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Neununddreißigstes Kapitel

Nun war alles lange vorbei!

Die Kondolierenden hatten ihre Dankschreiben erhalten, die Rechnungen waren bezahlt, Tante Pauline war von hinnen gefahren – ja, Tante Pauline, mein lieber Gott! Welch' zermürbtes Altfrauengesicht war da am Begräbnismorgen plötzlich erschienen! – und auch Atta rüstete sich, den langen Heimweg anzutreten.

Atta, ihr Kind. Als ihr Vermächtnis stand sie wie ein Marienbild an seinem Wege. Was sie ihm selber war, daran dachte er kaum.

Wenn sie an seinem Halse sich festgeweint hatte, wenn sie in jähem Erstarren mit Seheraugen die mutterlose Zukunft musterte, immer war sie ihr Kind, weich und lieb und ohne Falsch wie sie.

Ihr Mann hegte sie wie ein vom Himmel gefallenes Kleinod, und sie vergalt ihm Schutz und Sorge mit der gleichen sich opfernden Hingabe, die Steffen Tromholt an ihrer Mutter gekannt hatte.

Wie sehr sie ihn, wie sehr er sie auch lieben mochte, ihr Leben war vollgefüllt, sie brauchte ihn nicht mehr.

Und wenn er sich auf Herz und Nieren prüfte: er brauchte auch sie nicht. Er brauchte niemand auf der Welt. Alleinsein brauchte er.

Alleinsein mit seiner Toten.

Und als Atta vom Fenster ihres Abteils her, im Arme des Mannes, zu dem sie gehörte, das naßgeweinte Taschentuch zum letzten Male nach ihm herüberwehen ließ, da atmete er beinahe erleichtert auf.

Und die Glaswand, die ihn seit Wochen von Welt und Menschheit abgesperrt hatte, schloß sich noch enger um ihn.

Ja, diese Glaswand. Ein Bild nur, ein übertreibendes. Gewiß. Aber wie klar, wie sicher gab es den Zustand wieder, in dem er seine Tage lebte.

Gestalten scharten sich um ihn, drängten sich ihm entgegen, wollten Fühlung mit ihm, doch es gelang ihnen nicht. Stimmen sprachen zu ihm, Rufe der Freundschaft erklangen – oh, er vernahm sie wohl, doch ganz von weit her, und als gälten sie gar nicht ihm.

Körperlos, wesenlos waren die Lebensteilhaber alle. Ein Unsichtbares stand zwischen ihnen und ihm – mauerdick, unzertrümmerbar, und nirgends gab's einen Spalt, einen Durchschlupf.

Das war die Glaswand.

Eine alte Freundin kam. Einst – gelegentlich – hatten sie sich nahegestanden. Ach, vor Jahren schon. Eine dieser Lieben, die man wohl mitnimmt, ohne sich Gedanken zu machen, die sich aus Freundschaft zusammenballt und wieder in Freundschaft zerfließt.

Kam, weil sie glaubte, ihn trösten zu müssen. Vielleicht auch wünschte sie, für eine neue Anbandlung empfohlen zu sein. Wer kennt sich aus in den Herzen der Frauen?

Da saß sie nun, schenkte häuslich den Tee ein, streichelte ihm das Haar und hielt seine Hand.

›Ach, wenn du ahntest!‹ dachte er und war froh, als sie abzog. – –

Ein Freund kam, Kollege, Vorstandsgenosse. Oh, er hatte deren genug, wenn auch in diesem Buche nicht viel von ihnen die Rede war.

Da saß er nun, paffte Zigarren, klopfte ihn auf die Schulter und brummelte: »Man muß sich zusammennehmen, alter Kerl! Einer von beiden bleibt immer zurück. Das ist nun mal nicht anders auf Erden.«

Steffen aber krallte die Hände ins Schenkelfleisch und dachte: ›Daß ich dich nicht erwürge!‹ – –

Und Loni kam.

Sonst huschte sie unsichtbar durch das Haus. Sein Tisch war gedeckt, sein Bett war bereitet, die Pinsel waren gewaschen, fremder Besuch wurde abgewiegelt, das Telephon wurde abgestellt, – alles geschah, ohne daß er daran dachte, durch wen.

Da stand sie nun, drehte die Schlüssel und wollte reden, traute sich's aber nicht.

»Du siehst ja so anders aus, Kind!«

»Daß i net wüßt'.«

Da erst fiel ihm ein, daß ihr Trauerkleid schuld war. Es gab also eine, die Trauer trug, genau so wie er. Wer sonst noch hatte das Recht? Atta natürlich zuerst, doch die schwamm weitab auf dem Meere.

»Also was willst du von mir?«

»Ach, gnä' Herr, 's is halt z'wegn der Wirtschaft. Gnä' Frau is nimmer do –,« und da stürzten auch schon die Tränen.

Es dauerte lange, bis er erfuhr, was sie wollte. Sie sei doch nur a Dienstmadl –, und mit Geld, da kenne sie sich nicht aus, – und ob er nicht eine Dame ins Haus nehmen möcht', der sie das Rechnungsbuch vorlegen könnt' und die der Auguste angeben würd', was der gnä' Herr sich zum Essen wünscht, – denn immer bloß Kotelett und immer bloß Beefsteak – »man verhungert ja net grad bei solcherner Kost –«

Und da glitt ihr doch ein Lächeln über das dickgeweinte Gesicht.

»Geh, mein Kind,« sagte er, »du wirst soviel Geld von mir bekommen, wie du nur brauchst, wenn du mir aber noch einmal von einer Hausdame redst, dann schick' ich dich auf der Stelle nach deinem geliebten Minka zurück. Verstanden?«

Oh, sie verstand wohl und nahm mit Eifer und Umsicht die Last des schwierigen Haushalts auf ihre immer noch dürftigen Schultern.

Alles ging in wohlgeölten Scharnieren. Es war beinahe so, als sei die »gnä' Frau« noch am Leben. Loni sah er kaum je – oder bemerkte sie nicht – nur wenn ihre Kasse zu Ende gehen wollte, dann pflanzte sie sich zitternd vor ihm auf und mußte darüber getröstet werden, daß sie im Geldausgeben »a liederlich's Weibsbild« war.

Wohl freute er sich an ihr, doch ging sie hinaus, dann war sie vergessen.

Auch im eigenen Hause baute die Glaswand sich auf.

Eine vielleicht hätte sie für Augenblicke wegzuschieben vermocht, doch die hielt sich ihm fern, als fräße ein Schuldgefühl in ihr. Er aber scheute sich, den Bann zu brechen, der ihn lähmend umgriff.

Beim Begräbnis hatte er sie zum letzten Male gesehen. Aus kalkweißem Gesicht hatten die Augen ihm in leidvollgebieterischer Mitwissenschaft entgegengebrannt. Für den Bruchteil einer Sekunde nur, und gleich einer Vision war sie im Gewimmel der schwarzumflorten Masken verschwunden.

Dann kam ein Brief: »Ich nehme an, daß Du meine Zurückhaltung verstehst. Ich werde darin fortfahren, bis Du mich rufst. Aber sei sicher, daß ich zu allen Stunden mit meinen Gedanken und Wünschen bei Dir bin.«

Gedanken – Wünschen? Gab es dergleichen noch?

Und etliche Zeit darauf ein nächster Brief: »Ich fühle, Du hast Schwereres durchzumachen als mancher andere, der sein Liebstes verlor, und ich würde glücklich sein, könnte ich Dir helfen, das Leid zu tragen, von dem meine Nerven erzittern, als wär' es mein eigenes. Willst Du mich nicht in Deinem Hause haben, so komme zu mir. Und wagst Du's nicht um Deinetwillen, so tu's um meinetwillen, denn vielleicht leide ich nicht viel weniger als Du.«

Jetzt half kein Schweigen, kein Sichtotstellen mehr.

Und er schalt sich: ›Narr, der du bist. Das schönste junge Weib, das die Erde trägt, hast du zu eigen. Du aber stößt es zurück – grundlos – oder aus Feigheit.‹ – –

Ein Juninachmittag, schwerduftend von welkendem Flieder und jungerblühten Akazien – da stand er zum erstenmal wieder vor ihrer Tür.

Vibecke öffnete ihm. Sie war in Schwarz, genau so wie Loni, und das wurmte ihn etwas, als hätte man des Guten zuviel getan.

Aber Astrid selber hatte es vermieden, Trauer zu tragen. Nur das schwarze Band zum weißen Kleide bewies, daß sie wohl daran gedacht hatte, ihm nicht in Farbenfreude entgegenzutreten.

Schlank und schlicht stand sie da, der Leib ein Musterbildnis makelloser Formen, die Seele makellos wie er, denn was sie duldete und tat, was sie verbarg und offenbarte – alles war hochgesinnt und vornehm und wohl dazu angetan, daß man die Hand in ihre legte und zu ihr sagte: »Nimm mich und rette mich vor mir.«

Aber da irgendwo in den Schatten des blumengefüllten Zimmers geisterte ein Lächeln, bitterweh, zum Herzzerreißen. Und durch das Schweigen, das auf das erste, das erlösende Wort zu lauern schien, zitterte ein Flüstern: ›Wenn ich – erst – weg bin – –.‹

Nun war sie weg, die Verderberin so vieler Jahre, die »Kugel am Bein« im Galeerendienste einer unerwünschten Ehe – der Weg lag klar zu der, die ihm, dem Alternden, eine neue stolze Jugend bot, und –

Was – und?

Nichts und! Wohl legte sich seine Hand in die ihre, wohl gab's ein Sichanschmiegen und Umschlingen, wohl schien die Gemeinsamkeit des einstigen Glücks zu einem neuen – freieren – Leben zu erwachen, aber das alles war nur Ausfüllung der Schablone, willenloses Tun im Dienste des Notwendigen. Das, was im Innersten herrschend festsaß, hatte nichts damit zu schaffen.

Sie führte ihn zum Teetisch, der von Lilien und Silber leuchtete, sie schob seidene Kissen zwischen ihn und die Lehne des Sessels, sie strich ihm über das widerspenstige Haar, ganz leise, und hielt auch plötzlich inne, als fürchtete sie, ihm lästig zu fallen.

›Brigitte streichelte noch leiser,‹ dachte er. ›Und wie oft zuckte die Hand zurück, die streicheln wollte! So ängstlich hatt' ich sie gemacht.‹

Geredet mußte nun werden.

Was? Wenn er nur gewußt hätte, was.

Da machte sie der Stille ein Ende. »So wie heute habe ich oft auf dich gewartet,« sagte sie, »denn ich dachte: Endlich muß er doch kommen. Ich kann mich ja in deine Seele hineinversetzen, aber es war doch falsch, daß du nicht kamst … Daß ich dir von deinem Schmerz nichts wegnehmen wollte, das weißt du ja. Er ist mir ein Heiligtum wie dir selber … Und wie ich sie kannte, würde sie dir dieses Hiersein mit dem guten Lächeln gegönnt haben, das nur sie hatte und niemand sonst auf der Welt.«

»Bist du noch der Ansicht, du hättest ihr alles sagen müssen?« fragte er rauh.

Zögernd verneinte sie.

»Frische Trauer scheint immer ein Schuldigsein in sich zu tragen,« sagte sie, »so daß alles, was Liebe war, im Angesicht des Todes zum Selbstvorwurf wird. Ich kannte eine Frau, die beinahe in Gram darüber zugrunde ging, daß sie aus Vorsicht ihrem gestorbenen Mann nicht Zucker genug in den Tee gegeben hatte. Mit wieviel mehr Grund mußte ich so fühlen, die ich wirklich als Räuberin bei ihr einbrach!«

»Du hast ihr nichts geraubt,« entgegnete er. »Im Gegenteil! Du hast ihrer – unsrer – Ehe das einzige glückliche Jahr gebracht, das ihr beschieden war.«

»Mag sein,« warf sie hin, »daß ich dies Lob verdiene. Aber das alles hindert nicht, daß ich sie schmählich belog. Und wenn ich im ersten Schmerze nach Wahrheit schrie, so mußt du das verständlich, mindestens verzeihlich finden.«

»Ich habe nichts zu verzeihen,« erwiderte er. »Höchstens zu danken hab' ich dir – in meinem und – in ihrem Namen. Und das tu' ich aus heißem Herzen.«

Sie sagte nichts, aber als sie jetzt das Auge in das seine senkte, lag eine Spannung, eine Angst darin, die ihn selber ängstigte und verwirrte.

»Wie lebst du? Was tust und treibst du?« fragte er, um das Gespräch auf sichereren Fahrweg zu lenken.

Sie zuckte schweigend die Achseln, und ihre Mundwinkel zogen sich herab, wie in jenen Zeiten, als die Kränkung über die verratene erste Liebe ihr ganzes Wesen vergiftet hatte.

Seit langem sah er es wieder zum erstenmal. Und er fühlte erschauernd, daß er schuld daran war.

Dann aber, als ob sie schleunig verwischen wollte, was sie hatte erraten lassen, fing sie umso lebhafter von dem bunten Treiben zu reden an, in dem man um sie herum sich's wohl sein ließ.

»Natürlich ist mir nicht sehr danach zumute gewesen,« sagte sie, »all diesen Blödsinn mitzumachen. Aber zurückziehen darf ich mich nicht, denn sonst ginge mein Kreis mir verloren, und es wird ja einmal die Zeit kommen, in der auch du wieder Vergnügen daran finden wirst.«

Er lachte hell auf, so blasphemisch erschien ihm der Gedanke, in jenem seichten Gewässer noch einmal mitzuplätschern.

In banger und bestürzter Frage sah sie ihn an und vermied es, in der Folge darauf zurückzukommen.

Von ihren Sommerplänen sprachen sie.

Er wollte für einige Zeit nach Neuheide hinaus, die Arbeit an den einzulassenden Bildern unter Aufsicht zu halten. Um Brigittens willen habe es geschehen sollen, aber versprochen bleibe versprochen. Im übrigen werde keine Sonnenglut ihn noch aus dem Hause verjagen.

»Falls du wirklich rein gar nichts sonst vorhast,« sagte sie scheinbar leichthin, »wie wär's, wenn du für einige Tage oder – besser noch – Wochen nach meinem Landhaus kämst? Für die nötigen Anstandswachen würde ich sorgen und für andere Männlichkeit auch, so daß der Klatsch weder hier noch dort einen Boden fände. Nun, was meinst du dazu?«

Jene Sommertage leuchteten vor ihm auf. Hellgoldener Sand, sonnendurchsprenkelte Schatten und lichtblauer Spiegel, von roten Sonnenwolken überdacht. Dann aber wurde ein dämmeriger Winkel daraus mit enggespannten Verdüren ringsum. Und eine vertraute Stimme raunte leislockend: ›Woll'n wir 'n bißchen nach Kopenhagen fahren?‹

»Hab Dank,« sagte er. »Ich weiß wohl, wie lieb deine Einladung gemeint ist, aber ich fürchte, ich werde sie nicht annehmen können.«

Gleichsam durch ihn hindurchblickend, nickte sie zwei-, dreimal vor sich nieder, als fände sie etwas Erwartetes damit bestätigt. Dann straffte sich ihr Oberkörper wie zu einem harten Entschlusse, und in ihre Augen trat ein Lächeln, in dem eine schmerzvoll-höhnische Überlegenheit saß.

»Du irrst dich, mein Freund,« begann sie, »wenn du glaubst, dich vor inneren Bindungen hüten zu müssen.«

»Welchen Bindungen?« fragte er.

»Laß mich nur weiterreden. Sieh mal: Der Reiz und die Sicherheit unseres Verkehrens bestanden stets darin, daß wir nichts voneinander wollten. Ich fühlte mich frei, ebenso, wie du dich mir gegenüber fühltest. Nur dadurch, daß ich mein eigenes Leben weiterlebte, war ich imstande, an dem deinigen teilzunehmen … Und darin darf sich auch nichts geändert haben … Wir beide wissen nur zu gut, daß wir nie ferner waren, uns aneinander zu fesseln, als jetzt … Ich meinerseits habe an jenem ersten Eheerlebnis so übergenug, daß ich für dieses Leben gegen alle derartigen Ambitionen gefeit bin … Du aber, du Armer, hast etwas verloren, was es auf Erden zum zweiten Male nicht gibt. Für dich keinesfalls … Wem du dich auch mit etwaigen Zukunftsplänen zuwenden wolltest – ich hoffe, du wirst diesen Wahnsinn niemals begehen –, du würdest solche Enttäuschungen erfahren und so jämmerlich vorliebnehmen müssen, daß dir wahrscheinlich nur zweierlei übrigbliebe: entweder Reißaus zu nehmen oder – nun, dieses zweite brauchen wir nicht gleich an die Wand zu malen … Jetzt weißt du, was ich mit dem Worte ›innere Bindungen‹ meinte … Es ist vom Schicksal dafür gesorgt, daß es keine inneren und noch viel weniger äußere Bindungen zwischen uns gibt. Ich nehme an, du kannst mir jetzt offener ins Auge sehen. Und wenn ich dir erzähle, daß ich schon binnen kurzem für den Sommer weggehen will, und dich bitte, vorher noch einmal bei mir zu sein, so hast du nicht mehr nötig, nein zu sagen.«

Er fühlte, wie ein verworrener Schauer ihm heiß zu Kopfe stieg. Er kam sich sehr klein und sehr kläglich vor, aber zugleich fiel ein Druck von ihm ab, der – ob bewußt oder unbewußt – auf seinem Wesen gelastet hatte.

»Es ist gut, Astrid,« erwiderte er, »daß du den Mut fandst, zwischen uns Klarheit zu schaffen. Mit allem, was du aussprachst, hast du das Richtige getroffen. So muß und so wird es sein. Und wenn du mir von deiner Neigung noch etwas bewahren willst, ich werde dir dankbar sein für jeden Brocken, den du mir hinwirfst.«

Ihr Auge verschleierte sich, und ihre Kinnbacken zitterten. Sie stand auf und bot ihm die Hand.

»Ich muß leider fort,« sagte sie, nach der Wanduhr blickend, »denn ich bin für den Abend vergeben. Aber an einem nächsten Abend, da darf ich dich bei mir haben, ja?«

»Wenn du mich willst,« erwiderte er, die Schultern hochziehend, »zu Hause erwartet mich niemand mehr.«

Und dabei stieg der heiße Wunsch in ihm hoch, der altverhaßte Kerker schlüge noch einmal die eisernen Tore hinter ihm zu. – –

Fast eine Woche verging, ohne daß sie beide sich sahen. Ein paar Male hatten sie freundlich miteinander telephoniert, nach Stimmung und Arbeit gefragt und sich gute Nachtruhe gewünscht, dann meldete Astrid ihren Wunsch an, ihn am morgigen Abend bei sich zu sehen.

Er freute sich nicht gerade darüber, aber eine gewisse Spannung erwärmte ihn doch.

Die hohe Zeit des Jahres war's. Nacht wurde es kaum noch. Die Rosengehänge brannten in rotem Feuer. Liebe lag in der Luft. Man sog sie ein mit jedem Atemzug. Selbst durch die Poren drang sie rieselnd in den lustgequälten Leib.

Vibecke wartete vor der geschlossenen Haustür, denn acht Uhr war vorüber. In dem Lächeln, mit dem sie ihn grüßte, lag etwas, das ihm fatal war.

Astrid hingegen empfing ihn mit ernster Zurückhaltung. Wie einen fremden Gast empfing sie ihn, und er wußte ihr Dank dafür. Ihm war, als hätte er Angst vor jeder Vertraulichkeit.

Heute hatte sie Farben nicht verschmäht. Ein klares Gewand, in großen mattblauen Blumen gemustert, sank, kaum gegürtelt, bis über die Kniee herab. Da war die Griechin wieder, die er einstmals in ihr erblickt hatte.

›Ist das Weib schön!‹ dachte er, die zartwellige Hochgestalt musternd, die im Abenddämmer vor ihm stand, und der Leere entstieg ein Matronenleib, schwammig und zusammengehalten durch stählerne Stangen.

Oh, wie liebte er diesen Matronenleib! –

Der Vorhang, der das Speisezimmer verbarg, wurde beiseite gezogen. Goldfleckiger Glanz brach herein. Die große Krone, die Astrids Festen zu leuchten pflegte, lag dunkel, aber die Messingblaken brannten die Wände entlang, und auch von der Decke tropfte Lichtschein herab.

In all diesem Leuchten stand der blumenbeladene Eßtisch.

Blutrote Rosen in silberner Schale getürmt und durch Ranken mit den Rosen verbunden, die das Tischtuch bedeckten. Als man sich den Plätzen näherte, war's, als solle man untertauchen in diesem Rosenmeer.

Er gab seiner Bewunderung geziemenden Ausdruck und dachte dabei: ›So war's in Neuheide manchmal, wenn sie die Tafel geschmückt hatte.‹

Und weiter dachte er: ›So blutrot hob sich der Rosenbusch zwischen ihr und mir an jenem Abend, als ihr Sohn in den Tod ging.‹

Das Essen kam. Ganz dänisch heute. Eine Aalsuppe machte den Anfang, wie man sie ähnlich in Hamburg findet. Oh, man aß gut bei Astrid. Das wußte ein jeder, der jemals an ihrem Tische gesessen hatte.

Und so ging's weiter bis zu den »Jordbaer med Floede«, obgleich für Erdbeeren die Zeit längst vorüber war. Weiß Gott, wo sie sie her hatte und die Sahne erst recht, die so bloß auf Neuheide zu haben war. –

In ihm dehnte sich ein Wohlgefühl, das er längst nicht mehr kannte und das nur ab und zu von einem Schauer wachsamer Unruhe durchbrochen wurde.

Bald zwei Monate schon lag Brigitte unter der Erde, und seit Atta fort war, hatte er mit keinem lieben Menschen mehr zu Tische gesessen.

Gesprochen wurde wenig. Es schien, als wolle sie ihm Zeit gönnen, sich von neuem in ihr zurechtzufinden. Die Gemeinsamkeit, die heut ihren Anfang nahm, bedeutete mehr als alles, was sie bisher miteinander verknüpft hatte.

Hier war, was ihm fehlte: Zärtlichkeit, Verstehen, Hingabe – nicht wie Brigittens Hingabe, die ihm willenlos verfallen gewesen von Anbeginn – ein freies und stolzes Sichverschwenden vielmehr, das Freiheit und Stolz des Schenkenden wie des Beschenkten wahrte und mehrte. Hier blühte ihm ein Ausruhen vom Schmerze, vielleicht ein wehmütiges Vergessen sogar, das um Gottes willen keine Untreue barg, sondern nur dem Leben gab, was es nun einmal verlangte.

Zögernd, in scheuer Frage, glitten beider Blicke aneinander vorbei, und ein ahnendes Lächeln ließ die Lippen erstarren.

Als sie aufgestanden waren, sagte Astrid: »Wir wollen den Kaffee draußen auf dem Gartenbalkon trinken. Dort haben wir Dunkel und Stille.«

Damit legte sie ihren Arm in den seinen und führte ihn nach den hinteren Räumen, in denen er kaum jemals gewesen war.

Efeu, in Kästen gezogen, wölbte sich zu einer verschwiegenen Laube, wie sie dem Steinmeer nur eben entsteigen kann, und gleich einem Eiland darin dehnte sich, von Mauern umbrandet, schwarzes Buschwerk zu ihren Füßen.

Ab und zu belferte noch eine Amsel, ein Wachtposten vielleicht gegen streifende Katzen, und – ob nun in Freiheit oder im Käfig – eine Nachtigall war auch da und sandte ab und zu, von Sehnsucht gepeinigt, ein kurz abbrechendes Flötengetön in die Nacht.

Vibecke hatte den Kaffee gebracht und war dann verschwunden. Die Zigaretten funkten und gossen bei jedem Lufteinziehen einen rötlichen Schein über Mund und Wangen bis nach den Augen empor.

So konnte er ab und zu in ihrem Gesichte lesen und fand den Blick mit demselben leidvoll-gebieterischen Wissen auf sich gerichtet wie damals, als sie beim Begräbnis gleich einer Erscheinung an ihm vorübergezogen war.

Und von der Stunde des Begräbnisses wanderten die Gedanken weiter zurück zu jener Nacht, da er vor dem entseelten Leibe die letzte Wache gehalten hatte, ein Heulen klang ihm im Ohr, dem er voll Grauen entfloh – zurück und immer weiter zurück.

»Wenn ich erst weg bin – –« so hatte sie damals gesagt.

Und in ihm schrie's: ›Nein, du bist nicht weg. Du bist da – bist bei mir – und wirst bei mir sein bis ans Ende meiner Tage.‹

Was half's, daß Liebe in der Luft lag! Daß Liebe ihm mit jedem Atemzug ihren glühenden Anhauch bis in das Herz hinuntersandte! Daß Liebe in schmerzhaftem Ziehen an seinem Marke entlanglief!

›Wenn ich erst weg bin! Wenn ich erst weg bin!‹

Da kam aus dem Dunkel Astrids Stimme: »Darf ich dir noch eine Tasse einschenken?«

»Danke, nein.«

»Sieh, Lieber! Ich möchte dich so gerne von deinen Gedanken losreißen, aber ich weiß nicht mehr, wo ich einsetzen soll. Du gibst keine Antwort, was ich auch frage. Ich fürchte, Steffen, du bohrst dich da in eine Empfindung hinein, von der du nicht mehr leicht loskommen wirst.«

»Mag sein, Astrid! Was kann man dagegen tun?«

»Man kann in die Welt hinausgehen. Man kann seine Freunde aufsuchen. Man kann –.« Sie stockte.

›– bei seiner Geliebten sitzen,‹ ergänzte er im stillen, und laut sagte er: »Man kann vor allem arbeiten, und das tue ich und werd' ich weiter tun … Dagegen hat auch die Glaswand keine Macht.«

»Welche Glaswand?« fragte sie.

Da erzählte er, was es damit für eine Bewandtnis hatte und wie er auf Schritt und Tritt von ihr umgeben sei.

»Auch in diesem Augenblicke?«

»Auch in diesem Augenblicke,« erwiderte er, ohne sich klar zu werden, welche Grausamkeit er beging.

Astrid schwieg und rührte sich nicht – minutenlang. Dann stand sie auf und schritt langsam in den finsteren Innenraum. Eine jenseitige Türe klappte.

Wie lange Steffen allein blieb, wußte er nicht. Eine Ewigkeit jedenfalls.

Endlich trieb die Sorge ihn empor. Er tappte ihr nach, ging durch den matterhellten Korridor, an der Küchentür vorbei, hinter der die Mädchen klapperten und schwatzten, in das Speisezimmer hinein.

Alles dunkel und leer. Auch in den Wohnräumen war sie nicht.

Da, wie er die Tür zu ihrem Schlafzimmer öffnete, fand er sie im Schein der Nachttischlampe vor dem goldgeflochtenen Bette knien, in dem sie manches liebe Mal an seiner Seite gelegen hatte, den Kopf in die Kissen gedrückt und so jammervoll schluchzend, daß ihr Körper wie im Krampfe sich schüttelte.

Hinter sie tretend, umfaßte er sie und versuchte, ihren Kopf emporzuziehen, aber nur umso tiefer wühlte sie ihn in das Bettzeug!

Niemals im Leben hatte er sie so unbeherrscht gesehen.

Doch dann ermattete langsam ihr Widerstand. Während er auf dem Bettrande neben ihr saß, machte sie, immer noch kniend, dem Kopf auf seinem Schoße einen Platz zurecht, ihr Körper zuckte nur wenig noch, Wellen der Beruhigung durchstrichen ihn mit jedem Atemzug.

»So kannst du nicht bleiben,« sagte er zu ihr hernieder. »Versuche doch aufzustehen!«

Da ließ sie sich von ihm hochheben und zu dem Diwan führen, der sich an das Fußende des Bettes lehnte, und als er sie bat, sich auszustrecken, folgte sie ihm gehorsam.

»Verzeih mir!« sagte sie leise und mit geschlossenen Augen. »Es ist nicht meine Gewohnheit, mich gehen zu lassen … Aber es hat mir gut getan … Ich habe – seit ich sie oben im Sarge sah, keine Träne mehr geweint … Und jetzt – bin ich – sehr – müde … Ich glaube, ich könnte – einschlafen.«

Und als er sich daraufhin anschickte fortzugehen: »Nein, nein – du mußt noch bei mir bleiben … Nimm dir einen Stuhl und setze dich zu mir … Wenn du mir die Hand – auf die Stirn legen willst, wird mir sehr wohl zumute sein.«

Er tat nach ihrem Gefallen, und – siehe da! – ihre Atemzüge wurden länger, ihr Körper dehnte sich, und bald schlief sie wirklich.

Er löste sich von ihr und betrachtete sie.

Die gelbumschirmte Nachttischlampe sandte ein dämmriges Goldlicht über sie hin.

Den Kopf im Arm, das Antlitz gleich dem der Giorgioneschen Venus – so lag sie da, und in ihm schrie es nach Leinwand und Farben.

Dann aber war sie es nicht mehr, die er vor sich sah. Sie hatte sich in Brigitte verwandelt, jene Brigitte, die einst jung und schön an seiner Seite geschlummert hatte.

Eine eigentliche Ähnlichkeit bestand freilich nicht. So stolz und regelmäßig waren Brigittens Züge nie gewesen, und ihr glattsträhniges Haar, das erst durch die Brennschere zu einem lichten Gekräusel wurde, hatte mit diesen dunkeln, königlichen Wellen nichts gemein.

Und dennoch! Was hier lag, war ein Stück von Brigitte. Ihre Ergänzung, ihr Gegenbild, ihre Vollendung war es. Was ihr vielleicht fehlte und immer gefehlt hatte, oder was untergegangen war in Alter, Unform und innerer Verkümmerung, durch ihn verdumpft, durch ihn zertrümmert, das hatte ihm diese als Geschenk ihres Körpers und ihrer Seele entgegengetragen, zugleich mit der Freiheit, die ihm durch die Ehe geraubt worden war.

Darum hatte er sie geliebt, darum war er mit ihr glücklich gewesen – und nicht nur mit ihr, mit Brigitte noch mehr, die nun erst, da er alles besaß, dessen Mangel er ihr so lange als Schuld hatte aufbürden können, zu ihrer vollen Notwendigkeit hochstieg.

Ein Jahr des Glücks, ein Jahr von so vielen.

Nun war es dahin, und kein Selbstbetrug, kein noch so gewaltsames Mühen konnte es aus dem Nichts wieder herausgreifen.

Wahrlich, was hier lag, warm und tiefatmend und venushaft, war ein Stück von Brigitte, war gestorben mit ihr und geisterte nur noch in seinem Leben herum, weil es vorgab, ein Eigenes zu sein und Fleisch und Blut zu besitzen.

Aus dem Geschlecht jener Braut von Korinth schien es zu stammen: war aus nächtigen Schatten zusammengeballt, um beim ersten Morgengrauen in Nebel und Licht zu zerfließen.

Die Schlafende seufzte hell auf. Dann zogen ihre Mundwinkel sich tief herab, wie es jetzt öfters geschah, beinahe so oft wie damals, als er sie aus dem Brunnen ihres demütigenden Leids emporgeholt hatte.

Um sie jetzt von neuem hinunterzustoßen!

Dies schöne, hochgemute Menschenwesen, das sich ihm anvertraut hatte mit allem, was es war, das ihm sein junges Leben vor die Füße warf, ihm, der nichts mehr zu bieten hatte als ein welkendes Alter und einen welkenden Ruhm, das sollte zum Lohne dafür von ihm genau so mißhandelt werden wie von jenem engstirnigen Snob, der sich eine Jugendverirrung ruhig gefallen ließ, bis er sie zum Anlaß nehmen konnte, die mißliebig Gewordene aus seinem Leben zu streichen.

Welch ein Frevel! Welche Unmenschlichkeit!

Aber was half's! Als Gespenst seines Glückes, wie sie heute neben ihm lag, so würde sie immer neben ihm liegen.

Ihn fröstelte, und in ihm stieg die Gewißheit auf, daß es keine Liebesstunde mehr geben würde, die er von Astrid geschenkt nehmen durfte.

Abschiednehmend streichelte er sie über Wangen und Haar.

Sie aber griff im Schlafe nach seiner Hand und lächelte friedlich.


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