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Sechsunddreißigstes Kapitel

Der Nachgeschmack dieser Reise war von nicht auszukostender Süße.

Jetzt sah man erst, wie sehr Brigittens beweglicher Geist nach neuem Erleben gehungert hatte und wie wenig die Wochen der anstrengenden Kur ihrem Wunsche nach Schauen entsprachen.

So gut getan hatte ihr das Wagnis, daß sie gegen den Herbst hin mit einem neuen, an sich höchst bescheidenen Verlangen an Steffen herantrat: In einer östlichen Kleinstadt lebte, eingekapselt in Enge und Stille, ihre einzige Schwester, die fast sagenhaft gewordene Tante Pauline, an der sie, ob auch das eigene Schicksal sie in andere Welten geführt hatte, voll zärtlicher Neigung immer noch hing.

In jedem zweiten oder dritten Jahre pflegte sie ein paar Wochen bei ihr zu verleben, saß, lächelnd zur Kleinbürgerin geworden, auf dem mit Schonern belegten Paneelsofa, ließ sich von Sonne und Liebe bescheinen und hatte für niemand zu sorgen.

Und dort regte sich auch allemal, wenn auch noch so schüchtern, die längst totgesagte Dichterbegabung. Sie, die nur mit Beschwerden die Brust über die Schreibtischplatte zu neigen vermochte, kam stets mit einem Häuflein beschriebener Bogen zurück, das sie stolz vor Steffen hinlegte und das beim Vorlesen einen Reigen zartfarbiger Bilder und körperhaft klarer Gestalten vor ihm erstehen ließ, um, als ob es so seinen Zweck erfüllt hätte, weggepackt zu werden für immer.

»Wenn ich diesmal fahren darf,« sagte sie bittend zu ihm, »werde ich dir was mitbringen, woran du dich wirklich freuen sollst. Mir ist der Kopf so voll von all dem Erlebten, daß ich nicht weiß, wohin damit.«

Er tat ihr nicht gern den Gefallen, denn war sie nicht in seiner Nähe, dann fehlte sie ihm, und die Sorge um sie wurde er auch nicht los, aber er wußte sie ja gut aufgehoben, und darum ließ er sie ziehen.

Noch niemals hatte er sich so verlassen gefühlt wie jetzt. Beide, Frau und Geliebte, fern, – nicht auszuhalten die zwiefache Öde!

Und weil über der steten Unruhe die Arbeit ins Stocken kam und er etwas Außerordentliches brauchte, die Lebensgeister wach zu erhalten, so holte er eines Tages die Riesenleinwand hervor, auf der jene »Sintflut« gemalt war, die ihm einstmals Astrids Schätzung erobert hatte. Zusammengerollt lag sie in der Kabuse, seit er sie vor bald zehn Jahren aus Paris mit sich gebracht hatte, und niemand, selbst Brigitte nicht, hatte sie jemals gesehen. Was ihn bewog, sie gerade vor ihr verborgen zu halten, darüber war er sich nie recht im klaren gewesen, jetzt aber wollte er nachträglich ihre Begeisterung erzwingen.

Das Bild war an Umfang wirklich ein Monstrum. Der Tischler hatte mehrere Tage zu tun, bis es in einen neuen Blendrahmen gespannt war, und als es sich vor Steffen im richtigen Lichte riesengroß aufbaute, erschrak er fast vor der Kühnheit des Vorwurfs und der Wucht der Gestaltung.

Wohl verhehlte er sich auch jetzt nicht die Fehler, die er gewahrt hatte, als es in Christensens Atelier von neuem vor seinem Auge erstanden war, aber er fand nicht den Mut in sich, sie zu beseitigen, nur an Kleinigkeiten pinselte er herum und ließ das Wichtigere auf später. Erst sollte das staunende Auge Brigittens auf der Leinwand geruht, ihr Jauchzen den Vollwert des Geschaffenen bestätigt haben, dann und nicht früher konnte er wissen, wo er eingreifen mußte.

Stunden- und stundenlang saß er davor und redete sich allgemach in eine solche Hitze der Bewunderung hinein, daß ihm schließlich schien, als überrage dies Werk himmelhoch alles andere, was ihm jemals gelungen war.

Träge rannen die Tage dahin.

Da endlich meldete eine Depesche Brigittens bevorstehende Ankunft. Sie kam und erschien mehr erfrischt als damals nach Nauheim. Und wie immer, wenn sie das Haus betreten hatte, war ihre erste Frage: »Was hast du inzwischen gemacht?«

Als er sie emporführte – merkwürdig! –, da hatte er keinen heimlichen Triumph in der Kehle, viel eher spürte er etwas wie böses Gewissen.

Zuerst stieß sie den Überraschungsschrei aus, der sich erwarten ließ. Dann saß sie lange Zeit in schweigender Betrachtung verloren. Er stand hinter ihr und gab ihr Erklärungen über Entstehungsart und Geschichte, innerlich zitternd nach dem ersten Wort, das sie aussprechen würde.

Und endlich begann sie zögernd, bedächtig: »Fertigmachen mußt du's natürlich. Aber vergib mir: Es bleibt mir fremd. Das Pathos, das drin liegt, kenn' ich sonst nicht an dir. Es kommt mir vor wie eine Schülerarbeit, und du warst doch längst Meister, als du es machtest … Die Kontraste sind mir zu kraß, die Orgelpfeifen der Basalte zu senkrecht, der Schwung der emportragenden Woge zu schematisch und zu sehr gewollt … Verzeih mir schon, Steffichen, aber ich muß meine Meinung doch sagen, nicht wahr?«

Er, eingedenk der Bewunderung, die das angefangene Bild ihm einst eingebracht hatte, machte Miene, den unerwarteten Tadel als eine Herabsetzung zu betrachten, die er durchaus nicht verdiente. Vielleicht ahnte sie, daß dies ein Denkmal des Trotzes gewesen war, gegen sie und das Spießerleben, das sie ihm schenkte, und nahm aus ihrem Instinkt heraus eine späte Rache dafür. Zugleich aber bedachte er, mit welcher Begeisterung sie ihm sonst immer zur Seite stand, und darum schluckte er seine Verstimmung herunter.

»Wenn du niemals wieder daran gearbeitet hast,« fuhr sie fort, »dann kommt mir eines ganz merkwürdig vor: Die Frau, die nach dem geretteten Kinde greift, die hat doch Astrids Züge. Sie muß dir dafür gesessen haben, sonst versteh' ich es nicht.«

Er fühlte sich rot werden, als wär' er ein Backfisch. Zugleich besann er sich, daß er nach jener Sitzung, in der er sie als Modell zu der verwundeten Amazone gesehen, an dem Bilde ein wenig herumgemurkst hatte. Auch die Linien des Körpers waren damals nicht ganz die alten geblieben, doch dies konnte Brigitte Gott sei Dank nicht erkennen.

Er schusterte eine Erklärung zurecht, die so harmlos wie möglich klang, und dachte dabei: ›Wie recht hat sie gehabt, sich vor meinem Pinsel zu hüten!‹

Als sie wieder unten waren, forschte er nach dem, was sie dahinten geschrieben hatte.

»Diesmal wird es hoffentlich etwas Fertiges sein,« sagte er, »das auch bald gedruckt werden kann.«

Aber sie senkte nur in Beschämung den Kopf und wollte nicht sprechen.

Dann, als er immer mehr in sie drang, gestand sie bekümmert, sie habe wohl alles mögliche versucht, sich zum Schreiben zu zwingen, aber Hand und Kopf seien wie gelähmt gewesen, und immer habe der Gedanke vor ihr gestanden, nun sei es ja doch schon zu spät.

Er versuchte, ihr die Mutlosigkeit aus der Seele zu reden, aber die Schauer eines geopferten Lebens strichen über ihn hin. – –

Im frühen Oktober kehrte auch Astrid zurück.

Sie sah straff und braun aus und erzählte, sie habe noch bis vor kurzem gebadet.

Brigitte empfing sie mit dankbarer Freude.

»Wenn wir uns jetzt auffordern, nach Kopenhagen zu fahren,« sagte sie, »dann sehen wir uns immer so spitzbübisch an, als hätten wir ein Geheimnis zusammen, und es weiß doch ein jeder darum – Sie, Astrid, zuerst.«

Und dann schwärmte sie ihr von den Fenstern ihres Landhauses vor, so hoch wie Portale, und der Licht- und Luftflut, in der ihre Tage dahingeschwommen waren.

»Jetzt ist alles dick und neblig geworden,« erwiderte Astrid, »und fast wäre ich in die Stadtwohnung gezogen, aber die lass' ich ja ausräumen. Die Möbel sind bereits unterwegs.«

Und als Steffen verwundert fragte, wohin, da kam es zum Vorschein, daß sie inzwischen schon einmal in Berlin gewesen war – ganz im verborgenen, um sich hier einen Haushalt zu gründen, in dem sie Freunde bei sich sehen und Feste geben könne, ohne nach Gasthauskost und nach Kellnern zu fragen.

Ein wenig erschrocken schaute Brigitte zu ihm hinüber, der lippenkauend in sich hineinschwieg, da es ihn ärgerte, daß Astrid ihm jenes Hiersein verheimlicht hatte. Zudem las er aus ihren Plänen nur den Wunsch heraus, ihr hiesiges Leben in Großartigkeit auszubauen, wodurch seine Gestalt ihr bedeutungslos werden mußte.

Und durch sein Hirn schwirrte der selbstquälerische Schreck: ›Dies ist der Anfang vom Ende.‹

Als Astrid gegangen war, sagte Brigitte zu ihm: »Weißt du, für wen das alles geschieht?«

Er zuckte die Achseln.

»Für dich.«

Er – noch im Banne seines Argwohns – lachte hell auf.

»Nein, nein! Für niemanden sonst als dich!«

Und dann erzählte sie ihm, was sie im Sommer zu der Freundin gesagt hatte: wie leid es ihr tue, ihn durch eigene Schuld der Welt entfremdet zu sehen, und daß sie keinen innigeren Wunsch hege, als ihn in einem Kreise zu wissen, in dem er aus und ein gehen könne ohne Zwang und ohne Verpflichtung.

»Diesen Kreis will sie dir schaffen,« fuhr sie fort, »darin kannst du verkehren auch ohne mich. Die meisten werden nicht einmal wissen, daß du verheiratet bist. Und wenn man fragt, nun, dann ist deine Frau eben krank. Und darin hast du dann auch gar nicht gelogen.«

Ein Strom erlösenden Wohlseins warf seine Hypochondrie über den Haufen. So hatte sich also nichts in ihr von ihm abgewandt! Im Gegenteil! Zu viel an Opferung wollte auch sie ihm nun schenken.

Am nächsten Tage traf er unter vier Augen mit ihr zusammen.

»Im Atelier. Morgen um vier,« hatte sie ihm beim Abschied rasch noch zugeflüstert.

Er fand sie in der einfallenden Dämmerung über den Bildern sitzen, die sie im Sommer begonnen, aber nicht durchgeführt hatte. Ohne sich viel Zärtlichkeit zu gönnen, griff er nach Pinsel und Palette und deutete ihr mit ein paar gut sitzenden Strichen an, welchen Weg die Arbeit zu gehen hatte.

Sie sah ihm willig zu, aber in ihren Augen flackerte Ungeduld.

»Deinem Lehrmeistertum alle Ehren,« meinte sie schließlich, »aber hast du mir nichts anderes zu sagen?«

»Dies scheint mir das Nötigste,« gab er zur Antwort, »wenn ich nicht an deinem Leben herumschmarotzen will.«

Sie zog die Brauen finster zusammen. »Wie versteh' ich das?«

»Ist es wahr,« fragte er zurück, »daß deine Übersiedlung hierher nur mir zuliebe geschieht?«

»Zuerst einmal ist es gar keine Übersiedlung,« erwiderte sie, »denn mein Stockwerk im Familienhause bleibt bewohnbar wie bisher. Nur ein paar Räume habe ich leergemacht und zugeschlossen … Und sodann –« Sie stockte.

»Sodann?« forschte er.

»Ja, lieber Freund, wie sagt man so was? Kann man es überhaupt sagen? Wird es nicht schamlos, wenn man ihm Worte gibt?«

»So kürze doch die Vorreden ab!« rief er.

Da schob sie ihren Stuhl ganz dicht an ihn heran, stützte die Ellenbogen auf seine Kniee, und während die blauen Feuer ihn ruhig anleuchteten, begann sie: »Wenn ich die Wahrheit sagen muß, will ich gleich alles sagen … Als wir im Frühling unseren Pakt schlossen, da wolltest du nichts als eine Art Lückenbüßer sein und meintest, ein halbes Jahr solle es dauern und länger nicht … Das halbe Jahr ist um … Jenes Gespenst, das mir das Blut aus den Adern sog, ist aus meinem Leben verschwunden – oder doch so schattenhaft geworden, daß es mir kaum noch was tun kann … Das verdank' ich nur dir … Und ich verdank' dir noch mehr … Dies auszusprechen ist das Schwerste … Komm noch näher an mich heran, daß ich es dir ins Ohr sagen kann … Ich hab' dich viel quälen müssen, weil ich selbst sehr unglücklich war – weil ich heimatlos war … Das ist nun hoffentlich zu Ende … Denn nun hab' ich wieder eine Heimat. Und die bist du … Ich hab' – dich – lieb, mein Freund.«

Er riß sie nicht an sich, er überhäufte sie nicht mit Dank- und Liebesworten, er sah an ihr vorbei ins Leere und dachte: ›Wie hält man soviel Glück aus?‹

Und dabei fiel Brigitte ihm ein und alles, was sie an Glück ihm zu geben versucht hatte, während sie doch so viel hatten leiden müssen, er an ihr und sie an ihm.

Wohl mochten seine Lippen ihren Namen geformt haben – er wußte es nicht –, aber Astrid fing plötzlich von ihr zu reden an.

»Ja, Brigitte! Was machen wir mit Brigitte, damit sie nichts Böses denkt und nicht Not leidet?«

Und da er immer weiter schwieg, fragte sie lächelnd: »Was ist dir? Ich hab' dir eben dies und jenes gestanden, und du hast dich noch nicht einmal gefreut.«

»Astrid!« fuhr er auf.

»Laß, laß,« beruhigte sie, über seine Hände streichend. »Ich weiß. Ich versteh' alles … Ich hab's dir ja schon gesagt: wie sehr ich dich auch liebhabe, manchmal ist mir, als liebte ich deine Frau noch mehr … Oder doch so, daß ich euch beide nicht trennen kann. Wir müssen für sie sorgen, Freund! Wir sind ihr viel schuldig geworden.«

Diese Mahnung gab ihm einen kleinen Stich, nicht bloß weil er sich schämte, an seine Pflichten erinnert zu werden, sondern auch weil er im Namen Brigittens nicht gerne sah, daß sie von seiner Geliebten begönnert wurde.

Aber deren Großherzigkeit zwang ihn, die Segel zu streichen, und so fügte er sich ohne Widerspruch.

»Was könnten wir tun?« fragte er nur.

»Zuerst einmal: du läßt sie hungern.«

»Wonach?«

»Nach Welt und nach Menschen.«

»Sie kann ja nicht. Sie erträgt's ja nicht mehr. Wenn wir selber Gäste gehabt haben, klappt sie für drei Tage zusammen.«

»Das ist dann was anderes. Da war ihre Verantwortung zu groß. Versuch es nur, und ich werde dir helfen … Denk dir doch: ein Mensch, künstlerischer vielleicht als wir alle, dessen Phantasie seit langem bloß noch von Büchern lebt. Das muß doch ein ewiges Ersticken sein. Hab doch Erbarmen mit ihr! Und bedenk: wenn's ihr auch im Augenblick etwas schadet, hinterher wird sie umso freudiger aufleben.«

Und dann verabredeten sie, daß sie – damit ein Anfang gemacht würde – Brigitte bewegen wollten, an dem Einweihungsfeste teilzunehmen, mit dem Astrid ihr neues Leben zu eröffnen gedachte. – –

Die nächsten Wochen vergingen, in denen die neu gemietete Wohnung von Hammerschlag und Möbelrücken und dem Geschrei einander befehdender Werkleute widerhallte. Steffen half nach Kräften. Kaum daß er sich für die notwendigste Arbeit die Zeit nahm.

In patrizischer Steifheit, durch eine zarte Frauenphantasie gelockert und gelindert, war in drei oder vier Gesellschaftsräumen der vererbte Hausrat aufgebaut. Eine Porzellansammlung, in der auserlesene Stücke der heimischen Manufaktur sich aneinanderreihten, gab dem Altväterischen ein jugendliches Gepräge, und die üppige Leuchtkraft edler Teppiche tat ein übriges hinzu.

Die Einladungskarten flogen hinaus, und auch zu Tromholts kam eine.

Brigitte reichte sie wie gewöhnlich an Steffen zurück.

»Astrid freut sich ganz besonders auf dich,« warf er beiläufig hin.

Sie lächelte nur mit einem Achselzucken vor sich nieder. Und nach einer Weile begann sie: »Ich kann mir wohl denken, daß ich dabei schwer zu entbehren bin, denn eure Beziehungen müssen von vornherein in irgend einer Weise legitimiert sein … Zu Abendgesellschaften geh' ich schon lange nicht mehr, und du hast es ja auch seit Jahren niemals verlangt, aber – damit Astrid meinen guten Willen sieht – wenn sie vorher einen kleinen Tee geben wollte, wozu man keine besondere Toilette braucht – seit Kriegsbeginn hab' ich mir nichts mehr angeschafft – das weißt du ja wohl.«

Freilich, freilich! Sie drehte um und nähte ein und flickte zusammen, wo es noch anging. Kleine Schneiderinnen änderten schon manches Jahr lang an ihren Kleidern herum. Für sich selbst war ihr jede Anschaffung zu schade.

Astrid zögerte nicht, dem Wunsche der Freundin Folge zu geben, aber statt daß man sich ihr wohltätig zeigte, war wieder sie es, die eine Wohltat erwies.

Eine Probe gleichsam sollte es sein, kurz vor dem Feste ins Werk gesetzt. Unter dem Anschein der Intimität waren nur die Wichtigeren, die Einflußreichsten aus Astrids bisherigem Kreise geladen. Im Anschluß an den Tee war ein zwangloses Abendessen vorgesehen, von dem vorher nicht die Rede sein durfte.

Hiergegen konnte Brigitte nichts einwenden, und als sie ihr Widerstreben überwunden hatte, freute sie sich wie ein Kind.

»Seh' ich so ordentlich aus? Werd' ich dir keine Schande machen?« fragte sie Steffen ein Mal über das andere, wie immer, wenn sie mit ihm in der Öffentlichkeit hervortrat, und er bejahte freudigen Herzens.

Denn – wie schon gesagt – seit der Hungerzeit war sie wieder schlanker geworden und, wenn auch ins Matronale übergegangen, so doch dem Rubenstyp von einstmals nicht unähnlich mehr.

Ihr Nachmittagskleid, höchst vorgestrig zwar, tat dem Bilde, das sie bot, nicht den mindesten Eintrag, und die schönen Ohrbrillanten – daß sie ein wenig flach waren und nicht ganz drehbar, bemerkte man kaum – machten ein Feuerwerk, das sie den vom Schicksal Verwöhnten triumphierend hinzugesellte.

Nun saß sie auf dem grünsamtenen Ehrensofa, das von Mahagonilöwen kühnlich flankiert wurde, strahlte in den alten Tuschkastenfarben und neigte sich beim Reden und Hören in neu aufblühendem Eifer hierhin und dorthin.

Die fremden und eleganten Frauen – das merkte der alles sehende Steffen sehr bald – gaben sich Mühe um sie, und sie wiederum erwies sich dankbar dafür und lachte über das ganze liebe Gesicht hin.

Astrid hatte sich neben sie auf einen Stuhl gesetzt, und so war es wohl von selber geschehen – denn dergleichen ärmliche Künste lagen der Freundin sehr ferne –, daß beider Hände sich zueinander gesellt hatten und verschränkt auf den Löwenleibern ruhten, als müßt' es so sein.

Die Nachmittagsstunden gingen dahin, und ehe man an den Aufbruch gedacht hatte, meldete Vibecke in seltsamem Deutsch, daß die Abendtafel bereit sei.

Manche, die schon vergeben waren, mußten eilends von hinnen, die Mehrzahl aber durfte bleiben, und Brigitte, die sich restlos glücklich fühlte, warf Steffen einen flehenden Blick zu, den er mit einem zufriedenen Nicken beantwortete.

Aber bald nach dem Essen fing sie schneeweiß zu werden an. Ein Leuchten ging von ihr aus, das fast ein Überirdisches hatte. Reden tat sie fast gar nicht mehr, sie schaute nur immer von einem zum andern, als wolle sie jedem bis ins innerste Herz sehen.

Steffen gewahrte das alles mit Sorge, aber er traute sich nicht, sie zu stören. Da trat Astrid an ihn heran und flüsterte ihm zu: »Du mußt sie wegbringen. Es wird zu viel für sie.«

Nun gab es kein Zögern mehr, und sie folgte so willig wie immer.

Als sie zu Hause angelangt waren, faßte sie seine Hände und sagte: »Ich dank' dir auch sehr.«

»Wofür dankst du mir?«

»Daß du mich mitgenommen hattest!«

»Aber, Kind, dies ist doch ein Vorwurf für mich. Es hängt ja nur immer von dir ab. Und wenn du's verträgst!«

Sie schwieg und nickte nachdenklich vor sich hin. In dem Lächeln, das um ihre Lippen erwuchs, stand die Traurigkeit von vielen Jahren geschrieben.

Weil er jetzt immer so klar und so froh war, sah er das alles weit schärfer denn früher, als das eigene Entbehren ihn dumpf und stumpf gemacht hatte, und er nahm sich vor, ihr fortan alles nur irgend Erreichbare zu bieten, damit sie noch einmal froh werden könnte.

Aber viel wurde nicht draus. Denn leider hatte er recht gehabt. Sie ertrug die Geselligkeit schlecht und mußte jede Freude mit mehrtägigem Siechtum bezahlen.

Doch die wenigen Male, die er sie ausgeführt hatte, waren genügend gewesen, ihren Kopf mit tausend neuen Bildern zu füllen, und der Reichtum an fremden Gestalten gab ihr ein Glück ohne Ende.

In einem freilich war sie fest geblieben: das große Einweihungsfest war ohne sie vom Stapel gelaufen, aber Astrid ließ sich durchaus nicht entmutigen.

»Genau wie ich es vorausgesetzt hatte,« sagte sie zu Steffen. »Die Unpäßlichkeiten gehen vorüber, und die seelische Steigerung bleibt. Wir müssen noch mehr für sie sorgen.«

Zum erstenmal nach dem Kriege sollte der Presseball gefeiert werden, zu dem seit vielen Jahren diejenigen Kreise Berlins, für die das Sehen und Gesehenwerden eine Notwendigkeit ist, sich mit Vorliebe drängen. Nur war er früher von allen Veranstaltungen, an denen der Hof teilnahm, an die Wand gedrückt worden, während er sich jetzt dazu bestimmt sah, dem gesellschaftlichen Leben Berlins das Rückgrat zu geben.

Am Weihnachtsabend nun, an dem Astrid als einziger Gast im Tromholtschen Hause verweilte – doppelt so festlich brannte der Baum, doppelt so freudig strahlten die Augen! –, fing sie, als auf dem Tische der Karpfen duftete, plötzlich zu klagen an.

»Ich habe schon soviel von eurem Presseball gehört und möchte ihn so gerne kennenlernen, aber ich weiß keine Familie, mit der ich zusammen wohl hingehen möchte, und darum werd' ich wahrscheinlich zu Hause bleiben.«

Steffen, der nicht wußte, wo sie hinaus wollte, sah überrascht zu ihr hinüber, denn sie hatte an befreundeten Familien mehr als ein Dutzend. Brigitte aber, deren mitleidige Seele stets nach Helfen ausschaute, begann sofort, mit ihr zu Rate zu gehen, nannte diesen Namen und jenen und erbat sich, die Mittlerin zu spielen.

Doch Astrid war mit nichts von dem allen zufrieden.

»Oh, solcher Leute hätte ich selber genug,« sagte sie, »aber wenn man sich nicht wirklich zugehörig fühlt zu denen, in deren Kielwasser man treibt, dann ist man wie eine Schiffbrüchige in so einem Menschenmeer … Ja, wenn ich zum Beispiel mit euch hingehen könnte, dann wär' ich geborgen.«

»O Gott!« rief Brigitte tief erschrocken bei dem Gedanken. In langverflossenen Zeiten waren sie beide allwinterlich auf diesem Feste gewesen, Steffen hatte als Vorsitzender seines großen Verbandes sogar mit einer gewissen Amtlichkeit dazugehört, aber das lag weit zurück, Weltabgeschlossenheit hatte es lange verschüttet.

Und Astrid bat weiter: »Ich bin ja heute so reich beschenkt – aber wenn ich mir noch etwas zu Weihnachten wünschen dürfte, Schöneres könnt' es nicht geben.«

»O Gott,« sagte Brigitte noch einmal und drückte die Hand aufs Herz, das heftig zu schlagen begann.

Aber weil es doch Weihnachtsabend war und beide sich's wünschten – Steffen auch, das sah man ihm an –, darum wagte sie keine Weigerung mehr und bat sich Bedenkzeit aus.

»Ach was, Bedenkzeit!« rief Steffen, »hab doch Courage! Sag ja!«

»Wirst du dich auch meiner nicht schämen?« fragte sie wieder einmal.

»Ach!« machte er unwirsch und wurde ganz rot. Wenn er sich jemals geschämt hatte, dann geschah es in diesem Augenblick – und zwar seiner selbst.

Und weil sie dies sofort erkannte und er ihr leid tat, glitt ihr das »Ja« über die Lippen, sie wußte selber nicht wie.

Astrid schloß sie dankerfüllt in die Arme und wechselte dabei mit Steffen einen Blick, der ihr, hätte sie ihn bemerkt, wohl gesagt haben würde, wie schmählich sie hier überrumpelt wurde.

Aber so freute sie sich nur ob ihres heldenhaften Entschlusses.

Und diese Freude hielt an. Öfter und öfter tönte in den folgenden Wochen das Lied »Es klingen und singen die Wellen« durch das seit langem stillgewordene Haus.

Gleichzeitig begannen die Vorbereitungen, die das Fest verlangte.

Zwei Spitzenkleider besaß sie von alters her, ein schwarzes und ein weißes. Jedes hatte einstmals ein Vermögen gekostet, aber damals war man ja reich gewesen, zudem bleibt echten Spitzen ihr Wert bis in die Ewigkeit.

Das schwarze allein kam in Frage, weil es die Aufmerksamkeit am wenigsten auf sich zog. In ihm konnte man durch die Menge schlüpfen, als hätte man eine Tarnkappe auf.

Die kleine Schneiderin wurde bestellt und stand mutlos vor der Kostbarkeit, die ihr unverhofft in die Hände fiel, aber da sie behutsam war und geschickt, so entstand ein Gebilde, das sich mit den » créations« der vornehmen Werkstätten allenfalls messen konnte. Nur sehr vieler Anproben bedurfte es, nach denen Brigitte meistens in Erschöpfung zusammensank.

Der große Tag kam näher und näher, und gleichzeitig erwachten die Zweifel in ihr. Schreckensbilder früherer Zeiten standen vor ihrem Auge, wie sie gemieden ob ihrer Unform im Winkel gesessen hatte und Steffens ausmessender Blick finster über sie hingestrichen war. Und mochte der Hunger der Kriegszeit sie tausendmal zu leidlichen Formen zurückgeführt haben, sie wollte nicht mehr, sie konnte nicht mehr, sie war zu müde geworden.

»Weißt du, Steffichen, ich glaube doch kaum, daß ich's werde riskieren können. Es wird wohl zu anstrengend für mich sein. Darum laß mich lieber zu Hause.«

Er stutzte, er wollte ärgerlich werden, aber er nahm sich zusammen.

»Das sind kleine Rückschläge der Stimmung,« beschwichtigte er, ihre Hände streichelnd, »die werden sich schon wieder verlieren.«

Und so gab sie sich drein.

Aber als der Morgen des Festes da war, bohrte die Angst so schrecklich, daß sie nicht aus und nicht ein wußte. Sie lief umher wie gehetzt und hatte unendlich viel zu besorgen, obwohl schon längst alles bereitlag.

Mit Unruhe gewahrte Steffen dies Treiben, das von alters her nichts Gutes weissagte. Ein Glück war's, daß sie sich von ihm überreden ließ, nach Tisch zu Bette zu gehen; so konnte sie für den Abend neue Kräfte einsammeln.

Um vier schon kam der Friseur, der heute unermeßlich viel zu tun hatte. – Und nun saß sie in dem frisch gewellten und künstlich gebäumten Kopfputz da, die Augenbrauen nachgezogen und Wangen und Hals mit Eau de Lis getüncht. Und saß und saß, den Blick müdlächelnd im Spiegel verloren.

Dann zwang sie sich, den Schmuck herauszuholen, den Steffen ihr im Laufe der Jahre geschenkt hatte. Außer den Ohrbrillanten war da ein Rubinenhalsband, nach indischer Weise panzerartig gefaßt und von jener Taubenblutfarbe, die man ihr für Rubinen stets als das Schönste gepriesen hatte. Auch eine Kette war da, bis auf den Gürtel herabreichend, aus Smaragden und Barockperlen gemischt, die krause Goldglieder verbanden. Zu einer richtigen Perlenkette hatte es leider niemals gelangt. Steffen hatte sie ihr gerade anschaffen wollen, da war die Verarmung gekommen.

Das – und noch manches andere – musterte sie wieder und wieder, legte es an und legte es weg, und das müdschmerzliche Lächeln wich nicht von ihrem Angesicht.

So wurde es sechs, so wurde es sieben.

Da sprang sie plötzlich auf und griff nach der Klingel.

»Geh zum Herrn, Loni, und sage ihm, ich lass' ihn herunterbitten.«

Da war er. »Was hast du? Was gibt's?«

»Du mußt mir schon verzeihen, lieber Steffen, – und Astrid muß es auch – aber ich kann wirklich nicht auf den Ball. Es geht beim besten Willen nicht.«

Er kaute die Lippen, um den aufsteigenden Zorn zu verbeißen.

»Es sind noch drei Stunden Zeit, liebes Kind. Ich bin überzeugt, du wirst dich bis dahin anders besinnen. Zieh dich inzwischen nur an und – –« Er stockte, er fürchtete, seiner nicht Meister zu bleiben.

»Ach nein, lieber Steffen. Ich habe alles genau überlegt. Ich würde dir eine zu große Last sein. Geh du nur mit Astrid allein.«

»Ach was, ich kann ja gar nicht mit Astrid allein gehen. Wo jeder dritte Mensch mich kennt. Das hieße ja der Welt – und das hieße auch dir ins Gesicht schlagen.«

»Ja, dann weiß ich wirklich nicht.«

Und nun brach er los: »Das ist eine Laune – das ist eine Rücksichtslosigkeit – das ist eine Spielverderberei, wie sie schlimmer nicht gedacht werden kann.«

So tobte er um sie herum. Sie wußte ja, er meinte es nicht böse, und sie war ja auch ein Leben lang daran gewöhnt, aber sie fühlte sich zu schwach, um ihm wie sonst gut zuzureden. Und da plötzlich packte sie die Verzweiflung, so daß sie das prunkende Haargebilde auseinanderriß und ihm weinend entgegenschrie: »Hast du schon mal dran gedacht, daß ich auch ein Mensch bin? Daß ich auch so was wie ein eigenes Leben habe? Daß man nicht bloß so auf mir herumspielen darf? … Wenn ich dir sag', ich kann nicht, dann kann ich nicht … Frag lieber nicht nach den Gründen. Frag gar nicht … Laßt mich in meinem Winkel sterben. Weiter will ich auf Erden nichts mehr.«

Bis ins Innerste erschrocken sah er, was er da angerichtet hatte, und die Angst stieg in ihm hoch, daß wieder einmal einer der Anfälle sich vorbereitete, die Gott sei Dank schon lange ausgeblieben waren.

Um sie zur Ruhe zurückzuführen, fiel kein besseres Mittel ihm ein, als ihr zu bekennen, aus welchen Motiven Astrid zu dem Wunsche gekommen war, mit ihnen beiden gemeinsam das Fest zu besuchen.

Und als sie erst so weit war, ihm zuzuhören, da hatte er sie auch bald wieder in seiner Hand.

»Die Liebe! Die Noble!« sagte sie. »Wie schön geborgen weiß ich dich für – für später! Denn sie wird dir ja bleiben.«

Er nahm sich nicht die Zeit, den Sinn dieser Worte auszudenken, aber weh taten sie doch.

Zuerst mußte mit Astrid geredet werden. Glücklicherweise erreichte er sie sofort. Auch sie war ja daheim und schmückte sich für das Fest. Ehe er noch eine Silbe gesagt hatte, hörte er schon ihre Stimme: »Also sie will nicht. Ich hab' es gefürchtet.«

Aber daß nun auch er zu Hause zu bleiben gedachte, überraschte sie doch.

»Weshalb nur?«

»Ich muß dich fremden Leuten überlassen, in deren Kreis ich nur ein Geduldeter wäre, wenn ich mich überhaupt hineindrängen wollte. Außerdem, das glaube mir, bin ich zu Hause heut nötiger.«

Dieser letztere Grund leuchtete ihr ein, und er beendete rasch das Gespräch, denn sie hatte ja für anderweitigen Anschluß zu sorgen. –

»Nun, ziehst du dich gar nicht an?« fragte Brigitte, als er über Gebühr am Abendbrottische sitzen blieb.

Und als er ihr nun seinen Entschluß mitteilte, fing sie an, rechtschaffen böse zu werden.

»Du möchtest mich bloß zwingen, dir deinen Willen zu tun. Das ist eine abscheuliche – eine ganz tückische Waffe ist das.«

»Gib schon Frieden,« sagte er. »Ich bin ja kein Tanzmädel, daß mir darüber das Herz bräche. Jetzt ginge ich auch nicht einmal zusammen mit dir.«

Sie seufzte tief auf. »So sind wir an manchem vorbeigegangen,« sagte sie und starrte ins Leere.

Aber als er sie einlud, zu ihm ins Atelier hinaufzukommen, war sie schon wieder ganz fröhlich.

Er mußte sich auf das Ruhebett strecken und seinen Pfeifenstummel in Brand setzen. Sie machte sich ihren gewöhnlichen Platz zwischen seinen Füßen zurecht.

Und dann fuhren sie zur Abwechslung ein bißchen nach Kopenhagen. – – – –


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