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Aber Steffen Tromholt war undankbar.
Er gedachte nicht der ihn allzeit umgebenden Sorge, die nur das eine im Auge hatte, ihn nicht merken zu lassen, wie knapp es im Haushalt herging und wie jeder Heller zu Rate gezogen werden mußte, um die Wirtschaft nach außen hin so wohl geordnet zu halten, daß es schien, alles gehe so weiter wie einst.
Er gewahrte nicht, wie Brigitte durch Wiederaufnahme alter Beziehungen, die in der Kriegs- und Hungerzeit zu manchem rettenden Einkauf geführt hatten, auch jetzt dem Darben auszuweichen verstand und wie die brüchige Wachstuchtasche von neuem hervorgesucht wurde, an deren Wucht schwer schleppend, doch mit glückseligem Lächeln sie nach Stunden und Stunden wieder ins Haus trat.
Er sah nur, daß er mit seinen entwerteten Papieren und den lächerlich geringen künstlerischen Einnahmen dies Leben, das auf großen Stil zugeschnitten war und das von Verpflichtungen strotzte, nicht länger mehr zu führen vermochte.
Der Haushalt des jungen Paares mußte seine monatlichen Bezüge haben, denn der künftige Konsul verdiente noch gar nichts. Alte Dienstboten erhielten Ruhegehälter, sogar in Neuheide gab es etwelche, die im Vertrage vergessen worden waren und die nun voll Angst auf die Postanweisungen lauerten, mit denen der einstige Herr sie bedachte. Und in München saß eine junge Näherin mit ihrem Kinde, die ohne Arbeit war und ernährt werden wollte.
Das alles fraß nicht bloß an seinem Geldbeutel, an dem ohnehin nicht viel zu fressen war, auch seine Arbeitsruhe ging darunter zuschanden. Und aus den Tiefen des Halbvergessenen tauchte die alte Klage empor: ›Was geht mich das alles an? Wozu hab' ich mir dies Ehe-Elend aufgebürdet, das keinen andern Zweck hat, als mir Kraft und Lust zum Schaffen zu stehlen?‹
Brigitte von diesem verspäteten Aufruhr etwas merken zu lassen, davor hütete er sich. Aber sie war nicht umsonst auf sein Wesen eingespielt seit Jahren und Jahren, um nicht zu erraten, wie's in ihm aussah.
Und wenn sie ihn, mit der erkalteten Pfeife zwischen den Zähnen, in schlaffem Brüten dasitzen sah, auf Einfälle lauernd, die immer häufiger ausblieben, dann trat sie wohl hinter ihn, streichelte ihn sacht – eine andere Liebkosung erlaubte sie sich immer noch nicht – und sagte mit einem Lächeln, in dem sein ganzer Jammer sich widerspiegelte: »Du armer Steffen!«
Und dann konnte es geschehen, daß er die Hand, die leise und doch mit Zentnerschwere auf seiner Schulter lastete, an seine Lippen zog und bei sich dachte: ›Was wär' ich wohl ohne dich?‹
Schön waren oft die gemeinsamen Abende.
In die Wohnzimmer hinunterzugehen, hatte er sich abgewöhnt. Sie waren so weit und so dunkel – elektrisch Licht mußte gespart werden –, und wenn man an dem großen, runden Tische saß, den früher die Mädel belebt hatten, Brigitte fern drüben, wie gar nicht zu ihm gehörig, und zwischen ihm und ihr wie ein Blutmeer die rote Brokatdecke, dann schauderte er oft vor der unausmeßbaren Leere, in die hinein sich sein Leben verlor.
Doch oben in seiner Werkstatt fühlte er sich zu Hause. Im Schutze des dreigliedrigen Gobelinschirms, der ihn wie eine lichtschluckende Waldung dämmrig umgab, halb ausgestreckt auf dem türkischen Ruhebett, ein gutes Buch schräg in den Kissen, so ließ sich das Altern vielleicht ertragen.
Und umso leichter ertrug sich's, wenn eine schüchterne Hand an die Tür pochte, hinter der die Wendeltreppe hinabstieg, und auf sein »Herein« durch den sich öffnenden Spalt eine weiche, immer etwas belegte Stimme ganz leise fragte: »Bin ich eingeladen?«
Oh, sie war immer eingeladen. Kaum ein einziges Mal mag es geschehen sein, daß sie ihm unlieb gekommen wäre. So warm, so lösend und erlösend wirkte auf ihn der bloße Hauch ihrer Nähe, mochte er auch noch eben aufs schwerste mit ihr gehadert haben.
Dann mußte er sich ganz lang legen, denn so hatte er's bequemer, und sie setzte sich zwischen seine zwei Füße, während ihr Rücken an dem Rahmen des Wandschirms eine Stütze fand.
Und wenn alles sich zurechtgerückt hatte, was taten sie dann?
Dann fuhren sie ein bißchen – nach Kopenhagen.
Wie diese Floskel in das Rotwelsch des Ehelebens hineingeraten war, wußten sie selber kaum noch. Mit jener jungen Dänin hatte sie nichts zu tun. Sie war schon dagewesen, noch ehe Steffen deren Bekanntschaft gemacht hatte. Ihr Ursprung war wohl ein anderer.
Während sie beide allmählich zu Hausunken wurden, pflegten sie sich allerhand Reisen auszumalen – in fremde Länder, in fremde Erdteile, dorthin, wo eine unausdenkbare Fülle noch nie geschauter Bilder über sie herströmen würde. Und weil von allen ausländischen Hauptstädten Kopenhagen die nächste war, so tändelten sie gerne mit dem Gedanken, die erträumten Wanderfahrten mit einem Trip dorthin zu beginnen. Doch niemals mehr kam es dazu. Und so hatten sie als Ersatz – halb in Spott und halb in Entsagen – dies kindliche Spiel erfunden. Unter seinem Zeichen stand manche Stunde wehmütigen Glückes, in der Brigitte die Nöte der Zeit weglächelte, als hätte müßiger Grillenfang sie geschaffen. Im Banne ihrer heitern und hoffnungbringenden Ruhe glättete sich manche Sorge, und von allen Bitterkeiten blieb nur die eine: ›So geht es also zu Ende.‹
Doch nein! So konnte, so durfte es nicht zu Ende gehen. Irgend ein Schicksal mußte noch dastehen im Dunkel des Unerwarteten, bereit, den, der sich ihm anheimgab, zu verdammen und zu begnaden.
Vorläufig aber hieß es, sich weiter so aufbrauchen lassen, wie der Niedergang des allgemeinen und des eigenen Lebens verlangte. Vorliebnehmen hieß es mit den Kleinigkeiten, die eine geizige Fee dem einst Verwöhnten als Brosamen zuwarf. – –
Eines Abends, zu Anfang des Monats, als wieder einmal Unsummen weggeschickt worden waren, für die ein Ausgleich sich nirgends entdecken ließ, sagte Brigitte: »Ich denke immerzu nach, wie und wo wir noch sparen könnten. Wenn wir erst unsere Teppiche und alten Bilder verkaufen, dann würden die Leute gleich von Zusammenbruch reden, und das darf natürlich niemals geschehen. Da ist zum Beispiel die Loni in München mit ihrem Kleinen. Ernähren werden wir sie wohl müssen – ich wenigstens bin's meinem Jungen schuldig –, aber alles, was wir ihr schicken, nützt nichts. Sie grämt sich und kümmert so hin. Und dabei ist sie so lieb und so hold geblieben, wie sie je war.«
In jedem Jahre nämlich fuhr Brigitte einmal nach München hinunter, um nachzuschauen, wie's der Geliebten ihres Sohnes und ihrem Enkelkinde erging.
»Wie wär's,« fuhr sie fort, »wenn wir das ganze Nest hierher verpflanzten? Loni könnte als eine Art Haustochter bei uns bleiben und allmählich lernen, der Wirtschaft vorzustehen, ohne daß sie der Form nach was anderes wäre als etwa die Grete, die sowieso bald heiraten wird.«
»Und das Jungchen?« fragte Steffen, dem der Plan noch nicht recht einleuchten wollte.
»Das geben wir nahebei in Pension, so daß es sie Sonntags immer besuchen würde, oder wenn das der Köchin zu unmoralisch erschiene,« – sie lachte spottend in sich hinein – »dann könnte sie ja auch zu ihm gehen. Ganz wie sie will … und auch wir würden Freude an ihm haben … aber das ist nicht das Eigentliche, das mich auf diese Idee gebracht hat. Ich möchte gern, daß – daß – wenn ich einmal – nicht mehr bin, – daß du dann irgendwas Liebes um dich hast, bis du dich wieder verheiraten kannst.«
Neu war der Todesgedanke ihm nicht. Seit Jahren sprach sie häufig von ihrem baldigen Sterben. Nicht kokettierend, um etwa ein Zeugnis der Unentbehrlichkeit von ihm zu empfangen, sondern ganz friedlich und vertraut, wie ein Besuchskind von seinem Vater spricht, der es bald holen kommt.
Oft, wenn eine plötzliche Ohnmacht sie packte oder wenn sie kläglich nach Atem rang, schien der Tod ihr schon nahe genug, aber immer wieder erholte sie sich, so daß man schließlich nicht mehr recht daran glaubte und mit ihrem Altwerden zu rechnen begann.
Seit sie gar in der Hungerzeit wieder schlanker und dadurch beweglicher geworden war, hielt man sie oft für gesund. Und auch Steffen mochte sich gerne Ähnliches einreden.
Sie aber warf ihre Sorge in jene dunkle Zukunft vorauf, in der sie ihn nicht mehr betreuen konnte, und immer wieder ertappte er sie, wie sie Fäden spann, die ihre Seele über das Grab hinaus mit der seinen vereinten.
Er wiederum – was ja selbstverständliche Pflicht war – redete ihr die Todesgedanken aus, so gut er nur konnte, doch schließlich wurden sie ihm nicht minder vertraut als ihr, nur lag eine schwarze Wand vor jenem grausen Geschehen, die keine Phantasie zu durchbrechen vermochte.
Auch heute wies er mit Nachdruck zurück, was sie ihm wieder einmal zu seinem Heile ersonnen hatte, doch wiederholte sie fortan ihre Bitte so oft, daß er schließlich, schon um ihr Ruhe zu gönnen, Ja sagen mußte.
Ein Unterschlupf für das Jungchen war bald gefunden. Glückselig reiste sie ab und kam drei Tage später mit einem lichtblonden, scheuen Geschöpfchen und einem lederbehosten sechsjährigen Strampel nach Hause.
Zweiundzwanzig mußte die Loni jetzt sein, aber sie sah noch genau aus wie damals, als er mit Brigitte zusammen nach ihr auf die Suche gefahren war.
Gleich einer, die ihre Seligkeit nicht fassen kann und in jedem Augenblicke befürchten muß, aus dem Paradiese, in das sie durch Zufall geraten ist, mit Schimpf und Schande vertrieben zu werden, huschte sie von nun an lautlos und leuchtend im Hause umher, machte Himmelsspiele mit einem Paar großer, unschuldig fragender Augen, und jeder, der sie sah, würde ungläubig aufgelacht haben, hätte man ihm erzählt, daß sie Mutter eines strammen Jungen war, der schon die Schiefertafel zerkratzte.
Aber Hausfrau und Hausherr hüteten sich wohl, es zu erzählen, und wenn Brigitte ihr Enkelkindchen besuchen ging, geschah es mit nicht geringerer Heimlichkeit, als wenn die Mutter aus diesem Grunde plötzlich verschwand.
Wenn sie dann wiederkam, hatte sie stets eine süße Verschämtheit an sich, so daß Steffen nicht umhin konnte, sie wegen ihrer verbotenen Großmutterfreuden weidlich zu hänseln.
So war ein neues kleines Glück im Hause eingekehrt. Viel hatte es nicht zu bedeuten – für Steffen wenigstens nicht –, aber es schuf einen Dunstkreis von stummem Liebhaben und wehem Gedenken, und die Freude, der maßgebenden Moral eine Nase gedreht zu haben, hatte daran wohl auch ihren Teil …
Zu gleicher Zeit ereignete es sich, daß der drückende Mangel im Tromholtschen Hause eine Milderung erfuhr.
Und der rettende Engel war niemand anders als unser Herr Piefke.
Aufgedonnert nach neuester Konfektion erschien er eines Tages mit hellgelben Schuhen, rotseidenen Strümpfen und einem auf Taille gearbeiteten Homespunjackett, das von Himmelblau zu Nußbraun in sämtlichen Farben schillerte.
»Also womit kann ich dienen?«
»Na ja, heeren Sie mal, Herr Professer! Ick hab' doch nu det scheene Schloß von Ihn' … Piekfein haben Sie det alles arranschiert … det sagt ein jeder … Bloß eene Schose, die is nich richtig … Wenn nämlich eener kommt und sich det so ansieht und nu jesetzten Fall, er is eener von die feinern Leite – unsereens vasteht ja nich viel davon, – sonst hätt' ick den Kontrakt janz anderscht jefingert – dann hätt' ick rinjeschrieben, die Bilder, wo der Vorbesitzer jemalt hat, die bleiben alle hängen – halbe Million mea – kam ja damals jar nich druff an … Also wie jesagt: Wat die feinern Leite sind, die fragen dann jleich: ›Wenn Sie det Schloß wirklich von den Maler Tromholt jekauft haben, wo sind die echten Tromholts?‹ … Sehen Sie, die echten Tromholts, die fehlen, und die sollen Sie mir nu nachliefan … Da wär's doch zum Beispiel janz jut, Sie malen mir in'n Speisesaal bißken wat rin – in eine jewisse Mania – ick hab' den Namen vajessen, aber jerade fiern Speisesaal soll et hechst jeeignet sind.«
» Al fresco vielleicht?« fragte Steffen. Er glaubte sich dem schlichten Manne gegenüber diesen alten Malerscherz wohl erlauben zu dürfen und war sehr verwundert, als der ihn für ernst nahm.
»Ja, ja, so wat mit Fressen war's. Jawoll. Also kurz und rund: wie is? wollen Sie ran an'n Speck?«
Ob gut oder schlecht bezahlt, der Auftrag hätte seinem Hause neue Lebensquellen erschlossen, aber er besann sich nicht lange und schlug ihn aus.
»Sie werden es vielleicht verstehen – oder auch nicht,« sagte er, »ich habe meinen ehemaligen Besitz viel zu lieb, um mich der Qual auszusetzen, monatelang auf ihm 'rumzusitzen, nun ich daselbst ein Fremder geworden bin.«
»Ja, ja,« meinte Herr Piefke und strich sich wohlgefällig über die nach amerikanischer Sitte geglätteten Backen, »wenn man mal Schloßherr war und nu is es wer anderscht! … Aber Sie kennten ja diese Freßgeschichte – nennt man die nich ooch Stilleben oder so? – wenigstens is mir so wat schon öfters anjeboten worden – kennten Sie die nich ooch hier ze Hause fabriziern? Wozu is denn der Spediteer da?«
Steffen erklärte ihm, warum dies unmöglich war. »Aber,« fuhr er fort, »wenn Sie einverstanden sind, daß ich Ihnen die entsprechenden Panneaus mache, dann wird es vielleicht gehen.«
»Wem seine Nos'?« scherzte leutselig Herr Piefke.
Steffen gab ihm auch diese Erklärung, und der Vertrag kam zustande.
Viel bot Herr Piefke zwar nicht. – »Die Zeiten, wo ick im Jelde so manschte,« sagte er, »die sind total futschikato.« Aber schon, was er anzahlte, reichte aus, um die Wirtschaft ein Vierteljahr lang über Wasser zu halten.
»Hab' ich dir nicht gesagt,« jubelte Brigitte, »es kann uns gar nicht schlecht gehen? Und nun gar noch einen Platz ausschmücken, der uns immer Heimat bleiben wird, mag ihn besitzen, wer will! Gar nicht auszudenken – das Glück!«
So hatte sie im Handumdrehen auch den letzten Groll von ihm genommen.
Und dann ging's flott an die Arbeit. – –
In dieselbe Zeit fiel ein Ereignis, das Brigitte und – wiewohl er es vor sich verleugnen wollte – auch Steffen bis ins Tiefste ihrer Seelen hinein erschütterte.
Susi war wieder im Lande.
In Glanz und Ehren kam sie daher, denn ihr Gatte war inzwischen eine Berühmtheit geworden.
Während Deutschland abgeschlossen von aller Welt in dumpfem Hungertraume dahinlebte, hatten draußen allerhand künstlerische Wandlungen sich vollzogen. Modegötzen waren von ihren Sockeln gefallen, neue Größen waren aus dem Dunkel des Nichtsseins emporgetaucht.
Und zu diesen gehörte der junge Russe, mit dem Susi fürs Leben verbunden war. In Chicago, der kunstliebenden Fleischerstadt, hatte man ihn entdeckt. In der Fifth Avenue, wo man als höchste Feinheit auf vergoldeten Klavieren herumspielt, hatte man ihm nach – einmal sogar vor – Tische wohlwollend zugehört. In Mailand hatte Toscanini seine Oper aus der Taufe gehoben. Und London glaubte darum, der eigenen Würde nichts zu vergeben, wenn es sich für ihn begeisterte.
Aber noch fehlte das Siegel auf dem Dokument seines Ruhmes, und das hatte trotz Armut und Schmach, trotz Ausgeschiedensein aus dem Rate der Völker noch immer nur Berlin zu vergeben.
Und zu diesem Zwecke war er gekommen.
Vor der Tromholtschen Tür stand eines Abends zu Anfang des März ein Groom aus dem »Esplanade« mit einem Briefe, dessen Aufschrift Brigitte, die mit Steffen gerade beim Abendbrot saß, vor Freude hell aufschreien ließ.
Und während sie, von Herzklopfen überwältigt, gegen die Stuhllehne zurücksank, nahm er ihr das Kuvert aus der Hand. Doch obwohl auch er die Schriftzüge sofort erkannte, gab er sich nicht das Recht, es zu öffnen. Denn seit Jahren hatte Susi das Wort nicht mehr an ihn gerichtet. Und wenn immer ein Lebenszeichen von ihr ankam – es geschah selten genug und während des Krieges fast gar nicht –, dann brachte kein einziger Gruß ein Zeugnis davon, daß sie seiner freundlich gedachte.
Als Brigitte wieder zu Kräften gekommen war, las sie schweigend den Brief und reichte ihn ebenso schweigend zu ihm hinüber.
Darin stand folgendes:
Wir sind heute angekommen. Boris spielt morgen in der Philharmonie. Das Elternhaus betreten kann ich nicht. Und wenn ich selbst wollte, Boris würde es nicht erlauben. Papa ist so sehr gegen meine Heirat gewesen, daß ihn nichts mehr mit ihm aussöhnen kann. Und daß ich wie in allem auch hierin zu ihm halte, versteht sich von selbst. Vielleicht aber kommst du morgen zum Lunch ins Hotel. Wir beide werden allein sein, denn Boris macht es sich zum Gesetz, an Konzerttagen niemand Fremdes um sich zu sehen. Zu Atta gehe ich jetzt, und willigst du ein, so werde ich dich um halb eins in der Halle erwarten. In treuer Liebe – Susi.
Ob sie einwilligte!
Ihr Blick sagte bettelnd: ›Verzeih!‹ Aber hier war ein Kreuzweg, an dem ihr Wollen sich unerbittlich von dem seinigen trennte.
Er nickte auch nur bejahend zu ihr hinüber.
›Das ist die Strafe!‹ rief es in ihm, und diese Strafe war wahrlich milde genug.
In der folgenden Nacht schlief Brigitte gar nicht erst ein, und er tat es ihr gleich.
Um drei Uhr früh hörte er sie immer noch rascheln und keuchen. Da ging er hinüber, um bei ihr unterzukriechen. Als er in ihrem Arme lag und die Not ihres Atmens sich allmählich verlor, gedachte er der Nächte verzweifelten Aufruhrs, in denen ihm von dieser Stätte her, deren Frieden er heimlich gebrochen hatte, der Friede gekommen war.
Und auch sie dachte an jene Zeit, denn plötzlich sagte sie: »Weißt du, Steffichen, was ich damals nach deinem tollen Einfall mit dem Detektiv immer geglaubt habe?«
»Nun?«
»Ich glaubte, daß du wahr und wahrhaftig in Susi verliebt seist.«
Die Nachttischlampe war brennen geblieben, drum richtete er sich auf, um sie besser ansehen zu können.
Mit einem Lächeln nachsichtiger Mütterlichkeit lag sie da, fast ganz erholt, nur daß der Atem ein wenig rumorte.
So offenbarte sich endlich, was ihm allzeit ein Rätsel gewesen war. Doch Rätselhaftes gab es auch jetzt noch genug.
»Wenn du das glaubtest,« fragte er, »wie konntest du dann wünschen, daß sie in jenem Sommer wieder ins Haus kam? Und wie konntest du zum Schluß noch veranlassen, daß ich mit ihr ganz allein blieb?«
Sie blickte versonnen, ein wenig listig beinahe, an ihm vorüber.
»Was hätt' ich Besseres tun können?« erwiderte sie. »Hätt' ich dich von ihr getrennt, so wäre wahrscheinlich ein Unglück geschehen. Und im übrigen kannte ich doch dich und kannte mein Kind. Ich wußte, wem ich es anvertraute … Freilich, schlimm genug war es mit dir, aber vielleicht ist dir das alles damals gar nicht recht klar geworden.«
›Du ahnungsvoller, du ahnungs loser Engel,‹ dachte er, und viel fehlte nicht, so hätte er ihr die ganze Geschichte gebeichtet.
Aber sie lag jetzt so ruhevoll da, in Erwartung des morgigen Glückes, daß er in ihre Seelenstille nicht einbrechen mochte.
Darum löschte er die Lampe, und in Susis Bilde verloren schliefen sie ein.
Zum nächsten Mittag hatte sie sich sehr fein gemacht. Daß man ins »Esplanade« frühstücken ging, das ereignete sich nicht mehr im Tromholtschen Hause. Und dann wollte sie Susi auch zeigen, daß es ihr gut ging in jeglicher Hinsicht. Sie hatte den kostbaren Breitschwanzmantel an, der noch besseren Zeiten entstammte, und die Tuschkastenfarben blühten in alter Pracht.
»Wie eine junge Braut siehst du aus,« neckte er, als sie Abschied nahm, aber ihm war doch recht weh zu Mut.
Als sie gegen vier Uhr wiederkam, hatte sie unendlich viel zu erzählen.
Nun sah man erst, wie weltentrückt sie beide dahinlebten und Atta wohl auch. Die Zeitungen hatten Begrüßungsartikel gebracht, an den Litfaßsäulen klebten große Plakate, und in der »Illustrierten« war neben dem Bilde des jungen Meisters auch das von Susi zu finden.
Strahlend zog sie das Blatt aus der Tasche.
Und so sah er Susi nun wieder – nach Jahren zum erstenmal. Eine Dame war sie geworden, mit sicherer Haltung und kühlem Blick, während ihrem Manne das Weltfahrertum aus allen Knopflöchern des glänzend geschnittenen Frackes guckte.
Ins Elend hatte er sie einst ziehen lassen, als eine kleine Königin schaute sie jetzt auf ihn und sein Verkümmern herab.
Um sechs Uhr rüstete sich Brigitte, das Konzert zu besuchen. Wohl gab sie sich Mühe, ihre Erregung zu meistern, aber als sie ihre Brillanten in die Ohren tun wollte, gelang es ihr nicht, so zitterten ihr die Finger.
»Sie will mitten unter uns sitzen,« berichtete sie. »Zur Rechten ich, zur Linken Atta – und Leo dahinter … Ach, wenn du doch dabei wärst!«
So hielten sich Jubel und Kummer die Wage.
In Sorge um sie telephonierte er seinem Schwiegersohn: »Gib acht auf Mammi und führ sie hinaus, sobald du merkst, daß es zuviel für sie wird.«
Und jener versprach's. Dann geleitete er sie im Auto nach der Bernburger Straße, wo die Menschen in schwarzen Scharen herzuströmten.
Sie hielt seine beiden Hände umklammert und wollte nicht von ihm lassen, aber es mußte ja sein. Selbst wenn die Kasse noch offen gewesen wäre, – dort ein Billett zu kaufen und sich als ein Fremder in die Nähe der Seinen zu drängen, war nicht nach seinem Geschmack.
Und so sah er Brigitte im Gewimmel verschwinden.
Heimkehren? Nein. Er wußte: bis nach Stunden ihr Schlüssel im Schlosse sich drehte, würde die Ungeduld ihn zerfressen. Das beste würde sein, er wartete ab, bis alles zu Ende war, und setzte sich im Excelsior-Café über Zeitungen fest, wenn er sich nicht noch lieber in den Straßen herumtrieb.
Der Mond hing lampenklar über den feuchtglitzernden Dächern. Feucht auch das Pflaster vom Frost vergangener Nächte. Überall herrschte Liebesbetrieb, wie sich's im März so gehörte. Schmusende Pärchen, den Blick ineinander verloren. Und scheues Verlangen im Auge der Einsamgebliebenen. Ein großer Markt für die anschlußbedürftige Jugend.
Und während er, ohne zu wissen wohin, sich durch das verliebte Volk hindurchdrängte, zog das eigene Liebesleben in bunten Bildern an ihm vorüber. Eine Frauengestalt nach der andern quoll aus dem silbrigen Dunste.
Die Zufälligkeiten samt allem, was Laune und Leichtsinn ihm in den Schoß geworfen hatte, merzte er aus. Das war dahingeglitten, ohne Spuren hinterlassen zu haben. Von großen Erlebnissen blieben seit seiner Heirat nur ihrer drei.
Jene Wohltäterin aus der Dresdner Zeit, der er nur zweimal im Leben begegnet war und deren Namen er, weil sie ja unerkannt bleiben wollte, auch heute nicht gern in den Mund nahm … Dann die ihr wenig ähnliche Tochter, jene puppenleere Erlaucht, die es sich einfallen ließ, ihr übriggebliebenes Magdtum dem hergelaufenen Künstler zu schenken, weil seine an die tote Mutter gerichteten Briefe ihre darbenden Sinne aufgepeitscht hatten … Und schließlich dann Susi! Das Höchste, das Heißeste von allem! Ein Weg zum Verbrechen ganz ohne Zweifel, und Todesgefahr in sich bergend bei jeglichem Schritte!
Sie hätte es nicht überlebt, Brigitte hätte es nicht überlebt und er selber gewiß nicht!
Ein brennendes Dankgefühl stieg in ihm auf für die Frau, die sie alle gerettet hatte.
Da drinnen saß sie nun, den Tönen lauschend, die jener einst schwer Gehaßte und unverschämt gut befrackte Mann vom Podium her über sie ausschüttete. Gewiß hielt sie die Hand der Tochter umfaßt, wie sie vorhin die seinen gehalten hatte.
Wie war es möglich, daß diese Tochter, um derentwillen er einst nur noch auf dem Revolver hatte einschlafen können, ihm heute nicht mehr galt? Nicht an ihr, an Brigitte hing seine Sorge, um Brigittens willen lief er hier durch die Straßen.
Ob es nicht zu viel an Freude war, was heute über sie herfiel? Ob ihr Herz das alles aushalten würde?
Darum zurück zum Eingang! Und dort Posto gefaßt, bis die Türen sich wieder öffneten und sie in der Menge auftauchen mußte!
So stand er also und stand mit Lakaien und Dienstmädchen brav um die Wette.
Bis die Avantgarden zu tröpfeln begannen, bis dann die drängende Flut sich vorwärts wälzte, bis in dem gegen ihn brandenden Meere eine vertraute Hand seine Schulter berührte und eine lachende Stimme rief: »Ach war das schön! War das schön!«
So, nun hatte die Sorge ein Ende. Und Susi sank zu den Schatten.
Zwei Tage später reiste sie ab, und er hat sie nie mehr wiedergesehen.
In demselben Frühling erhielt Attas Mann zum Beginn seiner Laufbahn die Stelle eines Vizekonsuls in Smyrna.
Das weltfremd gebliebene Kind so weit in die Fremde hinausziehen zu lassen, brachte Kummer genug.
Aber Brigitte hielt sich tapfer, selbst in der Stunde des Abschieds. Ihr Auge blieb tränenleer, doch in dem Blick, mit dem sie hinter der Entschwindenden herstarrte, saß ein Schmerz, wie er sonst nur an Särgen zu Hause ist.
Steffen fühlte genau, was in ihr vorging, aber er hütete sich, daran zu rühren. Im Gegenteil! Er fabelte von einer gemeinsamen Mittelmeerreise, und sie lächelte höflich dazu.
Als sie beide wieder in den weiten Räumen ihrer Wohnung standen, die keiner Kinder Sonntagsbesuch wieder beleben würde, sagte Brigitte zu ihm mit gefalteten Händen: »Jetzt sind wir ganz allein auf der Welt.«
»Das muß wohl wahr sein,« erwiderte er, seines armgewordenen Lebens gedenkend, und verzog sich schleunigst nach oben, damit sie von dem Hohngelächter nichts merkte, das ihm in der Kehle emporquoll.