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Spätoktober!
Noch nie war Steffen um diese Zeit in Neuheide gewesen. Sobald die Tagundnachtgleiche kam und die Herbstregen ihre grauen Vorhänge herabzulassen begannen, hatten er und Brigitte die Koffer gepackt, um sich in Berlin für den Winter heimisch zu machen.
Diesmal aber, da er allein war, verlangte es ihn, sich bis tief in den Herbst hinein dort zu vergraben. Anderen – und ein wenig sich selber wohl auch – redete er ein, es geschähe um wichtiger Studien willen, die Wahrheit aber sah anders aus. Soviel Entschlußkraft hatte die Nähe Brigittens ihm doch noch geschenkt, daß er es über sich brachte, der Gefahr, die das Alleinsein mit Susi in sich trug, solange es ging, zu entweichen.
Später mochte werden, was wollte; vorläufig galt es, zu sich selber zurückzukehren, um aus dem oft erprobten Lebenstrotz den nötigen Widerstand zu gewinnen.
Das wurden wilde, einsame Wochen.
In dem großen, dunkeln Hause war er der einzige Insasse, denn der Wirtschaftsflügel lag weit ab und war nur durch eine Tür, die häufig verschlossen blieb, mit den Wohnräumen verbunden.
Die Stunden des Lichtes gehörten der Arbeit, das verstand sich von selbst. Motive von unerhörter Herrlichkeit brachte jeglicher Tag. Man brauchte nur den Pinsel auf Pappe und Leinwand spazierenzuführen.
Gelbscheckige Mauern bauten sich auf, purpurne Draperien hingen dazwischen, und goldene Kuppeln wölbten sich bis ins Blau der vernebelten Ferne.
Schöner fast noch war der Nebel selber – wenn im einfallenden Sonnenlicht die Büsche und Baumkronen wie kleine und große Feuersbrünste aus Rauchschwaden hervortauchten, so verwaschen und beweglich im Umriß, daß sie zu flackern und zu züngeln schienen, als wären sie wirkliche Flammen.
Da gab es Feste für Auge und Hand, und schlaffes Träumen wäre Verbrechen gewesen.
Umso schwerer lastete der immer länger werdende Abend. Gegen sechs wurde es Nacht, und ob man sich die Zeit noch so sorgsam mit »Regieren« verkürzte, sich Rechnungen vorlegen ließ und mit scheinbarem Eifer die Pläne für kommende Ernten beriet, – wenn um acht das Abendessen erledigt war, dann gab es nichts mehr, das einen mit Welt und Menschheit verband.
Dann begann das Wandern von Raum zu Raum. Überall brannten große eiserne Ofen, die durch ihre Marienglasfenster einen glutroten Dunst ausstrahlten, in dem Decke und Mauern, Treppen und Hausrat zu gespenstischem Dämmer verschwammen. Durch diesen Dunst glitt man dahin, wie von einer Feuerwolke getragen. Alles Irdische sank zurück. Aufgelöst in wohligem Rausch und hoffender Ahnung, einem, der Opium raucht, höchst ähnlich, sog er das Gift dieser Ekstasen in sich hinein und wanderte Stunden und Stunden lang – in der Halle kreuz und quer – die ächzenden Treppen hinauf und herunter – die dröhnenden Korridore entlang – immerzu. In den Winkeln kauerte die Finsternis wie ein sprungbereites Tier, und wo ganz hinten ein Fenster den Abschluß bildete, glotzte der Mondschimmer ihm wie ein weißes Auge tückisch entgegen.
Das waren Stunden! Niemals hatte sein Leben dergleichen aus sich herausgewälzt. Niemals hätte er es für möglich gehalten, daß er vom Wege gesunder Daseinsgestaltung so weit würde abirren können.
Aber diesen Gedanken stieß er zurück. Nur Jauchzen und süße Angst, nur Hochflug in selige Höhen sollte sein Wesen regieren.
Daß hinter dem allem ein frevlerisches Wollen steckte, das wußte er wohl, und wenn er es nicht gewußt hätte, so würde der Bilderwirbel es ihm gesagt haben, dessen hitzige Narretei unablässig an ihm vorüberschoß.
Einsamkeit hatte den Unfug großgezogen, aber der Liebe war er entsprungen.
Manchmal blieb er vor einem der glühenden Ofenroste hocken und starrte durch das Glas in die gesättigten Flammen, zumeist aber wankte er umher, bis es zwölf schlug, bis es eins schlug oder auch zwei.
Dann kroch er mit brennenden Augen und überwachem Hirn unter das Deckbett und lag so grübelnd und in Träumen schwelgend bis an den Morgen.
An Brigitte schrieb er fast täglich, wie sie auch an ihn. Das war jetzt, ohne je abgemacht zu sein, Gewohnheit zwischen den beiden. Und so flogen die Briefe hin und her wie zwischen zwei Jungverliebten.
Wohl hütete er sich, über seinen wahrhaften Zustand irgend eine Andeutung zu machen. Nur von der Arbeit des Tages schrieb er und der Schönheit des nächtlichen Wanderns.
Und doch mußte er hie und da nicht vorsichtig genug gewesen sein, oder die Kenntnis seiner Natur hatte sie richtig geleitet, kurzum, sie begann in Sorge von seiner Lebensführung zu sprechen, ermahnte ihn, sobald als möglich nach der Stadt zurückzukehren, und schickte Schlafmittel, die sie sich selber abgespart hatte.
Und als das alles nichts half, was geschah da?
Eines Nachmittags hielt ein Mietgefährt vor der Terrasse.
Sie, der er hatte entrinnen wollen, die er weniger als irgendwen in der Welt an seiner Seite brauchen konnte und die er doch am heißesten herbeigesehnt hatte – Susi war zu ihm gekommen.
Mammi habe ihr geschrieben, so erklärte sie höchst unbefangen, daß der arme Papa sich augenscheinlich nicht wohl befinde und daß sie darum die Pflicht hätte, ihre Stunden bis auf weiteres schießen zu lassen und ihm Gesellschaft zu leisten. Und nun sei sie da und gehe nicht früher fort, als bis er selber gehen würde.
Um Gottes willen, was nun?
Höchst einfach. Zähne zusammenbeißen und den liebenden Vater weiterspielen. Alles andere stürzte ihn und sie in den Abgrund.
Welch neues Sammelsurium von Nöten jeglicher Gattung, von Hoffen und Fürchten, von Seligkeit und von Qual!
Wie ein Verdürstender an einem umgitterten Quell, so hing er an ihren nichts verstehenden Augen und zuckte zurück, wenn nur der leiseste Schimmer eines Befremdens sich darin zeigte. Denn gerade das, wonach er als dem Nächstliegenden am wildesten verlangte: daß ihr für alles, was in ihm vorging, ein Verständnis aufdämmern möchte, das mußte am ängstlichsten verhütet werden.
Wenn sie sich schaudernd von ihm wandte, wenn sie der Mutter schrieb: »Nimm mich fort, ich bin im Elternhause meines Lebens nicht sicher!« – was dann?
Bis auf weiteres hatte er sich fest in der Hand. Seine Augen bettelten nicht, seine Rede wahrte die väterliche Bestimmtheit, und zudem hielt beide die Arbeit in Bann.
Während er morgens mit seinem Malzeug nach dem Parke hinauszog, hörte er schon vom Oberstock her die Tonleiter und Etüden, mit denen sie ihre Gelenke einölte.
Aber soviel hatte sie doch schon von ihrem Mammi gelernt, daß sie ihm zum zweiten Frühstück glühheiße Bouillon heruntertrug und dem beiseitegeworfenen Fußsack wieder zum Rechte verhalf.
So ging der Tag in scheinbarem Frieden dahin.
Erst mit dem Abend kam die Gefahr.
Wenn die Leute das Tafelgeschirr weggeräumt und gute Nacht gewünscht hatten, dann begann in den weiten Räumen der herzzuschnürende Spuk des Miteinanderalleinseins.
Die stahlblanken Öfen, die dastanden wie geharnischte und feuerspeiende Männer, warfen ihren Rotdunst noch gespenstischer in das dickflüssige Dunkel. Und wenn in die Totenstille hinein ruckweise das Prasseln der zusammensinkenden Kohlen drang, dann war's, als wenn versunkene Jahrhunderte schwertklirrend wieder lebendig wurden.
Und weil die Tischlampe nur einen kärglichen Schein gab, dessen milchige Blässe gegen den Feuergleisch nicht aufkommen konnte, so rückte man gerne so nah als möglich an sie heran und schob sich zusammen in zärtliche Enge, um gemeinsam der Verwunschenheit dieser Welt standhalten zu können.
Man las in demselben Buche, man besah gleichzeitig dieselben Bilder, und wenn man müde geworden war, schlief man auch Schulter an Schulter und Schläfe an Schläfe allmählich ein.
Oder vielmehr: sie schlief ein. Steffen hingegen ließ sie sich festnesteln, bis ihr Kopf warm an seinem Halse hing, und fühlte sich glücklich, ihre Wange streicheln und auf ihre Stirn leise Küsse streuen zu dürfen.
Das war ganz anders als zu Sommerszeiten im dämmerigen Park. Bewußte Zusammengehörigkeit war's, weiches Sichgeben war's und ein Geständnis williger Neigung.
Und wenn sie wieder erwachte, um nun in Wirklichkeit schlafen zu gehen, dann schlang sie wohl die Arme noch enger um seinen Nacken und küßte ihn auf den Mund, wie es seit Kinderzeiten nicht mehr geschehen war.
Aber der richtige Kinderkuß war es auch jetzt, nur ihm rieselte er wie heißer Wein durch die Glieder. Und wie gelähmt von seiner Macht sank er wohl rücklings gegen die Wand, so daß sie, ängstlich werdend, nun ihn zu streicheln begann.
»Was ist dir, Papa? Was hast du, Papa?«
So ging ihr liebkosendes Fragen, bis er sie von sich schob und mit einem schroffen »Gut' Nacht« dem Beieinander ein Ende machte.
Aber dann stand er noch lange vor ihrer Schlafzimmertür. Nichts hinderte ihn, sie zu öffnen. Verriegelt wurde sie nie. Weshalb auch? Er war ja ihr natürlicher Schützer, und Vorwände einzutreten gab es in Fülle. Doch die brauchte er nicht einmal. Der Wunsch, sich auf ihren Bettrand zu setzen und ihre Hände zu halten, genügte vollauf.
Aber diese Tür wurde niemals geöffnet, mochte er auch auf seinen Wanderungen durch das nächtliche Haus – denn die begannen nun erst – noch oft genug an ihr vorüberkommen.
So ging das selig-unselige Spiel wohl gegen zwei Wochen lang, da trat Susi eines Tages mit der Vormittagspost zu ihm heran und sagte: »Papa, ich hätt' eine große Bitte an dich.«
»Die wäre?«
»Der Sokolow hat mir geschrieben, daß er Aussicht auf eine Kapellmeisterstelle hat in einer Stadt, weit hinten im Innern – und da er dann nicht mehr wiederkommen würde, so möchte er mir gerne Adieu sagen. Um dir nicht lästig zu fallen, will er auf der Station einen Zug überspringen, aber ich denke, anstatt, daß ich dort im Wartesaal mit ihm 'rumsitze, wär' es richtiger, ich lade ihn hierher ein. Willst du erlauben, daß ich das tue, und willst du ihn auch abholen und wieder zurückbringen lassen?«
Ein schneidendes Wehgefühl stieg in ihm auf. ›Das ist er,‹ schrie eine Stimme ihm zu, ›das ist er, der sie mir wegnehmen wird.‹
Aber er hütete sich wohl, von seiner Eifersucht etwas merken zu lassen.
»Deine Freunde sind meine Freunde,« erwiderte er. »Und wenn er länger bleiben will, soll es mir auch recht sein.«
Sie bedankte sich mit gemessener Freude, aber den letzten Gedanken wies sie weit von sich.
»Der arme Junge ist ja so stolz,« sagte sie. »Die bloße Möglichkeit, lästig zu fallen, würde ihn schon zum Hause hinausjagen.«
Damit ging sie, dem Freunde den Einladungsbrief zu schreiben.
Zwei Tage später kam er an. Es war wohl zu bemerken, daß Susi sich sorgsam herausgeputzt hatte, aber Steffen tat, als nähme er von dem Besuche nicht viel Notiz, bat, ihn mit seiner Arbeit zu entschuldigen, und fand sich erst wieder ein, als die Mittagssuppe schon auf dem Tische stand.
Sein Erinnern hatte ihn nicht getäuscht. Dürftig war der junge Mann, schmalschultrig und blaß, mit einem Paar unwahrscheinlich schöner Augen in dem schlecht rasierten Gesicht. Dazu befangen und linkisch, wie Steffen das freilich oft erlebte, wenn man als Fremder ihm, dem berühmten Manne, entgegentrat.
Umso liebenswürdiger versuchte er, ihn näher an sich heranzuziehen, erkundigte sich nach seinen Aussichten und brachte seine Glückwünsche dar.
»Ssoweit iest leiderr noch niecht,« sagte der junge Mann mit einer weichen, traurigen Stimme. »Iech bien nurr als Bewerrber geladenn. Man vergietet mir die Reisekostenn und nimmt mich aan oder schiekt mich wieder zurick.«
»So hätten wir also zu hoffen, daß man Sie nicht annähme,« sagte Steffen, die Höflichkeit des Hausherrn übersteigernd. Und dabei schien es ihm, als ob ein leises Beglücktsein Susis Lippen umspielte.
Dann forschte er ihn weiter aus, immer mit dem Hintergedanken, von den Möglichkeiten einer Verbindung mit Susi etliches zu erfahren.
Aber nichts weiter kam zum Vorschein, als daß er ein armer, zwanzigjähriger Bursch war, ohne Hilfsmittel und ohne Gönnerschaften, mit seiner Familie zerfallen und ganz auf seine Begabung angewiesen, für deren baldige Verwertung nur geringe Aussicht bestand, denn auch der Platz, der ihm winkte, hing vorläufig noch in der Luft.
Dies alles beruhigte Steffen ein wenig, und als er nach Tische die beiden allein ließ, durfte er sich glauben machen, daß hier nichts als eine belanglose Jugendfreundschaft vorlag, wie deren ein jedes Mädchenleben ein halbes Dutzend aufzuweisen hat.
Nach dem Vespertee aber änderte sich das Bild.
Susi – offenbar in dem Bestreben, ihren Gast in eine möglichst günstige Beleuchtung zu stellen – sagte, als man von Tische aufstand: »Ach lieber Papa, willst du nicht Herrn Sokolow bitten, daß er uns etwas vorspielt? Ich habe ihn schon gebeten, aber er fürchtet, es werde dich langweilen.«
Mit lächelnder Dringlichkeit tat er, was sein Hausherrntum ihm gebot.
Susi räumte in Eile den Flügel ab, auf dem allerhand italienische Bronzen herumstanden, denn sie selbst spielte sonst auf dem Klavier, das in ihrem Zimmerchen stand und das sie bei ihrer Rückkehr ins Elternhaus zum Geschenk erhalten hatte.
Der Deckel ging hoch, und nun saß Herr Sokolow da, ließ die langen Spinnenfinger auf den Tasten ruhen und machte Augen wie ein Heiland, der sich anschickt, Wunder zu tun.
Mit Chopin begann er. Das süße Gezwitscher der »Fantaisie« schmeichelte sich in Steffens Ohr, doch so etwas konnten andere wohl auch. Dann kam Tschaikowsky an die Reihe. Steffen erkannte ihn nicht, aber Susi flüsterte ihm den Namen entgegen. Bärbeißiges Heldentum und hinschmelzende Schwermut woben sich bunt durcheinander.
Doch dann – was war das? Was kamen da für Töne aus dem Kasten geflogen? Das war nicht Chopin, das war nicht Tschaikowsky – das war kein Moderner und kein Klassiker – slawisch war es und war es auch nicht – vielleicht einer von den Neuesten, die aus Naturlauten, aus Meer und Wind und Wald, eine unwahrscheinliche Klangwelt hervorgeholt hatten.
Steffen schaute fragend nach Susi hinüber. Die saß dicht vor dem Fenster und schaute verträumt, verzückt in die Wolken des Abendhimmels.
Da wußte er: das war von ihm. Und sie wußte erst recht, daß es von ihm war.
Ein wilder Neid zischte in ihm empor und sank überwältigt zu jäher Verzagtheit zusammen.
Wer solche Waffen sein eigen nannte, mit dem war schwer zu kämpfen, besonders wenn man am Rande der Fünfzig stand und nichts als Vaterrechte beanspruchen konnte.
Und derweilen gingen die mystischen Klänge weiter ihres Wegs. Der tote Kasten flötete und sang mit Menschenodem und Menschenstimme.
Und der davor saß, wußte augenscheinlich nicht mehr, wo und wer er war. Er sah aus wie ein Geist, der sich vom Körper gelöst hat und bereit ist, pfingstlich gen Himmel zu fahren.
›Was sind wir Malmenschen für ein elendes Viehzeug, verglichen mit den Göttern der Töne!‹ dachte Steffen.
Aber auch diese Göttlichkeit nahm ein Ende.
Der Spieler stand auf und war nun wieder Herr Sokolow, der arme, kleine Herr Sokolow, der nach dem Osten fuhr, sich um eine Kapellmeisterstelle zu bewerben.
Susi aber starrte noch immer grellen Auges ins Leere.
Schon vor dem Abendessen fuhr er ab, wiewohl sein Zug erst spät in der Nacht vorüberkam. Es war, als könne er nicht rasch genug den Staub des Orts von seinen Füßen schütteln, dessen Gastfreundschaft er notgedrungen einen halben Tag lang hatte erdulden müssen.
Und während die alte Zweisamkeit wieder begann, saß der ferne Gast als Dritter unsichtbar zwischen ihnen.
Mit gewundenen Fragen stöberte Steffen in Susis Seele herum, doch was er erfuhr, war nicht der Rede wert. Ihr Freund fühle sich von langem Darben und übermäßiger Arbeit schwer erschöpft, und daß die Annahme eines so schweren und verantwortungsreichen Postens ihm gut tun würde, sei kaum zu erwarten.
»Wenn er aber hier nichts zu leben hat?« erwiderte Steffen, als könnte er ihn mit diesem Einwande fernhalten.
»Ein Genie wie er geht nicht unter.« Und in ihren Augen erglomm eine Flamme, ganz ähnlich der, die vorhin sein Antlitz verklärt hatte.
»Genie, Genie!« spottete Steffen. »Bei euch ist jeder zweite Mann ein Genie, und schließlich wird ein tüchtiger Klavierlehrer draus.«
Sie hob den ehrlichen Blick voller Staunen zu ihm empor.
»Hast du denn nicht gespürt, daß er eins ist?« fragte sie.
»Kann ja sein,« erwiderte er. »Um zu wissen, was Eigenes ist und was von anderen stammt, dazu verstehe ich zu wenig von eurer Kunst. In der unseren ist man sparsamer mit diesem Titel. Ja, eigentlich gibt es nicht einen der Lebenden, dem man ihn nachwirft, und trotzdem fährt sie nicht schlecht dabei.«
Sie schwieg vor sich hin, und er schämte sich, daß er sich und seine Persönlichkeit mit jenem jungen, nichts bedeutenden Burschen in Konkurrenz gestellt hatte. – –
Die Tage gingen hin, und die Eifersucht wühlte weiter.
Wohl verlor sich das verträumte Starren allgemach aus Susis Angesicht, aber die alte war sie ihm darum noch lange nicht.
Sie hielt sich ohne Abwehr, doch in bescheidener Gelassenheit von ihm zurück; sie schlief nicht mehr an seinem Halse ein, und wenn sie ihn liebkoste, lag ein verstecktes Gönnertum darin – so wenigstens schien es ihm – und sein Herz zog sich schmerzhaft zusammen.
Aber dann kam ein Tag, der sie in vollem Zutrauen wieder vereinte.
Steffen hatte ein großes Parkbild fertiggemacht, in dem er die Wunder verflatternder Herbstlichkeit als leuchtenden Traum gerade noch eingefangen hatte.
Er dachte an jene liederliche Landschafterei gleich nach der Hochzeit, und wie ihn Brigitte mit tastendem Instinkt auf den richtigen Weg zurückgeführt hatte, – da trat Susi herzu, um ihn zu dem üblichen Gang durch die Dämmerung abzuholen.
In froher Bewunderung schlug sie die Hände zusammen.
»O Gott! Ist das schön! Ist das schön!« jubelte sie.
»Siehst du,« sagte er, »man kann etwas leisten, auch ohne daß man Genie ist.«
Bestürzt, beleidigt beinahe, ließ sie den Kopf hochfahren. »Wenn du keines bist, wer ist es dann sonst?«
»Ein Arbeiter bin ich, ein Handwerksmann bin ich,« erwiderte er, »und fühl' mich zufrieden damit. Aber tröste dich, ich bin dabei in guter Gesellschaft. Die Großen der Frühzeit wollten auch nichts Besseres sein, oder vielmehr: sie wußten's nicht besser. Erst in der Hochrenaissance kam das Genietum und damit der malende Halbgott in die Welt.«
»Hast du immer so über dich gedacht?« fragte sie.
Er sann nach. »Nein, mein Kind,« erwiderte er. »Wer anfängt, der fährt gern auf den Wolken spazieren … Und muß es vielleicht auch … Weil die Erdenschwere ihn sonst plattdrücken würde … Später aber, wenn man seinen Gipfel erreicht hat und sieht, daß es gar kein Gipfel ist, sondern vielmehr eine Art Hochplateau, auf dem man sachte herumgrast, ohne jemals noch höher zu können, dann wird man bescheiden und ist froh, wenn man sich hält da, wo man steht. Will es das Glück gar, daß man einen Gefährten hat, der einen warnt, wenn man einmal talabwärts zu gleiten droht, dann hat sich alles erfüllt, was das Leben einem versprechen kann.«
Sie verstand ihn gut. »Ach wäre doch Mammi hier!« sagte sie leise.
»Ja, mein Liebes,« erwiderte er und ließ den Blick in Versorgtheit über die Leinwand gleiten, »es wär' gut, wenn sie hier wäre.«
Jedesmal, wenn ein Bild fertig wurde, fehlte sie ihm wie das Brot.
Und noch viel öfter fehlte sie ihm. Daran konnte auch Susis Nähe nichts ändern. Fast schien es heute, als ob sie das Bedürfnis fühlte, ihm die Mutter selbst hierin, so gut es ging, zu ersetzen, denn während des Ganges kam sie immer wieder auf seine Arbeit zurück, pries die Spannweite seiner Ideen, die Fülle seiner Kunstmittel und die Eindringlichkeit seiner Symbole. Nur seinen Fleiß pries sie nicht, wahrscheinlich, weil sie dies Attribut für minderwertig hielt und nur zum Schüler gehörig.
Mit lächelndem Wohlgefühl lauschte er ihren Reden, hie und da abwehrend, wenn ihr Eifer zu hoch griff. Wie tat das gut, nachdem er sich manchen Tag lang in Selbstungenügen verzehrt hatte!
Und abends, als sie, umwogt von dem Rotdunst der glühenden Öfen, in dem Milchlicht der Lampe zusammengekrochen dasaßen, da war es endlich wieder wie sonst.
Sie drückte sich in seinen Arm, sie hob die Finger liebkosend nach seiner Wange, und auch den Mund wehrte sie ihm nicht zu unschuldig-zärtlichem Kinderkuß.
»Ich zittere ja nicht.«
»Doch! An deinen Händen kannst du es sehen.«
Und wie sie jetzt seine Hände ergriff und nebeneinander auf ihre Kniee legte, da kam es plötzlich über ihn mit solcher Gewalt, daß er alle Widerstände verlor. Er umschlang sie, er riß sie an sich, er bedeckte Haar, Augen, Wangen und Hals mit raschen, sinnlosen, brennenden Küssen.
Geschlossenen Auges hing sie in seinen Armen, sie machte auch keinen Versuch einer Gegenwehr, aber als er, halb zur Besinnung gekommen, fragend, angstvoll auf sie herniedersah, da gewahrte er, daß ein wehes, ein fast zerquältes Lächeln ihre Lippen verschiefte.
Geredet mußte nun werden, um diesen Überfall zu erklären – ihn, wenn es noch möglich war, ins Harmlose hinüberzuziehen.
»Du weißt, wie ich dich liebhabe, Kind,« stammelte er, »aber ich lebe immerfort in Furcht, ich könnte dich eines Tages verloren haben für immer.«
Sie schlug die Augen weich und, wie es schien, ganz ruhig zu ihm auf.
»Wie sollte das wohl zugehen?« fragte sie.
Gott sei gelobt! Erzürnt war sie nicht. Und sie schauderte nicht in seiner Umklammerung. Dann war auch Hoffnung, das, was er angerichtet hatte, noch einmal ungeschehen zu machen.
Wenn nur dies Lächeln nicht gewesen wäre, dies wehe, wehrlose Lächeln, wie eine Sklavin es wohl haben mag, die sich der Willkür ihres Herrn ausgeliefert sieht.
Nein, wehrlos war sie nicht. Unter seinem Schutze stand sie. Wenn's not tat, auch im Kampfe gegen die eigene Blutsgewalt.
»Sieh, Liebling,« sagte er, »du bist mir sehr, sehr viel. Du kannst es selbst gar nicht bemessen, wieviel. Und wenn du eines Tages von mir gingest – heiratetest oder so – ich weiß nicht, wie ich das Leben dann weiterführen könnte.«
»Mammi wird wiederkommen,« tröstete sie.
»Mammi und du,« erwiderte er, »ihr gehört gemeinsam zu mir. Du und sie, ihr seid mir gleichsam zwei Seiten eines und desselben Wesens. Hast du das nicht schon lange gefühlt?«
Sie antwortete nichts, aber das Lächeln, das bisher nie geschaute, wich nicht von ihrem Angesicht und füllte sein Herz mit Zweifeln und Nöten.
Als sie ihm gute Nacht sagte, bot sie ihm zwar den Mund wie immer, aber ihm war, als läge ein ängstliches Zuwarten darin, und er selbst wagte kaum noch, ihn zu berühren.
In dieser Nacht schloß er kein Auge, und als die Morgenhelle kam, da war sein Entschluß gefaßt, noch heute die Koffer zu packen und mit Susi nach der Stadt zurückzukehren. Denn so ging es nicht weiter. Allzu entnervend wirkte die Luft der einsamen Insel, die das Schicksal ihm und ihr hier draußen zurechtgemacht hatte.
Den Berliner Haushalt regierten andere Gewohnheiten, andere Gesetze.
Steffen brauchte Modelle für ein halbes Dutzend begonnener Bilder, auch manche bis jetzt verschobene Porträtsitzung wollte erledigt sein.
Derweil nahm Susi ihren Unterricht wieder auf und suchte durch die Raserei verdoppelten Fleißes wettzumachen, was sie in den Wochen des Fernseins versäumt hatte.
Mit Ausnahme der wenigen Stunden, die das Konservatorium in Anspruch nahm, dröhnte vom frühen Morgen bis um zehn Uhr abends – der nach der Hausordnung gebotenen Schlußzeit – ihr Üben durch sämtliche Räume.
Selbst das Spazierengehen schien ihr unnötig geworden, und jedes Überreden wies sie mit Nachdruck zurück.
Nur bei den Mahlzeiten sah Steffen sie noch. Dann saß sie mit grellen, bohrenden Augen ihm gegenüber, zuckte bei seiner Anrede in Verwirrung zusammen, und wenn sie nicht gerade Messer und Gabel hielt, klavierte sie mit allen zehn Fingern auf der Tischdecke herum. Nach dem Abendessen eilte sie sofort an die Arbeit zurück, und trat er gegen Mitternacht in ihr Zimmerchen, um gute Nacht zu sagen – dies verwehrte er sich nicht mehr – dann fand er sie mit glühenden Backen über theoretischen Rechnungen hocken.
»Du wirst dich unfehlbar zugrunde richten,« warnte er immer aufs neue.
Aber dann hatte sie als Antwort nur das eine leidvolle Lächeln, das ihm wie eine heimliche Anklage marternd ans Herz griff.
Es war, als wolle sie eigene Verfehlung so aus der Welt schaffen oder als könne sie sich nicht rasch genug retten vor ihm und dem giftigen Odem, der auf sie eindrang.
Dabei aber blieb sie stets die gleiche zärtliche Tochter. Doch wenn er sie liebkoste oder sie ihn – beides geschah jetzt selten genug – dann legte sich um ihre Lippen unfehlbar jenes rätselvolle Lächeln – mit einer kleinen Abart vielleicht, als spiele ein Mitleid hinein, Mitleid mit ihm oder gar mit sich selber.
Nein doch, eher mit ihm. Und dieser Gedanke brachte Beschämung mehr als alle die anderen. –
Um die Weihnachtszeit kam Atta nach Hause. War wieder ein Ende gewachsen und stak so voller Konfirmandenbravheit, daß es selbst Mademoiselle zuviel wurde, die ohne ein eigentliches Amt noch immer im Hause verweilte.
» Il ne faut pas exagérer, mon enfant,« sagte sie, » trop de sagesse fait trop de bêtise.«
Aber Atta verstand sie nicht einmal, so austapeziert war ihr vierzehnjähriges Hirn mit edlen Vorsätzen und unanfechtbarer Heiligkeit.
Beide Mädel mußten Steffen rasch ein paar Sitzungen hergeben, und das Bild, auf dem sie engumschlungen mitten in Neuheides Herbstgold saßen, ging gerade noch so zeitig auf die Post, daß Brigitte es unter dem Christbaum vorfinden konnte.
Ein Glück war's, daß sie am Weihnachtsabend dort unten nicht allein zu sein brauchte, denn Kurt hatte beschlossen, die Ferien über bei ihr zu verweilen.
Ein seltsames Fest im Tromholtschen Hause.
Die Herrin fern, die Töchter ratlos vor jeder Geschenkwahl und die Luft mit Spannung geladen.
Selbst Atta in ihrer Unschuld schien hiervon etwas zu spüren.
»Ach wär' doch Mammi erst wieder da!« klagte sie, Tränen verschluckend. »Die Lichter brennen so trübe, und überall – überall sind Stimmen.«
»Was für Stimmen?« fragte Steffen.
»Ich weiß nicht,« erwiderte sie und guckte scheu in die Ecken. »Ich höre immerzu Stimmen.« – –
Als sie weggefahren war, begann für die beiden das schweigsame und überhitzte Arbeitsleben von neuem.
Steffen schlief schon lange nicht mehr, und Susi ging umher wie eine, die wachen Auges Gesichte sieht. Manchmal, ganz plötzlich, bekam sie's auch mit der Lustigkeit, lief trällernd durch alle Zimmer, tollte mit Attas Dackel umher und paffte aus Übermut unzählige Zigaretten. Aber viel echte Freude steckte wohl nicht dahinter, denn ebenso rasch bohrten die Augen sich wieder ins Leere.
Und wieder quälte er sich mit dem alten Rätselspiel: ›Fühlt sie? Ahnt sie? Weiß sie? Oder lebt sie in Einfalt dahin?‹
Doch wie konnte sie? Seit jenem letzten Abend in Neuheide mußte ihr manches wohl klar sein.
Daher das Lächeln! Daher das Mitleid!
Und wenn es mehr als Mitleid war, was dann?
Verführung, Schandtat, Verbrechen lagen schon auf der Lauer. Skandal und Tod waren notwendige Folgen.
Gab's nirgends Rettung? Wie, wenn man sich blindlings in irgend ein Abenteuer stürzte, um wenigstens dieser Gewissenspein zu entrinnen?
Die schöne Grubenbesitzersfrau, von der er im vorigen Jahr ein vielbesprochenes Bild gemalt hatte, die kam wie gerufen. Damals waren beide einig geworden, daß, wenn sie im nächsten Winter nach Berlin zurückkehren würde, sich als selbstverständlich erfüllen sollte, wozu es jetzt an Zeit und Ruhe gebrach, denn der Gemahl wurde erwartet.
Und gestern plötzlich hatte sie ihm geschrieben – ein paar höchst schalkhafte Zeilen, die zur Genüge bewiesen, daß ihr Erinnern ihm treu war. Nicht im Adlon sei sie abgestiegen, wie sonst, sondern vorerst, um ganz unbeachtet zu sein, in einem kleinen Hotel garni nahe am Anhalter Bahnhof. Vier Treppen hoch wohne sie dort, wie ein spesensparender Commis voyageur, und sei nach vorheriger Meldung stets zu besuchen.
»Morgen nachmittag um vier,« so schrieb er freudig zurück.
Und als die Stunde geschlagen hatte, stieg er schweratmig die genannten vier Treppen empor. Kein Pförtner hatte ihn angehalten, kein Gast, kein Kellner begegnete ihm. In jedem Stockwerk führte der Weg an einem schmalen Ausbau vorbei, zu dem die Glastür offen stand und von dessen Geländer man auf den Hof hinabsehen konnte.
Dort unten dudelte ein Leiermann, und jedesmal, wenn er eine Treppe weiter emporgeklommen war, kamen die Töne aus tieferer Unterwelt wie hilfeschreiend ihm nach. Es war eine triste Geleitsmusik.
Als er hoch oben haltmachte, gelüstete es ihn, dem Manne ein Almosen hinabzuwerfen.
Wie der Grund eines dunkeln Brunnenschachtes lag der Hof in der Tiefe. Und als er sein Nickelstück übers Geländer geschickt hatte, dauerte es fast eine Ewigkeit, bis ein Klirren anzeigte, daß es unten angelangt war.
Da plötzlich drängte sich ihm der Gedanke ins Hirn: ›Wenn ich ihm jetzt nachspringe, dann hat alles Elend ein Ende.‹
Das war's, das brachte Freiheit, Erlösung. Das blieb als letzter Rückhalt immer noch übrig.
Und mit erleichterter Seele schritt er dem Liebesabenteuer entgegen, das schließlich immer noch lustiger war als der freiwillige Tod.
Nun, gar so lustig wurde es nicht.
Wohl stand sie in leuchtender Fülle da – hoch, herrschgewohnt und dennoch mit schmiegsamstem Lächeln, – wohl war sie zur Liebe enthüllend geschmückt, – wohl zeigte sie sich bereit, schamhafte Voranstalten kurzweg beiseitezuwerfen, – doch da, wie er neben ihr auf dem Ruhebett saß, das schräge Mansardendach wie eine vorspringende Felswand dicht über dem Kopfe, da warf sie sich plötzlich vor ihm auf die Erde, sie, die schenkende Göttin, – barg das Gesicht an seinen Knieen und schluchzte hell in seine untergeschobenen Hände hinein.
»Um Gottes willen, was ist?«
Sie schluchzte weiter.
Er richtete sie auf, er hob sie auf ihren Platz zurück, er trocknete ihre Tränen, mit allen Künsten des alten Frauenkenners redete er auf sie ein, – da endlich kam es, wie aus wüster Verzauberung heraus, verquält und stockend zum Vorschein.
Sie sei von einer großen Leidenschaft befallen, und nur um bei ihm Vergessen zu finden, habe sie ihn zu sich geladen … Ein »Automobilfritze« – sie selber brauchte das Wort –, von Herkunft Franzose und Vertreter einer italienischen Firma, sehr wenig gebildet, aber von blendenden Manieren und schön, schön, – schön wie die römischen Imperatoren … Verheiratet sei er, und alle Weiber liefen ihm nach … Sie selbst habe er genommen, wie man die erste beste Dirne nimmt, und sich dann nicht mehr um sie gekümmert … Hirnverbrannt sei's, daß sie ihm täglich noch schreibe. Zumal sie ganz genau wisse, daß er die Briefe herumliegen lasse, denn seine Frau habe sie ihr schon zweimal mit höhnischen Randbemerkungen wieder zurückgeschickt, aber sie könne nicht anders … Und nun möchte sie sich am allerliebsten vom Flur aus auf den Hof hinunterstürzen.
›Sieh, sieh, du auch,‹ dachte er bei sich.
Bis in dies letzte hinein ähnelte ihre Lage der seinen. Er wie sie hatten Scham und Würde von sich getan, und auf den Abgrund los steuerten beide.
An ihre Liebesstunde dachten sie nun – weiß Gott! – nicht mehr, und während er alles Tröstliche hervorkramte, versuchte er zugleich des eigenen Leides Meister zu werden.
Aber nichts weiter fiel ihm ein als der gepflasterte Hofplatz.
Als er heimging, kam er an einem Waffenladen vorbei.
Er trat ein und kaufte sich einen schönen, bläulich schimmernden Browning, ließ sich das Magazin im Kolben erklären und probte, wie man ihn lädt und entsichert.
Dann ging er zufrieden nach Hause. So war das verkrachte Abenteuer doch zu etwas nütze gewesen. – Als er sich während der folgenden Nacht wieder in Not und Ängsten herumwarf, fiel sein neues Allheilmittel, der Revolver, ihm ein. Er holte ihn aus dem Nachttisch hervor, lobte und streichelte ihn und dachte dabei: ›Solange der bei mir ist, was kann mir da noch Böses geschehen!‹
Wie er sich dann wieder zurechtlegte, war – halb durch Zufall – die Waffe auf das Kopfkissen gesunken, und sobald er das kalte Eisen an seiner Schläfe fühlte, rieselte ein Strom kühlender Ruhe von der Druckstelle her den ganzen Körper hinunter, so daß er alsbald im Einschlafen war. –
Von nun an konnte er wochenlang nur schlafen, wenn sein Kopf sich gegen den harten Revolver drückte und er als letzte Hoffnung das friedliche Ende menschlicher Not, kühl wie die Erde selbst, an sich und in sich verspürte. –
Zu gleicher Zeit begann seine sorgende Ahnung, daß Susis überreiztes Arbeitsleben zu einem gewaltsamen Abschluß kommen werde, sich zu erfüllen.
Immer greller wurde ihr Blick, immer weher ihr Lächeln, immer krampfiger zuckten Lider und Hände.
Und eines Tages brach sie zusammen. Mitten im Üben fiel sie vom Stengel. Mademoiselle fand sie eiskalt und besinnungslos am Boden liegen.
Sie wurde ins Bett gepackt, und der Hausarzt, der eilends gerufen war, erklärte, das Herz wolle nicht mehr; bis auf weiteres sei an ein Arbeiten gar nicht zu denken; Monate könnten vergehen, ehe sie wieder eine Taste anrühren dürfe.
Von nun an saß Steffen viele Stunden lang täglich an ihrem Bette, las ihr vor, besah Bilderbücher mit ihr und erzählte ihr Schnurren. Was er seit Menschengedenken nicht getan, seine Arbeit ließ er im Stich und grämte sich nicht einmal. Dies Amt war wichtiger als jede künstlerische Sendung.
Dann, als es besser zu gehen begann und sie schon Treppen zu steigen vermochte, fuhr er mit ihr spazieren und ließ die Märzenluft, mit der man Tote erwecken konnte, um ihre Backen wehen.
Schweigend und andächtig glitten sie durch die krüppeligen Wälder. Er hielt fromm ihre Hand gefaßt und dachte bei sich: ›Gott sei gelobt, daß ich mit leidlich freiem Gewissen an ihrer Seite sitzen darf.‹ – –
Und dann kam der Tag, an dem er sie ziehen lassen mußte. Zu Brigitte fuhr sie. Wohin sonst? Brigitte streckte schon längst die Arme sehnsüchtig nach ihr aus. Und deren Segenskraft war erprobt, hatte er doch selber oft genug Zuflucht und Frieden in ihnen gefunden.
Zwei Monate noch durften die beiden dort unten zusammen sein, dann hatte das lange, lange Jahr des Fernseins, zu dem Brigitte verurteilt gewesen, sein Ende erreicht.
Und war sie erst wieder zurück, dann konnte das einstige Leben von neuem beginnen.
Ja konnte es das? Oder lag nicht vielmehr eine Todsünde als unüberbrückbarer Abgrund zwischen dem Einst und dem Jetzt?
Und hatte sie auch bisher nur ein Gedankendasein geführt, mußte sie nicht weiterwirken, unaufhaltsam, ungezügelt, bis sie, zu Taten geworden, ihn und das ganze Menschenhäuflein, das an ihm hing, ins Verderben gestürzt hatte?
Auf dem Bahnhof stand er wie damals, als Brigitte mit Atta von dannen gefahren war. Damals war sie bei ihm geblieben. Nun fuhr auch sie dahin, und in der wachsenden Ferne zerrann ihr letztes wehes und zärtliches Lächeln.