »Du, heut nacht hab' ich mir eine Geschichte ausgedacht.«

»Also erzähl!« Und er setzte sich auf den Bettrand. Da er aus eigener Erfahrung wußte, wie sehr es den schaffenden Künstler nach Mitteilung verlangt, nahm er sich zum Hören immer die Zeit. Nur so konnte er ihr ein weniges davon vergelten, was er in unausmeßbarer Fülle täglich von ihr empfing.

Und dann erzählte sie los.

Soviel verstand auch er von dichterischen Dingen – sie selbst hatte ihm ja die Wege dazu gebahnt –, daß er erkennen konnte: Dies war kein leeres Geschmuse, hier hatte sich kein Niederschlag des Angelesenen zu wesensähnlichen Gebilden noch einmal verdichtet, hier war Neuland, hier war Erfindung, hier hob ein jungfräulich schöpferischer Geist ureigenes Gut aus der Tiefe.

Und nicht bloß ein Gerippe von Handlung kam so zum Vorschein.

Umkleidet mit blühendem Fleische, in unversiegbarem Reichtum an blutvollem Leben jagte eine Gestaltung die andere. Und bald saß er gepackt und voll Bewunderung da und gedachte der eigenen Arbeit nicht mehr.

»Nun mußt du's aber auch sofort aufschreiben,« ermahnte er sie, wenn sie geendet hatte.

»Gewiß, sobald ich aufgestanden bin,« versprach sie. Aber wenn er sie später danach fragte, dann war etwas Wichtigeres dazwischengekommen.

Und am nächsten Morgen hieß es von neuem: »Du, Steffichen, ich hab' mir eine Geschichte ausgedacht!«

»Und was ist's mit der von gestern?«

»Ach, diese ist viel hübscher. Bitte, hör mal zu.«

Aber auch diese sank in den Abgrund des Vergessenseins, wo viele ihrer Schwestern schon lagen.

Und eines anderen Morgens: »Du, Steffichen, ich hab' mir zwölf Märchen ausgedacht.«

»Gleich zwölf in einer Nacht?«

»Nein, nein. Ich spinn' schon eine Woche daran. Aber heut ist das Dutzend voll geworden. Willst hören?«

Er hörte und staunte.

Das war kein Puppenspiel mit witzigen Belebungen gleichgültigen Kleinkrams, das war Geist von den Geistern, heraufbeschworen aus jenem dritten Reiche, in dem die naive Seele der Vorwelt Weisheit und Torheit vieler Geschlechter zu leuchtenden Mythen vereint hat. Das waren Verschlingungen uralter Formen zu nie geschauten neuen Gebilden.

Und über allem waltete ein wehmütig weltheiteres Lachen – das richtige Brigittenlachen waltete drüber.

»Um Gottes willen! Das aber darf nicht verlorengehen! Das mußt du – in den Umrissen wenigstens – auf der Stelle festlegen.«

»Ja, ja, natürlich, das tu' ich gewiß.«

Und dabei blieb es.

Wenn er später noch mahnte, erhielt er die Antwort: »Ach, das behält man auch so.« Aber schließlich schwand es dahin, wie alles andere geschwunden war, und »die zwölf Märchen« wurden eine fromme Sage, deren man im Tromholtschen Hause wie eines Merkmals schönerer Zeiten seufzend gedachte.

Jawohl, das alles ging unter, obwohl Brigitte gerade damals ein Zeugnis ihres dichterischen Könnens erhielt, wie es vollgültiger kaum gedacht werden konnte.

Reginald Naschke, der Kunsthandel und Verlag inzwischen durch alle Strömungen der wechselnden Mode in den Hafen der Wohlhabenheit gesteuert hatte, war durch ein zufälliges Wort Steffens auf die Novellen aufmerksam gemacht worden, die Brigitte während ihrer einjährigen Verbannung halbheimlich niedergeschrieben hatte, und bestand darauf, sie kennenzulernen.

Und als er das Manuskript zwei Tage lang beherbergt hatte, kam er in heller Aufregung dahergelaufen.

»Nee, das is niedlich! Da haben wir 'ne jroße Dichterin bei uns, und sie tut, als könne sie nicht bis drei zählen! Das damals hätte ja auch von einem dilettantischen Schreibefräulein sein können – aber dies hier – was is bloß aus der Frau jeworden? … Das wird dem Namen Tromholt eine neue mystische Verjoldung anjedeihen lassen … Bund zweier erlauchter Jeister … Genietum zweischläfrig einjerichtet … Noch jar nich dajewesen, zehn Auflagen garantiert … Wat sagen Se nu?«

Niemand konnte sich schämen so wie Brigitte. Und darum ging sie zur Antwort auf diese Eröffnung still aus dem Zimmer.

Sie war sich nicht bewußt, mit den fünf oder sechs Geschichten etwas besonders Gutes oder Bedeutendes gewollt zu haben, sie hatte sie niedergeschrieben – nicht eigentlich zum Zeitvertreib, das wäre zuwenig gewesen, eher um dem Stimmungsgewölk, das über ihre Seele dahinzog, eine festbleibende Form zu geben, und dann, weil die Einsamkeit zu schlichtem Gestalten gebieterisch einlud.

Sie hatten keinen rechten Anfang und kein rechtes Ende; Träume nur waren es, Wunschträume, Angstträume und Träume verarmender Liebe.

Neben jener schwindsüchtigen Haustochter, die über ihren langen Winterkuren den Zusammenhang mit der Heimat verloren hat und als Fremdgewordene den Tod in der Fremde sucht, – ein Ausgewanderter, dem in einem andern Erdteil Ansehen, Reichtum, Weib und Kinder zu eigen geworden sind, der, unerkannt heimkehrend, das Lädchen seiner Lehrlingsjahre mitsamt der harrenden Jugendliebe wiederfindet, als sei er niemals weggewesen, und der nun nicht mehr weiß, was erlebt ist, was nicht, und wo er recht eigentlich hingehört.

Und dergleichen Dinge mehr. Mit hauchzarten Pinselstrichen hingemalt. Zum Lächeln und zum Weinen. Und zum Liebhaben jedenfalls.

»Wie seltsam,« sagte sie zu Steffen, als Naschke gegangen war, »daß ich das gemacht haben soll. Ich kann mir gar nicht mehr vorstellen, wie man so etwas zustande bringt. Und es war doch so leicht. Es schrieb sich ganz wie von selber. Und scheint mir heut als ein großes Glück, während es doch nur aus Schmerzen erstanden ist.«

»Setz dich hin und mach so was wieder,« entgegnete er. »Es hindert dich niemand.«

»Kann nicht,« flüsterte sie.

»Warum nicht?« rief er scheltend. »Einfälle hast du wie Sand am Meer. Die Stoffe wachsen dir zwischen den Fingern. Und ein paar Stunden zur Arbeit erübrigst du immer.«

Sie sah ihn nur an, und dieser zagende, klagende Blick, der um Verzeihung bat, ließ etwas wie Schuldbewußtsein in ihm erwachen.

›An mir geht dies alles zugrunde,‹ dachte er. ›Und eines Tages wird nichts mehr übrig sein als ein verlorenes Leben.‹

›Aber auch mein Leben ist ja verloren,‹ dachte er weiter. ›Ist untergegangen in Hergebrachtheit und Bürgerlichkeit, während es hoch wollte zu freiem und ursprünglichem Wildwuchs.‹

Und wie jedesmal, wenn dieser Gedanke in ihm aufquoll, rannte er schweigend die Wendeltreppe hoch und ins Atelier empor, wo er sich einschloß und vor sich hinbrütete, stunden- und stundenlang.

Brigitte kannte diese Stimmungen wohl, und sie, die sonst immer zu ihm durfte, hütete sich alsdann, an seine Türe zu pochen. Im Gegenteil. Geradeso wie er verkroch sie sich und spann Pläne, wie sie ihn von ihrer Gegenwart befreien könne und wie sie dann, allein geblieben, arbeiten würde, Tag und Nacht, Tag und Nacht, bis alles das zu Papier gebracht war, was jetzt in chaotischem Wirrwarr durch den Hirnkasten jagte, um schließlich, von dem Zuviel erdrückt, wieder in nichts zu zerrinnen.

So ging es schon seit Jahren, und noch war nichts geschehen, Abhilfe zu schaffen.

Das Buch erschien, von Naschke nicht gerade splendid, aber sorgsam ausgestattet und mit einem »Bruchband« versehen, das in geschmackvoller Zurückhaltung – Naschke wenigstens nannte es so – auf den Glanz des Namens »Tromholt« hinwies, dem so höchst unerwartet ein neues Ruhmesblatt erwachsen sei.

Brigitte konnte es nicht verhindern, daß mit Vorschußlorbeeren nach ihr geworfen wurde.

Auch ließ die Beurteilung, die der Band in der Presse fand, das Tamtam, das von dem Verleger damit gemacht wurde, nicht ungerechtfertigt erscheinen. Kritiken flogen ins Haus, die des Lobes voll waren und von denen einige die Gelegenheit nicht versäumten, Steffen einen kleinen Sauhieb zu versetzen, ihm, der selber schon lange nichts mehr hervorgebracht habe, was die öffentliche Aufmerksamkeit hätte auf sich ziehen können.

Dadurch wurde Brigitte jede Freude vergällt. Sie verbarg die Ausschnitte, die ihr von einem Zeitungsbüro zugeschickt wurden, und zuletzt legte sie sie ungelesen beiseite, um sich den Kummer zu ersparen, den Ausfälle dieser Art ihr bereiteten.

Schien der Erfolg innerhalb der Literatenwelt auch noch so bedeutsam, um sie herum wurde nicht viel davon hergemacht. Kaum daß jemand, mit dem sie zusammenkam, darum zu wissen schien.

Wenn sie an den verzückten Augenaufschlag dachte, mit dem man dazumal ihre Stümpereien in Empfang genommen hatte, so wunderte sie sich, wie gering der Eindruck war, den ihr reifgewordenes Können hervorrief, und bedachte nicht, daß sie weder die hübsche Frau war, der man damals geschmeichelt hatte, noch auch die gesellschaftliche Rolle spielte, um derentwillen man sie hatte umwerben müssen. – Zudem hatte ihr langes Schweigen sie aus der Reihe derer verwiesen, die man als hoffnungsvoll im Auge behält; sie war zu den Außenseitern gerückt, die, wenn sie wagen etwas Erhebliches zu leisten, bestenfalls eine wohlwollende Verwunderung hervorrufen, die rasch wieder abflaut, um der Beschäftigung mit dem Klüngel der üblichen Marktgänger Platz zu machen. Bald gedachte man ihrer nicht mehr, und wurde unter den Literaturbeflissenen durch Zufall einmal ihr Name genannt, dann fragte wohl dieser und jener: »So, schreibt die auch?« Und ein anderer fügte achselzuckend hinzu: »Und hat's gar nicht nötig.«

Selbst die Freundinnen, die sich in regelmäßigen Abständen Rat und Zuspruch von ihr holen kamen – sie hielt für jede von ihnen einen Herzenswinkel bereit –, schienen von ihrem Dichtertume nichts erfahren zu haben. Und da ihr von nirgends her eine Ermunterung kam, so schlief bald in ihr wieder ein, was vielleicht nur eines starken Anstoßes bedurft hätte, um kraftvoll weiterzuschreiten.

Zudem traten im Hause neue Pflichten an sie heran, die ihre Tage beherrschten.

Atta hatte ihre Pensionszeit beendet und kam als sechzehnjährige Haustochter aus der Fremde zurück.

Sie war zu jener Zeit ein hochgestrecktes, glattbusiges Jungfräulein mit der strengen Nase des Vaters und den blitzfreundlichen Augen der Mutter. Von deren Farben hatte sie nichts geerbt, eher bräunlich war sie von Angesicht und konnte ganz und gar ausblassen, sobald sie sich müde fühlte. Das immer dunkler werdende Haar hing ihr in zwei artigen Zöpfen über die Schulter herab, und noch war nicht entschieden, wie sie es tragen würde, wenn sie Gesellschaftsreife erlangt hatte.

Vorläufig war daran noch lange nicht zu denken, und sie wollte auch gar nicht, o nein doch, durchaus nicht, wollte viel lieber in edler Stille den Idealen leben, die sie sackweise in sich und um sich herum aufgehäuft hatte. Noch steckte sie voll von der Weihe des Konfirmandenjahrs, die sich aber eher im Ethischen als in Gläubigkeit auswirkte und bei einem freigeistigen Einsegnungsakt zu einer Orgie von guten Vorsätzen emporgeschnellt war.

Als sie fürs Dableiben die Schwelle des Elternhauses betrat, war sie sich klar darüber, daß sie nur als Segenspenderin einen Platz darin beanspruchen konnte. Das Amt einer Priesterin schwebte ihr vor, die das heilige Herdfeuer hütet und mit keuscher Hoheit durch die ihrem Walten anheimgegebenen Räume wandelt.

Diese Hoheit fühlbar zu machen, fiel ihr nicht schwer, denn sie zeigte gern eine gewisse weltentwandte Herablassung, die mit der statuarischen Ausprägung ihrer Gestalt vorzüglich zusammenging. Und niemand, der sie mit erhobener Nase und gesenkten Lidern daher»wandeln« sah, ahnte, wie groß die Schüchternheit war, die sich dahinter verschanzte. Man konnte von ihr sagen, daß dieser ganze Hochmutsfimmel nichts weiter war, als was man in der Naturgeschichte die »Schreckstellung« nennt, eine unwillkürliche Täuschung, die keinen anderen Zweck verfolgte, als die Wehr- und Hautlosigkeit zu verbergen, die ihr das Schicksal beschert hatte.

Von »Walten« und »Segenspenden« war übrigens nicht viel die Rede. Sie kümmerte sich höchst wenig um das, was innerhalb des Familienlebens die »Wirtschaft« heißt, und versuchte sie es einmal, dann war es nicht nötig, denn Mammi hatte schon alles getan. Die Küche blieb ihr ein unbetretenes Gebiet, selbst ein plötzlicher Zweitfrühstückshunger wurde durch unsichtbare Hände schon im voraus bedacht, und hatte man in Hinsicht der Blusen oder der Leibwäsche irgend einen heimlichen Wunsch, so brauchte man nur in den Korridor hinauszugreifen, wo neben der Tür schon alles am Nagel bereithing.

So war die Ordnung geartet, die im Tromholtschen Hause von jeher geherrscht hatte und die rings um Brigitte gedieh, ohne daß sie – soweit wenigstens, als es nach außen sichtbar war – auch nur einen Finger zu rühren brauchte. Alles ging wie von selber, höchstens daß ein Scherzwort den Ehrgeiz der Dienstleute zu höheren Leistungen antrieb.

Wie vormals Mi, so war nun auch Mademoiselle von hinnen gegangen und hatte ihre arme Heimatlosigkeit in die argentinischen Pampas getragen. Hier gab es nichts mehr zu erziehen, und um das Gnadenbrot zu essen, dazu war sie zu gewissenhaft und zu stolz. Andere dienstbare Geister folgten, aber Tüchtigkeit und Gutwilligkeit blieben die gleichen, und niemand war sich darüber klar, ob bei der Auswahl Brigittens unbeirrbarer Blick oder späterhin ihr gütig bittendes Lächeln dies Wunder bewirkte.

In dieser kleinen, friedlichen Welt blieb für Attas Betätigungspläne in der Tat nicht viel übrig, und so kam es, daß sie aus ihren edlen Träumen kaum noch erwachte.

Sie wünschte zu dichten. Gut, so sollte sie dichten. »Vorausgesetzt, daß ich ihr Kleinmädchengeschnatter niemals zu hören brauche,« sagte Steffen dazu.

Sie wünschte Geige zu spielen. Gut, so sollte sie Geige spielen. »Vorausgesetzt, daß sie sich wie Susi keinen Knacks an den Leib übt,« sagte Steffen dazu.

Nur der Gedanke an Malstunden war ihm ein Greuel. Die mußten also ohne sein Wissen genommen werden. Und diese Heimlichkeit war kaum ein Vergehen, denn wenn es einmal so weit mit ihr kam, daß man ihm zeigen konnte, was vorlag, dann würde er ja eine umso freudigere Überraschung erleben.

Dreifach beseligt, dreifach zu künstlerischen Himmeln erhoben, ging sie – »wandelte« sie – wie auf Wolken dahin, koste mit ihrem Mammi, erschrak vor ihrem Papa und strahlte vor Glück, wenn er sich ulkenderweise mit ihr beschäftigte.

Aber dies geschah nicht oft. Steffen Tromholt machte sich weniger denn je mit Familiensorgen zu schaffen. Er lebte immer mehr in sich hinein, und hätte sein Wirken für die Verwaltung des Künstlervereins ihn nicht mit Kollegen und Würdenträgern in Berührung gebracht, so wäre er ein Einsiedler, ein Sonderling geworden.

Er hegte die Überzeugung, daß sein Leben »stagnierte« – oder vielmehr, da es in geistigen Bezirken ein Stagnieren nicht gibt, daß es bergabwärts ging. Und er wehrte sich auch nicht mehr.

In ihm klagte bei Tag und bei Nacht das alte Lied: Untergegangen in Ehemisere – die Freiheit verschandelt – der Glücksanspruch vertan – ein Schlappmeier geworden – nicht wert, daß die Hunde einen an … – –

Wohl war er nicht blind für die Lieblichkeit der seelischen Bilder, die ihn umgaben, wohl war er nicht taub für die Hochstimmung, die ihm aus den Gemütern der Seinen täglich entgegenschlug, auch blieb Brigittens Rat ihm stets noch von unschätzbarem Werte, aber je älter sie wurde und je mehr sich ihr Weibtum ins Matronenhafte verlor, je hoffnungsloser die Larven der immer gleichbleibenden Gäste versteinten und je schablonenhafter der Kreislauf des Jahres dahinglitt, desto grausamer wurde die Klarheit in ihm, daß niemals mehr ein Ansturm ihn durchrütteln, ein Auftrieb ihn hochreißen würde, daß er vielmehr verurteilt war, in handwerksmäßiger Tüchtigkeit dem Tode entgegenzusteuern.

Dem Tode – Gott sei gelobt! Denn außer ihm gab es nichts Erlebenswertes mehr auf der Welt.


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